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Wer Gott sagt, sagt neu. Endlich das, was nicht veraltet. Sieh auf, es kommt die neue Zeit. Sieh her, es kommt der neue Bund. Sieh an, es kommt das neue Herz. - Predigt aus der Stiftskirche Stuttgart


Neu, liebe Gemeinde, neu soll es sein. Neu muss es sein. Neu darf es nur sein. Neu ist der Inbegriff unserer Sehnsüchte.

Ich lese einen Bücherprospekt. Früher fiel der erste Blick auf den Autor, denn der Name bürgt für Qualität. Heute springen einem die Fettbuchstaben “neu” ins Auge. Noch feucht von der Druckerpresse, noch ohne Staub auf dem Einband, taufrisch im Sortiment, einfach neu. Obwohl die 120 Seiten bare 32 Mark kosten, ist mein Käuferwille nicht mehr zu bremsen. Erst zuhause stelle ich auf Seite 2, links unten im Kleindruck fest, dass eine Erstausgabe schon im Jahre 1920 erschienen ist. Enttäuscht verschwindet das Exemplar im Bücherregal. Das Neue ist nur das Alte in neuer Aufmachung.

Oder ich stehe vor dem Schaufenster. Waschpulver, wohin das Auge blickt. Vom großen bis zum kleinsten Riesen ist alles aufgetürmt. Die Werbung hat mich programmiert. Aber ganz vorne, mit Blütenzweigen umrankt, das neueste Produkt der Firma Maier. Alles neu, macht der Mai, alles neuer, macht der Maier! Es garantiert Blütenweiß, Blumenfrisch, Blätterduft, und das alles zum halben Preis. Wer kann bei solchem Angebot noch widerstehen? Aber nach dem ersten Waschtag mit Maiers Superpulver ist klar: Das Neue ist nur das Alte in neuer Verpackung.

Oder ich gehe durch den Autosalon. Die neuen Modelle sind sagenhaft. Der Verkäufer muss gar kein Wort mehr verlieren, weil ich mein Herz schon längst an den RX 89 verloren habe. Hoffentlich erfährt die Frau nie den Preis. Aber nach den ersten 5000 Kilometern im Traumauto wird mir bewusst: Das Neue ist nur das Alte in neuer Karosserie.

So ist das meistens: Das Neue ist nur das Alte, die neue Mode ist nur der alte Hut, der neuste Schrei ist nur das alte Lied. So war das damals schon. Die Assyrer verkündigen eine neue Politik. Sanherib von Assur will Recht und Gerechtigkeit auf den Leuchter stellen. Aber die Ungerechtigkeit im Lande ist nicht auszurotten. Die neue Politik ist nur die alte. Dann proklamieren die Ägypter die neue Kultur. Pharao Necho setzt eine gewaltige Kulturrevolution in Gang. Aber die Subkultur undurchsichtiger Kräfte ist nicht auszuhebeln. Die neue Kultur ist nur die alte. Dann setzen die Babylonier auf ein neues Reich. König Nebukadnezar plustert sich in Babylon mächtig auf. Aber die Verfallserscheinungen lassen nicht lange auf sich warten. Das neue Reich ist nur das alte. So wird das immer sein mit den neuen Ideen, neuen Epochen, neuen Zeitaltern. “Es geschieht nichts Neues unter der Sonne.” Der Prediger Salomo hatte recht, nichts Neues unter der Sonne.

Weil dem so ist, deshalb ist die Botschaft des Propheten atemberaubend: Siehe, es bleibt nicht alles beim alten. Siehe, es kurvt nicht alles im selben Kreis. Siehe, es geht nicht ewig nach der Drehorgelmelodie: Auf jeden Dezember folgt wieder ein Mai. Der alte Gott hat seine Schöpferkunst nicht verlernt. Der ewige Gott geht in Richtung Neuwerdung. Der lebendige Gott will das Neue. Wer Gott sagt, sagt neu. Endlich das, was nicht veraltet. Endlich das, was nicht verstaubt. Endlich das, was den Namen “neu” wirklich verdient hat. Sieh auf, es kommt die neue Zeit. Sieh her, es kommt der neue Bund. Sieh an, es kommt das neue Herz. Siehe, denn so spricht der Herr.

