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Herr, warum bist du so fern?

Psalmen - Gespräche mit Gott, Teil 1/5
24.05.2014Psalm 10,1-18

HERR, warum bist du so fern?

Reihe: Psalmen – Gespräche mit Gott (1/5)

Psalm 10

Einleitende Gedanken

Letzte Woche berichteten verschiedene Zeitungen über eine hochschwangere Frau, die im Sudan zum Tod verurteilt wurde. Ihr Vergehen: Sie soll als gebürtige Muslimin vom Islam abgefallen sein. Doch die 27 Jahre alte Ärztin Mariam Yahya Ibrahim Ishag weigert sich, ihrem Glauben an Christus abzuschwören. Die sudanesische Justiz in der Hauptstadt Khartum behauptet, sie sei als Tochter eines muslimischen Vaters (der seit ihrem 6. Lebensjahr verschwunden ist) Muslimin. Da ihre Mutter eine äthiopische Christin ist, wurde sie christlich erzogen. Der Richter fragte diese junge Frau mehrfach, ob sie auf ihre Glaubensabtrünnigkeit bestehe. Sie hingegen beharrte und antwortete: „Ich bin eine Christin, ich bin keine Abtrünnige.“ Sie wurde bereits mit 100 Peitschenhieben dafür bestraft, weil sie mit ihrem christlichen Ehemann Daniel Wani „Hurerei“ betrieben habe. Nun droht ihr der Tod durch Erhängen, weil sie Christin bleiben will. Das Urteil soll erst vollstreckt werden, wenn sie ihr Kind in etwa einem Monat entbunden und später abgestillt hat. Ihr zwanzig Monate alter Sohn ist mit ihr im Gefängnis eingesperrt. Dem Vater entzieht man das Sorgerecht für beide Kinder. Weltweit hat dieses Urteil Empörung ausgelöst. Verschiedene Organisationen und Regierungen reagierten mit scharfem Protest gegen dieses Urteil. Es besteht noch eine gewisse Hoffnung für Mariam, denn zwei höhere Gerichte müssen das Urteil noch bestätigen. Sprachlos, traurig und wütend macht dieses Urteil. Fassungslos fragt mach sich, wie so etwas überhaupt möglich ist. Es scheint so unfassbar, dass man in Versuchung kommt zu fragen, ob das eine Fehlinformation sei. Leider, so sieht es aus, ist das keine Fehlinformation, sondern eine Wirklichkeit, die für mehr Christen zu ihrem Leben gehört, als wir uns das vorstellen können. Wie soll man in einer solchen Situation beten? Was soll diese Mariam mit Jesus besprechen? Soll sie einfach für ihre Peiniger bitten, dass sich Gott über ihnen erbarme? Keine einfachen Fragen. Natürlich, aus unserem wohlbehüteten Leben und mit unserer Bibelkenntnis hätten wir schon eine theoretische Antwort. Wir sollen schliesslich unsere Feinde lieben. Aber wie sieht das in der Praxis aus, wenn mein Feind mein Leben komplett zerstört? Wie sieht das aus, wenn mir die Peiniger meine Kinder wegnehmen und ich weiss, dass sie misshandelt werden? Ein hilfreicher Ratschlag ist gar nicht so einfach. Zum Glück haben wir die Psalmen. Psalmen sind Gespräche mit Gott und sie zeigen uns, wie wir mit Trauer, Wut, Freude, Sehnsüchten, Ängsten und Enttäuschungen zu Gott kommen können. In dieser neuen Predigtreihe werden wir uns mit fünf verschiedenen Psalmen beschäftigen. Der Psalm zehn, den wir heute genauer ansehen, könnte dieser ungerecht behandelten und gequälten Christin, die unsere Schwester ist, helfen, mit ihrer Not vor Gott zu kommen. Wir lesen zuerst diesen Psalm, bevor wir ihn genauer betrachten. „Warum, HERR, bist du so fern, warum verbirgst du dich in Zeiten der Not? Hochmütige Menschen, die Gott ablehnen, verfolgen die Wehrlosen und bringen sie durch ihre Intrigen zu Fall. Diese Gottlosen prahlen auch noch damit, dass ihre Gier keine Grenzen kennt. In ihrer Habsucht verspotten sie den Herrn und verachten ihn. Stolz behaupten sie: ‚Gott kümmert sich sowieso nicht um das, was wir tun! Es gibt ja gar keinen Gott!‘ Weiter reichen ihre Gedanken nicht. Dennoch führt ihr Weg sie stets zum Erfolg. Unendlich fern liegt ihnen der Gedanke, dass du sie einmal zur Rechenschaft ziehen könntest. Sie pfeifen auf jeden, der sich ihnen in den Weg stellt. Sie reden sich ein: ‚Uns bringt nichts zu Fall, kein Unglück wird uns jemals treffen, auch nicht in künftigen Generationen.‘ Wenn sie fluchen, betrügen und erpressen, sind sie um Worte nicht verlegen; was sie von sich geben, bringt anderen Unheil und Schaden. Dort, wo ihre Opfer wohnen, legen sie sich in den Hinterhalt; wo niemand es sieht, bringen sie den Unschuldigen um. Ihre Augen spähen nach Menschen, die sich nicht wehren können. Sie liegen auf der Lauer wie Löwen im Dickicht, aus dem Hinterhalt fallen sie über ihr Opfer her und fangen es in ihrem Netz. Sie halten sich versteckt, sind auf dem Sprung, und schon geht ein Wehrloser unter ihren Pranken zu Boden. Sie reden sich ein: ‚Gott hat alles sowieso schon vergessen, er hat sich abgewandt und sieht nie wieder hin.‘ Steh auf, HERR! Gott, erhebe deine mächtige Hand! Vergiss die nicht, die erlittenes Unrecht geduldig ertragen! Warum dürfen diese Gottlosen Gott verachten und sich einreden, dass du dich sowieso um nichts kümmerst? Du hast doch alles genau gesehen! Du achtest doch darauf, ob jemand Not leidet oder Kummer hat, und nimmst das Schicksal dieser Menschen in deine Hände! Die Armen und die Verwaisten dürfen dir ihre Anliegen anvertrauen, denn du bist ihr Helfer. Zerbrich die Macht dieser gottlosen und boshaften Menschen, zieh sie zur Rechenschaft dafür, dass sie sich dir widersetzen! Keiner von ihnen soll mehr zu finden sein! Der Herr ist König für immer und ewig. Einst werden alle Völker, die ihn missachten, aus seinem Land verschwunden sein. Du hast die Wünsche derer gehört, die erlittenes Unrecht geduldig ertragen, Herr; aufmerksam hast du dich ihnen zugewandt und ihr Herz wieder stark gemacht. Du wirst den Verwaisten und den Unterdrückten zu ihrem Recht verhelfen. Du wirst nicht zulassen, dass Menschen auf der Erde Angst und Schrecken verbreiten.“ Ps.10,1-18

