0:00:00
0:20:26

Irdische Paradiese sind wunderbar, aber sie haben keinen Bestand. Wer mit Jesus lebt, lebt schon inmitten allen Dunkels im Paradies. Durch ihn ragt das Paradies in unsere Zeit hinein: Er will mich, er liebt mich, er schickt mich. - Predigt aus der Stiftskirche Stuttgart


Also vom Paradies ist die Rede, liebe Gemeinde.

Historiker denken bei diesem Begriff an die herrschaftliche Parkanlage, die die Könige von Babylon im Euphrat- und Tigrisgebiet angelegt haben. Kunstkenner denken bei diesem Begriff an den Garten der Lüste, den etwa Hieronymus Bosch auf seinem Gemälde dargestellt hat. Baufachleute denken bei diesem Begriff an das Atrium, an die große Vorhalle, die zum Beispiel in der Abteikirche Maria Laach oder im Zisterzienserkloster Maulbronn zu besichtigen ist.

An was denken Sie, wenn vom Paradies die Rede ist?

Kinderfreunde denken an ein Haus, das etwas außerhalb der Zivilisation liegt. Die Tapeten sind abwaschbar, die Gardinen feuerfest und die Scheiben bruchsicher. Weil kein Besuch kommt, müssen Lego und Playmobil überhaupt nie aufgeräumt werden. Doch, ein richtiges Kinderparadies.

Wasserfreunde denken an eine Insel, die ringsum vom azurblauen Meer umspült ist. Weiße Sandstrände gibt es, hohe Dünenberge und reetbedeckte Häuschen dazwischen. Weil keine Benzinautos fahren dürfen, herrscht eine wunderbare Stille. Doch, ein richtiges Ferienparadies.

Naturfreunde denken an einen Gart­en, der liebevoll gehegt und gepflegt ist. Tulpen blühen zuerst, Krokusse und Narzissen, dann die Rosen, Malven und Lilien, und im Herbst die Astern, Dahlien und Sonnenblumen. Weil kein Unkraut wächst, ist es eine einzige Farbensymphonie. Doch, ein richtiges Blumenparadies.

Wir alle denken beim Begriff Paradies an einen Platz, der schön und heil und gut ist - nur keiner von diesen Plätzen hat Bestand. Wenn die Kinder heraufgewachsen und aus dem Hause sind, was ist dann mit unserem Kinderparadies? Wenn die Urlaubstage vorbei und die Sonnentage zu Ende sind, was ist dann mit unserem Ferienparadies? Wenn die Blüten verwelkt und die Pflanzen erfroren sind, was ist dann mit unserem Blumenparadies? All unsere sogenannten Paradiese haben die Eigenschaft, dass sie vergänglich sind und nur für kurze Zeit Freude vermitteln können. Dann leben wir wieder jenseits von Eden, in der Hitze des Tages, in der Kälte der Nacht.

“Hier ist Müh
morgens früh
und des Abends spät.
Angst, davon die Augen sprechen,
Not, davon die Herzen brech­en,
kalter Wind oft weht.”

Weil dem so ist, deshalb sollten wir beim Begriff einmal an keinen Platz, sondern an eine Person denk­en. Sie ist inmitten eines grausamen Geschehens unübersehbar. Männer spotten, Soldaten würfeln, Frauen weinen. Golgatha ist alles andere als paradiesisch. Ein mitgekreuzigter Schurke läst­ert: “Bist du nicht Christus? Hilf dir selbst und uns.” Aber der andere Schächer bittet: “Jesus gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst.” Dann öffnet Jesus noch einmal seinen Mund und sagt zu dem Bittenden: “Heute wirst du mit mir im Paradiese sein.”

Am Kreuz wird dieser Platz mit dieser Person unlöslich verknüpft. Mit Jesus ist er auf seinem schweren Gang nicht allein. Mit Jesus ist er im letzten Augenblick nicht verlassen. Mit Jesus ist er schon auf Golgatha im Paradies.

Und wenn wir dies auch wollen, dann werden wir dies nicht mit Kindern oder mit Ferien oder mit Blumenrabatten oder mit sonst etwas erreichen, sondern nur mit diesem Herrn. Wer mit Jesus lebt, das heißt, wer mit seinem Wort und mit seiner Gemeinde lebt, lebt schon inmitten allen Dunkels im Paradies, das durch ihn wie ein Brückenkopf in unsere Zeit hineinragt und für uns in Ewigkeit einmal sichtbar wird.

In drei kleinen Sätzlein kann es umschrieben werden, und so steht es in diesem alten Text: Er will mich, er liebt mich, er schickt mich.

