Der heilige Weg

Konrad Eißler
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Viele fragen sich wie Johannes der Täufer: Gibt es noch einen Weg für mich? Nur wer sich vom Herrn auf den heiligen Weg rufen lässt, der entdeckt eine heiße Spur und weiß: Das ist der Ausweg. - Adventspredigt aus der Stiftskirche Stuttgart


Irgendwie passt er nicht in die festliche Zeit. Irgendwo stört er die festlichen Kreise. Irgendwann geht er uns auf den festlichen Geist, liebe Gemeinde. Nicht umsonst kriegen Sie draußen auf dem Weihnachtsmarkt einen Josef in Holz oder Ton, eine Maria in Samt oder Seide, einen Hirten in Blech oder Plaste, einen Weisen, einen Engel, einen Wirt in allen Farben und Größen, aber ihn kriegen Sie bestimmt nicht, obwohl er eine Zentralfigur dieser Festzeit ist. Zugegeben, seine Predigtweise ist etwas alternativ. Er beginnt nicht mit Kanzelgruß und “liebe Gemeinde”, sondern mit einer Publikumsbeschimpfung: “Ihr Otterngezücht und Schlangenbrut”. Zugegeben, sein Outfit ist etwas exaltiert. Er trägt nicht Priesterrock und Stola, sondern Kamelhaartalar mit ledernem Gürtel. Zugegeben, seine Ernährung ist etwas ökologisch. Er isst nicht Lebkuchen mit süßem Honig, sondern Heuschrecken mit wildem Honig. Und dann kniet er nicht vor der Krippe, so wie die rauen Burschen vom Hirtenfeld. Er steht auch nicht im Stall, so wie die klugen Sterngucker vom Morgenland. Er schaut sich erst recht nicht dieses Topereignis der heiligen Nacht aus der dritten Reihe an. Dieser Mann sitzt im Knast. Dieser Mann leidet im Kerker. Dieser Mann schmachtet im Hochsicherheitstrakt der Feste Machaerus 1120 Meter über dem Toten Meer. Ein Querdenker, ein Störenfried, ein Beton­kopf?

Ganz sicher nicht. Diesen Täufer Johannes, von dem ich hier rede, hat man eingelocht, weil er vor dem Vierfürsten Herodes kein Blatt vor den Mund genommen hat. Diesen Bußprediger Johannes hat man mundtot gemacht, weil er angesichts des fürstlichen Ehebruchs den Mund nicht mehr halten konnte: Es ist nicht recht, dass du dem Bruder die Frau ausspannst. Man hat diesen Grenzgänger zwischen Altem und Neuem Testament in Ketten gelegt, weil er sich den Mund nicht verbieten lassen wollte, wenn es um Sünde geht. Johannes, eine Eiche im Sturm, eine Insel im Meer, eine Stimme in der Wüste. Aber jetzt sind seine Hände müde geworden: “Gebetet habe ich, tagelang, wochenlang, und keine Tür hat sich geöffnet. Gibt es noch einen Weg für mich?” Jetzt sind seine Knie weich geworden: “Getragen habe ich, tagelang, wochenlang, und keine Last wurde mir abgenommen. Gibt es noch einen Weg für mich?” Jetzt ist sein Herz verzagt: “Gehofft habe ich, tagelang, wochenlang, und kein Silberstreifen am Horizont. Gibt es noch einen Weg für mich?”

Dazu muss man gar nicht auf Machaerus schmachten, um so zu fragen. Da kann man im Arbeitszimmer stehen und müde Hände bekommen: “Gebetet habe ich, monatelang, und kein Türchen hat sich aufgetan. Gibt es noch einen Weg für mich?” Da kann man im Wohnzimmer sitzen und weiche Knie bekommen: “Getragen habe ich, monatelang, und keine Last wurde mir abgenommen. Gibt es noch einen Weg für mich?” Da kann man im Sterbezimmer liegen und ein verzagtes Herz bekommen: “Gehofft habe ich, monatelang, ein kein Silberstreifen am Horizont. Gibt es noch einen Weg für mich?”

Auf Machaerus schlagen zwei Boten an das Festungstor. Sie werden eingelassen und sogar zu Johannes vorgelassen. Und dort lesen sie ihm im Auftrag Jesu genau diesen Text aus dem Jesajabuch vor: “Stärkt die Hände, festigt die weichen Knie, sagt den verzagten Herzen: Sei getrost, es gibt einen Weg.” “Fürchte dich nicht, es gibt einen heiligen Weg. Glaube nur, es gibt einen heiligen Weg durch die Wüste.”