I. Die Situation ist unerträglich!

Der Autor dieses Psalms ist uns nicht bekannt, aber eines ist jedem von uns klar: Er befindet sich in einer unerträglichen Situation und seine Sehnsucht ist gross, dass Gott möglichst schnell eingreift. Er schreit: „Warum, HERR, bist du so fern, warum verbirgst du dich in Zeiten der Not?“ Ps.10,1. Natürlich weiss der Schreiber, dass Gott nicht abwesend ist, sonst würde er nicht zu ihm schreien. Aber Gott scheint passiv zu sein. Jetzt in dieser Not wäre es in seinen Augen dringend, dass sich Gott in das Geschehen einmischt. Der Gottlose wütet hemmungslos und erfolgreich und der Gottesfürchtige leidet darunter. In diesem Schrei verbirgt sich die Frage, die uns durch die ganze Bibel hindurch begegnet und die Jeremia treffend formuliert, wenn er sagt: „Herr, wenn ich auch mit dir rechten wollte, so behältst du doch Recht; dennoch muss ich vom Recht mit dir reden. Warum geht’s doch den Gottlosen so gut, und die Abtrünnigen haben alles in Fülle?“ Jer.12,1. Diese Frage beschäftigt uns bis heute, besonders dann, wenn es uns nicht wirklich gut geht. Wenn wir merken, dass wir wegen unseres Glaubens nicht mehr ernst genommen werden. Wenn ich in meiner Firma trotz meiner guten Leistungen nicht mehr befördert werde. Da wünschte ich, dass Gott eingreift und eine Wende herbeiführt. Doch oft geschieht nichts, sondern es wird sogar schlimmer. „Warum, HERR, bist du so fern, warum verbirgst du dich in Zeiten der Not?“ Ps.10,1. Es scheint, als würde es den Gottlosen blendend gehen. Hochmütig und respektlos gegenüber Gott lassen sie ihrer Gier freien Lauf. Sie scheuen vor intrigantem Handeln nicht zurück. Wer ihnen im Weg zum Erfolg steht, den beseitigen sie in hinterhältiger Weise. Skrupellos schlagen sie sich durch. Nichts ist ihnen heilig. Nur sie selbst sind sich heilig. Sie sind überzeugt, unantastbar zu sein. Ihre Rücksichtslosigkeit wird von der Überzeugung getragen, dass Gott nie Rechenschaft von ihnen fordern wird. Ja, sie meinen, er würde gar nicht existieren: „Stolz behaupten sie: ‚Gott kümmert sich sowieso nicht um das, was wir tun! Es gibt ja gar keinen Gott!‘ Weiter reichen ihre Gedanken nicht.“ Ps.10,4. Trotz ihrem Hochmut und ihrem gotteslästerlichen Reden sind sie erfolgreich. Das ist für die Gläubigen schwer zu ertragen. Diese Leute strotzen nur so vor Selbstüberzeugung und dem Glauben an sich selbst. „Sie reden sich ein: ‚Uns bringt nichts zu Fall, kein Unglück wird uns jemals treffen, auch nicht in künftigen Generationen.‘“ Ps.10,6. Diese Menschen irren sich in ihrem Hochmut und in ihrer Selbstüberschätzung. Sie sind der irrtümlichen Meinung, weil Gott sie nicht sofort straft, würde er ihr Handeln gar nicht zur Kenntnis nehmen. Der Prediger sagte einmal: „Weil das Urteil über böses Tun nicht sogleich ergeht, wird das Herz der Menschen voll Begier, Böses zu tun.“ Pred.8,11. Statt dankbar und froh zu sein, dass Gott nicht sofort straft, glauben diese Leute, Gott würde ihr Tun nicht interessieren. Doch Gott straft zum Glück nicht sofort. Würde Gott uns Menschen sofort strafen, so würde von uns niemand mehr leben. Es ist ein Zeichen der Barmherzigkeit Gottes, dass er uns nicht sofort straft. Wir sollten uns davor hüten, diese Barmherzigkeit Gottes falsch zu deuten. Paulus fragt die Christen in Rom: „Betrachtest du Gottes grosse Güte, Nachsicht und Geduld als selbstverständlich? Begreifst du nicht, dass Gottes Güte dich zur Umkehr bringen will?