1. Er will mich

Der Amerikaner Saroyan schildert in seinem Buch “Die menschliche Komödie” eine ergreifende Szene. Ein Junge schlendert durch die Stadt und beguckt sich die Schaufenster. Bei diesem Bummel kommt er zu einem Geschäft, in dem eine me­chanische Jahrmarktsfigur ausgestellt ist. Auf einen Knopfdruck hin bewegen sich automatisch die Glieder, öffnet sich automatisch der Mund, verdrehen sich automatisch die Augen. Der Bub ist von dieser Mechanik so betroffen, dass er zu Tode erschrickt, am ganz­en Leib zittert, herzzerbrechend weint und nach Hause rennt. Er hat das gesehen, was auch uns Angst und Schrecken ein jagen kann: den mechanischen Menschen, den eiskalten Roboter, den Adam des Computerzeitalters.

In Gottes Gedanken ist der nicht konzipiert worden. In Gottes Händen ist der nicht konstruiert worden. In Gottes Schöpferwerkstatt läuft kein Maschinenmensch vom Band. Deshalb wird dort nicht mit Metallen und Kunststoffen und Halb­leitern hantiert, sondern mit dem wertlosesten Stoff, den es auf Erde gibt, nämlich mit Staub. Daraus wird durch Gottes Geist der Adam, zu deutsch “der Staubige”, der Erdige, der Erdmann, der Feld­mann. Also kein Hampelmann, der zu funktionieren hat, keine Marionette, die an Fäden hängt, kein System, das mit Programmen ge­steuert wird, sondern ein lebendiges Wesen mit Freude, Sehnsucht, Hoffnung, Glück.

Gott hat den Adam gewollt, der ohne ihn nur eine Handvoll Asche ist. Gott hat den Menschen gewollt, der ohne ihn zu einem Häuflein Erde zusammenfällt. Gott hat mich gewollt, so wie ich bin, und will mich noch.

Das hat Konsequenzen für den, der zuhause ein unerwünschtes Kind ist. Der Vater war zutiefst verunsichert, als sich das neue Leben unter dem Herzen der Mutter meldete. Es passte so gar nicht in seine Pläne und Vorstell­ungen. Vom ersten Lebenstag an bekam er es zu spüren: Mein Vater hat mich nicht gewollt, aber jetzt spürt er: Gott hat mich ge­wollt und deshalb bin ich hier.

Das hat Konsequenzen für den, der nach der Ausbildung eine Stelle sucht. Wer kennt nicht jene Absolventen, die 50, 60, 70 Bewerbungen losschicken? Seit Monaten warten sie auf positiven Bescheid. Immer wieder erhalten sie eine billige Vertröstung oder eine klare Absage. Der Betrieb hat mich nicht gewollt, aber jetzt hört er: Gott hat mich gewollt und des­halb lebe ich.

Das hat Konsequenzen für den, der irgendwo im Altenheim sitzt. Eigentlich wollte er zuhause bleiben. Die Toch­ter hatte ihm die Versorgung versprochen. Aber als der Schwieger­sohn ins Haus zog, pfiff ein anderer Wind. Der Opa war übrig. Zu alt war er aber nicht, um zu merken: Der Mann hat mich nicht gewollt, aber jetzt merkt er: Gott hat mich gewollt und deshalb bin ich noch da.

Das hat Konsequenzen für jeden, der am Leben leidet, der sich unwert vorkommt, der bohrend fragt: Warum bin ich überhaupt da?

Gott will mich, das ist die Antwort und jenes Stückchen Paradies, das wir selbst dann erfahren können, wenn wir nicht mehr wollen und lebensmüde geworden sind.

2. Er liebt mich

Die Szene in Saroyans Buch “Die menschliche Komödie” hat eine Fortsetzung. Der wegen dem Automatikmenschen zu Tode erschrockene Bub verdrückt sich in seinem Zimmer. Nichts kann ihn mehr trösten, weder die Erklärung des Bruders, dass es ja nur eine Art Spieluhr sei, noch die Darstellung der Schwester, dass alles im Leben nur halb so schlimm sei. Nicht einmal das Machtwort des Vaters “Buben flennen nicht!” kann ihn beeindrucken. Nur die Mutter erreicht das Herz ihres Sohnes. Sie richtet einen schönen Tisch mit Kakao und Kuchen und Schlagsahne und Mohren­köpfen. Als er vor diesen Süßigkeiten sitzt, spürt er die elter­liche Fürsorge. Angstbilder treten zurück. Alles ist wieder klar: Sie liebt mich und in dieser Liebe bin ich geborgen.

Liebe Ge­meinde, Gott hat den Menschen nicht nur gewollt, sondern auch ge­liebt. Ein Zeichen dafür ist seine Versorgung. “Und Gott, der Herr, pflanzte einen Garten Eden und er ließ aufwachsen allerlei Bäume, verlockend anzusehen und gut zu essen.” König David wusste es: “Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde; du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein. Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang.” Jesus selbst unterstrich es: “Sehet die Vögel unter dem Himmel; sie säen nicht, sie ernten nicht und euer himmlischer Vater ernährt sie doch.” Die Galiläer merkten es. 5000 wurden mitten in der Wüste durch eine wunderbare Brotvermehrung satt. An unserem, in diesem Herbst wieder so überreich gedeckten Tisch müssen uns doch die Augen für seine Fürsorge aufgehen. Angstbilder können uns doch nicht mehr den Blick trüben. Alles darf wieder klar werden. Er liebt mich und in dieser Liebe bin ich geborgen.