Liebe Freunde, weglose Wüste gibt es auf Gottes Landkarte nicht. Es lohnt sich, diesen heiligen Weg zu entdecken.

1. Der heilige Weg ist der Ausweg

“Johannes, erinnere dich!”, will Jesus sagen. Auch Israel schmachtete in der Gefangenschaft. Ihr Machaerus hieß Babylon. Und dort kursierten die tollsten Ausbruchpläne, die hinter vorgehaltener Hand die Runde machten: “Wir müssen an uns selber glauben”, tuschelten die einen. “Schließlich haben wir noch Hände, Füße und einen klaren Kopf. Das wäre doch gelacht, wenn wir die Flucht nicht packen könnten. Selbst ist der Mann und wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg. Seht, das ist der eigene Weg.” Aber nicht alle waren überzeugt. “Wir müssen an die Politiker glauben”, meinten die andern. “Schließlich gibt es nicht nur einen Führer in Babel, der sich wie der All­mächtige aufspielt, sondern auch einen Pharao in Ägypten und einen König in Persien. Eine Geheimbündelei mit ihnen könnte die Mauer an Babel verschwinden lassen und die Wende am Euphrat herbeiführen. Es müssen nur die Karten kräftig gemischelt und neu verteilt werden. Seht, das ist der politische Weg.” Aber nicht alle waren einverstanden. “Wir müssen in die Sterne schauen”, meinten die Dritten, “schließlich wölbt sich ein gestirnter Himmel über uns. Himmelskonstellation und Menschenschicksal gehören untrennbar zusammen. Sternzeichen sind Wegzeichen in die Freiheit. Seht, das ist der richtige Weg!”

Und Jesaja warnt: “Das ist der falsche Weg. All eure selbst erdachten Wege sind Irrwege. Mit diesen Ideen seid ihr auf dem Holzweg.” Es gibt gar keine mensch­liche Initiative, die uns aus unserer Ausweglosigkeit befreien könnte, sondern nur eine göttliche. Und genau dies bestätigen die zwei Boten dem Johannes. Gott sah jene trostlose Gruppe von Trostbedürftigen. Ihm schnitt so viel Elend auf einem Haufen ins Herz. Er konnte es nicht länger ertragen und deshalb schickte er - einen Adventskranz etwa, damit die Zelle in mildem Kerzenlicht erscheint? Ein Räuchermännchen etwa, damit das Loch nicht mehr so muffelt? Eine Tüte Spekulatius etwa, damit die Kohlsuppe im Blechnapf nicht alles ist?

Nein, Gott schickt seinen Sohn. Mitten drin in der Gefangenschaft ist er geboren. Die Müden und Schwachen und Herzverscheuchten hat er gemeint, als er gerufen hat: “Kommet her zu mir, die ihr mühselig und beladen seid.” Dann trat er einen Weg in den Schmutz und Dreck dieser Welt an und sagte: “Folget mir.” Kein noch so starker Sturm konnte diese Tritte verwehen. Deshalb gibt es eine unübersehbare Fußspur dessen, der von sich sagen konnte: “Ich bin der Weg.”

Liebe Freunde, wer an sich selber glaubt, ist ein armer Tropf. Wer seine Hoffnung auf Menschen setzt, ist ein tumber Tor. Wer in die Sterne guckt, verguckt sich. Nur wer sich vom Herrn auf den heiligen Weg rufen lässt, der entdeckt eine heiße Spur und weiß: Das ist der Ausweg.

2. Der heilige Weg ist der Gehweg

“Johannes, erinnere dich!”, will Jesus dann weiter sagen. Auch Israel war mit dieser Auskunft nicht sofort Feuer und Flamme. Die Aussicht auf einen Ausweg versetzte sie nicht automatisch in Hochstimmung. Von einem Taumel der Begeisterung konnte keine Rede sein. Schließlich hatten sie die Landkarte im Kopf und wussten um ihre geographische Lage.

Vor Jahren flog ich nach Afrika und landete im Sudan. Die Hauptstadt Khartum faszinierte mich mit ihren stinkenden Kamelmärkten und wohlriechenden Gewürzbasars. In eine ganz fremde Welt am Zusammenfluss des Weißen und Blauens Nils war ich eingetaucht. Und dort erklärte mir mein pechschwarzer, ganz in weiß gehüllter Begleiter: “Welche Himmelsrichtung Sie auch wählen, spätestens nach zehn Meilen stehen Sie in der Wüste.”