1. Sieh die neue Zeit

…weil die alte Zeit zur Bedrückung geworden ist. In Gottes Konzept war dies anders vorgesehen. Als der vierte Schöpfungstag anbrach, sprach er: “Es wird Zeichen, Zeiten, Tage und Jahre geben.” Nicht nur der Wohnraum, auch der Zeitraum wurde dem Menschen vorsorglich zur Verfügung gestellt. Der fürsorgende Vater wollte jedem auf diesem Planeten Platz zum Wohnen und Zeit zum Leben geben. Aber dann kam es zu einer Erkrankung der Zeit, zu einer galoppierenden Zeitschwindsucht. Immer mehr Leute wurden von diesem Virus befallen und heute gibt es kaum jemand, der nicht dieses Krankheitssymptom auf den Lippen trägt: “‘s pressiert”. Wenn es morgens zur Schule oder zur Arbeit geht: “‘s pressiert”. Wenn es mittags zur Mensa oder zur Kantine geht: ‘s pressiert. Wenn es abends ins Theater oder ins Konzert geht: ‘s pressiert. Ernst Jünger, dieser messerscharfe Zeitdiagnostiker, bezeichnet diese Krankheit als “Monotonie der Pausenlosigkeit”. Wenn diese so weiterdaure, werde es unfehlbar einer Gesamtexplosion entgegengehen: “Die Welt von heute ist von Uhren gefüllt, wird zuletzt zum Uhrwerk. Die Zeit wird kostbar. All diese Uhren zählen und messen, aber sie sind, wie die Furcht vermutet, auf eine Stunde gestellt.” An all diese Zeitpatienten wendet sich der Prophet: Es bleiben die Jahre nicht, wie sie sind. Sind’s wenig Jahre, die uns das Glück nehmen, oder sind’s viele Jahre, die uns den Rücken krümmen, sie bleiben alle nicht. “Siehe, es kommt die Zeit.” Es bleiben die Monate nicht, wie sie sind. Sind’s wenig Monate, die uns Schmerzen bringen, oder sind’s viele Monate, die uns in Dunkel einhüllen, sie bleiben alle nicht. “Siehe, es kommt die Zeit.” Es bleiben die Tage nicht, wie sie sind. Sind’s wenig Tage, die uns ins Leid stürzen oder sind’s viele Tage, die uns in Trauer versinken lassen, sie bleiben alle nicht. “Siehe es kommt die Zeit.”

Aber ist das wahr? Ist das nicht nur die Spiegelung unserer Wünsche? Ist das nicht nur der Leim, auf den wir kriechen sollen? Das Neue Testament gibt Antwort: “Als aber die Zeit erfüllet war, sandte Gott seinen Sohn.” Jesus ist Gottes Beweis für diese Wahrheit. Im Jahre 0 wurden nicht nur die Kalender, sondern auch die Uhren neu gestellt. Die Winterzeit des Todes wurde abgeschafft und die Sommerzeit des Lebens endgültig eingeführt. Jetzt geht es wieder nach dem Zeittakt des Schöpfers. Weil er der Herr ist aller Zeiten, will er auch der Herr meiner Zeit werden. Die Arbeitszeit darf mich nicht mehr zu Tode hetzen. Er erlaubt Atemübungen für die erstickte Seele. Die Urlaubszeit darf mich nicht mehr durch die Gegend jagen. Er gewährt Pausen für den inneren Menschen. Die Krankheitszeit darf mich nicht mehr in Verzweiflung stürzen. Er will mich besonders nehmen und in der Stille mit mir reden. Die Lebenszeit darf mich nicht mehr ins Grübeln bringen. Er weiß wohl, ob 40 oder 70 oder 90 Jahre ge­nug für mich sind. Immer schaue ich auf Gottes Uhr, deren Ziffer­blatt die Bibel ist und deren Zeiger von den Balken des Kreuzes gebildet werden. Mit diesem Zeitmesser weiß ich in jedem Augenblick: Meine Zeit steht in deinen Händen. Sieh die neue Zeit.

2. Sieh der neue Bund

…weil der alte Bund zur Belastung geworden ist. In Gottes Konzept war dies auch anders. Als über dem Gebirgsstock Sinai die Blitze zuckten und gewaltige Donnerschläge dies Felsmassiv erzittern ließen, sprach er: “Ich will einen Bund schließen mit diesem Volk.” Das war schon unglaublich, weil Israel als Gottespartner überhaupt nichts vorzuweisen hatte. Neben den mächtigen Babyloniern und gewaltigen Ägyptern fiel dieses arme Würst­chen überhaupt nicht auf: “Du bist das kleinste unter allen Völk­ern,” sagt ein Gottesmann. Hebräer waren es, Habenichtse, die am Rand der Wüste ihre Zeltheringe einschlugen und ihre Nomaden­zelte spannten. Und als sie wegen anhaltender Dürre nichts mehr zu beißen hatten, mussten sie sich als Fremdarbeiter im Ausland verdingen. Geschlagen, gebeutelt, gehasst bis zum heutigen Tag. Mit dem Staat Israel war noch nie Staat zu machen. Aber ohne Grund, ohne Vorleistung, ohne Ansehen hat sich Gott mit dieser armen Braut verlobt, mit diesem Israel der Habenichtse verbündet. Trotzdem war das Glück nicht vollkommen. Die Verlobte streifte den Ring ab. Die Braut emanzipierte aus ihrem Verhältnis. Israel wollte keine Zweierschaft, sondern flirtete in freier Partnerschaft. Der Bund war zum Scherbenhaufen geworden. Und dieser Gott zog sich nicht als beleidigter Liebhaber in den Himmel zurück. Und dieser Gott schickte dieses untreue Luder nicht in die Wüste. Und Gott drohte nicht mit dem Zeigefinger: Wer nicht hören will, muss fühlen! Dieser unvergleichliche Gott verkündigte: “Siehe, ich will einen neuen Bund schließen.” Aber nicht der alte, notdürftig gekittet, sondern ein ganz neuer, der den alten vergessen macht. So ist dieser unbe­greifliche Gott. Vor dem Gericht werden Vertragsbrüchige verurteilt. Im Betrieb werden Unzuverlässige gekündigt. Im Heer werden Fahnen­flüchtige eingesperrt. In der Partei werden unsichere Kantonisten vor die Tür gesetzt. Gott fängt mit Abweichlern neu an und gibt Untreuen eine Chance. Da mag man ihm aus den Fingern laufen und mit andern gebuhlt haben. Wer dies heute hört, kann die Botschaft nicht überhören: “Ich will einen neuen Bund schließen.”