Und die am leeren Tisch sitzen müssen? Und die nichts zu beißen haben? Und die von Hunger geplagt sind? Müssen nicht die Hungrigen in der Welt annehmen, dass Gott nicht genug gepflanzt habe, er sei der tiefste Grund des Welthungers? Aber passen wir auf, vorschnell die Schuld auf andere abzuwälzen. Der Finne Virtanen, bekannt als der Erfinder des Grünfuttersilos, hat dargestellt, dass das Grüne, das auf Erden wachsen kann, ausreicht, um 20 Milliarden Menschen zu ernähren und noch keiner hat diesen Wissenschaftler widerlegt. Die eigentliche Ursache des Welthungers liegt demnach nicht beim göttlichen Schöpfer, sondern beim menschlichen Verteiler. Solange wir Gaben Gottes horten, verschludern, missbrauchen, ja sogar mit Steuergeldern denaturieren, das heißt zum Verzehr unbrauchbar machen, sind wir an der Misere schuld. Aus dem Überfluss der einen könnte der Mangel der andern behoben werden. Üble Nachrede gegen das Werk des Schöpfers ist weder besonders fromm noch besonders intelligent.

Gott hat großzügig vorgesorgt, überfließend, ver­schwenderisch. Keiner soll hungern. Jeder darf essen. Alle sollen in der Versorgung ihres Lebens seine Liebe erkennen können und dann sprechen: “Danket dem Herrn, denn er ist freundlich und seine Güte währet ewiglich.”

Er liebt mich, das ist das zweite Stück­chen Paradies, und das Dritte:

3. Er schickt mich

Der Bube in Saroyans Buch bleibt nicht ewig am reich gedeckten Tisch sitzen. Auch wird er nicht anschließend in den Lehnstuhl verfrachtet, um sich dort von seinem Schreck zu erholen. Die Mutter schickt ihn nicht ins Bett, sondern an die Arbeit: “Du, schon lange müsste der Rasen geschnitten werden. Geh, hol die Maschine und schaff, bevor es Nacht wird.” Der Bub sieht in diesem Auftrag noch einmal die Wertschätzung durch seine Mutter: Sie braucht mich. Ich kann etwas für sie erledigen. Sie traut mir das zu. Ich bin zu etwas nütze. Sie schickt mich.

Und so ist das auch zwischen Gott und uns. In Eden gibt es nicht nur einen Essplatz und einen Liegeplatz und einen Schlafplatz, sondern auch einen Arbeitsplatz. In seinem Garten soll nicht nur geges­sen und gedöst und geschlafen werden, sondern auch gearbeitet. “Gott, der Herr, setzte den Menschen in den Garten, dass er ihn be­baute und bewahrte.” Nichts ist’s mit Sagaland, wo einem die gebratenen Tauben in den Mund fliegen. Nichts ist mit Märchenland, wo einem die Heinzelmännchen den Dreck schaffen. Nichts ist’s mit Schlaraffenland, wo man auf Schlaraffia-Matratzen seiner Ruhe pflegt. Die Arbeit gehört zum Menschsein. Das Bebauen gehört zu seinem Auftrag. Das Bewahren gehört zu seiner Pflicht. Wir werden hineingenommen in das schöpferische Tun Gottes.

Deshalb ist es doch so schlimm, wenn einer keine Arbeit bekommt oder seinen Arbeitsplatz verliert. Warum reden wir heute so viel von Stress, als ob der Schweiß nicht schon immer zur Arbeit gehört hätte? Warum denken wir heute so viel an Urlaubstage, als ob die Arbeitstage nur Fronarbeit seien? Warum schreiben wir heute so viel von Arbeitszeitverkürzung, als ob das verlängerte Wochenende die Lebensfreude schlechthin sei?

Jene Spruchweisheit “ora et labora”, “bete und arbeite”, war gar nicht so unbiblisch. Mehr Dankbarkeit für unsere Arbeit, gerade in Zeiten wachsender Arbeitslosigkeit, täte uns gut. Denken wir doch morgen früh einmal daran, wenn wir den Arbeitsmantel anziehen oder den Schreibtisch aufschließen oder die Wäsche waschen oder die Wohnung putzen oder die Bücher aufschlagen: Er braucht mich. Ich kann etwas für Gott erledigen. Er traut mir das zu. Ich bin zu etwas nütze. Er schickt mich. Es ist kein Platz so triste, als dass er nicht durch ihn zu einem Stückchen Paradies werden könnte.

Liebe Gemeinde, der Schächer am Kreuz hat sich nicht verhört. Wenn wir Gott gehören, hören wir es auch: “Heute wirst du mit mir im Paradies sein!” Heute. Jetzt schon. Und von nun an bis in Ewigkeit.

Amen


[Preditmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]