Das ist in Khartoum, und das ist in Babel auch so. Jeder Ausweg, ob nach Norden oder Süden oder Westen oder Osten, wurde zum Wüstenweg. Und das bedeut­ete damals kein lockeres Abenteuer, keine prickelnde Safari, keine alternatives Survival-Tracking, sondern ein brandgefährliches Unternehmen mit ungewissem, oft tödlichem Ausgang. Denn Wüste hieß Hitze und Dürre, Wüste hieß Löwen und Schakale, Wüste hieß reißende Tiere. Mit den Vorvätern aus Moses Zeiten mögen sie gefragt haben: “Sollen wir dort hinausgehen, damit wir in der Wüste sterben?”

Liebe Gemeinde, Gottes Ausweg ist nie Spazierweg, so sehr wir das wollten. Das wäre schön, so von Bänkchen zu Bänkchen wie im Stuttgarter Schloßgarten. Gottes Ausweg ist nie Panoramaweg, so sehr wir das wünschten. Das wäre schön, so von Aussicht zu Aussicht wie am Randecker Maar. Gottes Ausweg ist kein Wanderweg, so sehr wir das verlangten. Das wäre schön, so von Gipfel zu Gipfel wie im Montafon. Gottes Ausweg ist und bleibt ein Wüstenweg, den aber dieser Herr selbst gegangen ist und gangbar gemacht hat. Er hat Quellen gebohrt, Brunnquellen seiner Liebe. Er hat Wasser gefasst, Wasserströme des Lebens. Er hat Plätze angelegt, Rastplätze für die Seelen. Er hat das wildeste Tier, den Teufel, zum Teufel gejagt. Der Gehweg durch die Wüste ist keine Fata Morgana.

Deshalb, wenn ich nur noch Dunkel sehe: Es wird dort ein Weg sein. Wenn ich nur noch Probleme sehe: Es wird dort ein Weg sein. Wenn ich nur noch Krankheit sehe: Es wird doch ein Weg sein, der der heilige Weg sein wird. Es bleibt bei dem alten Lied: “Der Wolken, Luft und Winden, gibt Wege, Lauf und Bahn, der wird auch Wege finden, da dein Fuß gehen kann.” Das ist der Gehweg.

3. Der heilige Weg ist der Heimweg

“Johannes, erinnere dich!”, will Jesus zum Schluss sagen. Dieser Weg hat ein Ziel, auch wenn es nicht schnurstracks durch die Wüste geht. Die damals quälten sich 4 Jahre, 14 Jahre, nein, 40 Jahre durch die Hitze. Die Kinder schrien: “Durst!” Aber in den Feldflaschen war kein Tropfen Wasser mehr. Die Erwachsenen schrien: “Hunger!” Aber im Brotbeutel war kein Ranken Brot mehr. Alle schrien: “Hilfe!” Aber der Helfer schien fern. Dann krochen die Fragen aus dem Herzen wie Vipern aus dem Sand: “Wo kommen wir noch hin, wenn die Hitze nicht nachlässt? Wo kommen wir noch hin, wenn der Sturm nicht aufhört? Wo kommen wir noch hin, wenn kein Ende abzusehen ist?”

Das ist die bange Frage derer, die sich auf diesen Weg eingelassen haben. “Wo kommen wir noch hin, wenn die Schmerzen nicht nachlassen? Wo kommen wir noch hin, wenn die Ängste nicht aufhören? Wo kommen wir noch hin, wenn kein Ende abzusehen ist? Wo kommen wir noch hin?”

Und Jesaja sagt: Die Erlösten werden nach Zion kommen. Die Erlösten werden ans Ziel kommen. Die Erlösten werden heimkommen. Was soll der Schmerz? Freude wird sein. Was soll das Seufzen? Wonne wird sein. Was soll das Klagen? Jauchzen wird sein und alles übertönen.

Wie war es damals, als wir noch in der autolosen Zeit mit dem wanderbegeisterten Vater ausgedehnte Märsche am Sonntagnachmittag machten? Ehrlich gesagt, nicht immer mit überschäumender Wanderlust. Oft genug waren die Wege zu weit. Aber wenn nach mühsamen Stunden der Vater auf den heimatlichen Kirchturm im Neckartal zeigte, dann war alle Müdigkeit weg, dann wurden neue Kräfte mobilisiert, dann ging es fröhlich heimwärts.

Jesaja zeigt den heimatlichen Platz im Himmel. Zion ist nicht mehr weit. Der heilige Weg ist der Heimweg. Auch bei Johannes, obwohl eine liederliche Prinzessin im Übermut seinen Kopf forderte und ihn auch bekam. Auf dem Weg zum Schafott konnte er es wissen: Selbst der Todesweg durchkreuzt nicht den heiligen Weg. Der Himmel ist nicht mehr weit. Heim geht’s, Freunde, heim geht’s.

Amen


[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]