Aber ist das wahr? Ist das nicht nur die Spiegelung unserer Wünsche? Ist das nicht der Leim, auf den wir kriechen sollen? Das Neue Testament gibt eine Antwort: “Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut.” So hat Jesus am Gründonnerstag bei Tisch gesagt. Und damit wurde das Abendmahl nicht zum Abschiedsmahl degradiert, sondern zum Begrüßungsmahl proklamiert. Wer sich dazu einladen lässt, wer sich dort seine Schuld vergeben lässt, wer sich dort in die Gemeinschaft seiner Leute aufnehmen lässt, der ist mit Gott im Bunde.

Als im Jahre 1940 die englische Flotte und Armee bei Dünkirchen entscheidend geschlagen wurde, rief Premier Churchill sein Kabinett zusammen. Jeder erwartete in dieser traurigen Runde das Einge­ständnis: “We had better pack in”, wir packen am besten ein. Stattdessen fasste Churchill seine Lagebeschreibung so zusammen: “I am confidently”, ich bin zuversichtlich, weil wir im richtigen Bündnis stehen. Wenn diese Zuversicht schon das Ergebnis einer politischen Bündnispolitik sein kann, wieviel mehr müsste dann uns die Zuversicht erfüllen, wenn wir im Bund mit Gott stehen? Eine Schlacht verloren und deshalb am Boden, aber “I am confidently”. Einen Verlust zu tragen und deshalb so traurig, aber “I am confidently”. Einen Schmerz aushalten und deshalb so verweint, aber “I am confidently”, denn ich bin im Bund mit Gott. Gerade im Bann der Todesmächte kann ich im Bund der Gottesmacht geborgen sein. Sieh der neue Bund.

3. Sieh das neue Herz

…weil das alte Herz zur Bedrängnis geworden ist. In Konzept war dies wieder anders vorgesehen. Als Mose mit den zwei Tafeln vom Berg herunterkam, dieser Magna Charta des neuen Bundes, las er im Namen Gottes: “Du sollst den Herrn, deinen Gott, liebhaben von ganzem Herzen.” Aber schon beim Vorlesen spürte er, dass dies nur halbherzig aufgenommen wurde. In seiner Abwesenheit hatten sie nämlich auf die Schnelle eine Edelmetallsammlung angeleiert und ein Goldkälbchen als Zweitgott fabriziert. An diesen goldigen Streichel- und Hätschelgott hatten sie ihr Herz ver­loren. Im Lauf der Jahre wurde ihre Herzverhärtung Gott gegenüber immer deutlicher. Er aber ließ nicht ab, obwohl er mit solcher Gottlosigkeit ins Herz getroffen war. “Ich will ihnen ein anderes Herz, ein fleischernes Herz, ein neues Herz geben”, ließ er durch seine Propheten verkünden. Die Halbherzigkeit ist nicht unser Schicksal. Die Hartherzigkeit ist nicht unser Los. Die Herzlosigkeit ist nicht unser Verhängnis. “Ich will ein neues Herz in euch geben.”

Aber ist das wahr? Ist das nicht die Spiegelung unserer Wünsche? Ist das nicht der Leim, auf den wir kriechen sollen? Das Neue Testament gibt Antwort. “Euer Herz soll sich freuen.” So hat Jesus beim Abschied gesagt. Dieser Herr, durch den wir Gott ins Herz sehen können, ist der einzige, der Herzen erneuern kann. Solche sollen es hören, deren Herz wegen dem eigenen Mann oder den Kindern verbittert worden ist. “Ich will ein neues Herz in euch geben.” Solche sollen es hören, deren Herz wegen dem er­fahrenen Bösen und Unrecht hart geworden ist: “Ich will ein neues Herz in euch geben.” Solche sollen es hören, deren Herz wegen dem Leid und Tod traurig geworden ist. “Ich will ein neues Herz in euch geben.” Ganz gewiss zielt diese Verheißung über unsere Zeit hinaus bis in die Ewigkeit, wo die Schluss- und Generalzusage Wahrheit werden wird: “Siehe, ich mache alles neu.” Bis dahin muss nicht alles beim alten bleiben. Sieh die neue Zeit. Sieh der neue Bund. Sieh das neue Herz. Sieh Jesus Christus.

Amen

[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]