“ Röm.2,4. Aber eben, die Feinde unseres Psalmschreibers deuten die Nachsicht Gottes ganz falsch. „Sie reden sich ein: ‚Gott hat alles sowieso schon vergessen, er hat sich abgewandt und sieht nie wieder hin.‘“ Ps.10,11. Das kann uns schon zusetzen, wenn wir erleben, wie der Gottlose erfolgreich ist und die Gottesfürchtigen verachtet und gedemütigt werden. In solchen Situationen wächst die Sehnsucht, dass Gott sichtbar eingreift. Aber eigentlich wissen wir, dass in dieser Welt, der Weg der gottesfürchtigen Menschen und somit auch der Christen so verlaufen wird. Als Christen leben wir in der Schweiz ausserordentlich privilegiert. Wir können unseren Glauben praktizieren. Natürlich sieht man es nicht so gern, wenn wir zu eifrig missionieren, aber im Grossen und Ganzen können wir trotzdem von Jesus erzählen. Und theoretisch wissen wir, dass unser Leben als Christen ganz anders aussehen könnte. Jesus sagte seinen Jünger und das gilt auch für uns: „Ein Diener ist nicht grösser als sein Herr. Wenn sie mich verfolgt haben, werden sie auch euch verfolgen.“ Joh.15,20. Deshalb sagt Petrus den Christen, die schweren Verfolgungen ausgesetzt waren: „Liebe Freunde, wundert euch nicht über die Nöte, die wie ein Feuersturm über euch hereingebrochen sind und durch die euer Glaube auf die Probe gestellt wird; denkt nicht, dass euch damit etwas Ungewöhnliches zustösst.“ 1.Petr.4,12. Das gehört zu unserem Leben als Christen. Es ist nichts Ungewöhnliches. Gott wird trotz dieser schlimmen Zeit die Kontrolle nicht verlieren. Er wird seine Versprechen einhalten. Obwohl wir das wissen dürfen wir unseren Frust rauslassen. Wir dürfen bei Gott klagen. Wir dürfen ihm erzählen, wie wir ungerecht behandelt werden. Ich muss aus meinem Herzen keine Mördergruben machen. Ich kann zu Gott schreien: „Warum, HERR, bist du so fern, warum verbirgst du dich in Zeiten der Not?“ Ps.10,1.

II. Steh auf und schaffe Gerechtigkeit!

Nun fordert der Psalmschreiber Gerechtigkeit. Gott möge sich jetzt erheben: „Steh auf, HERR! Gott, erhebe deine mächtige Hand! Vergiss die nicht, die erlittenes Unrecht geduldig ertragen!“ Ps.10,12. Gott, es kann doch nicht sein, dass diese Situation noch länger andauert. Wie lange sollen diese hochmütigen, gottlosen Menschen noch triumphieren? „Warum dürfen diese Gottlosen Gott verachten und sich einreden, dass du dich sowieso um nichts kümmerst?“ Ps.10,13. Das kann doch nicht sein! Und er ist sich ganz sicher, dass Gott überhaupt nichts entgangen ist. Alles, was diese respektlosen Leute tun, jedes Detail ist Gott bekannt. Daran zweifelt er keine Minute. „Du hast doch alles genau gesehen! Du achtest doch darauf, ob jemand Not leidet oder Kummer hat, und nimmst das Schicksal dieser Menschen in deine Hände! Die Armen und die Verwaisten dürfen dir ihre Anliegen anvertrauen, denn du bist ihr Helfer.“ Ps.10,14. Gott sieht nicht nur die bösen Taten dieser Menschen. Gott sieht vor allem auch die aussichtlosen Situationen seiner Kinder. Sie dürfen ihm ihre Anliegen anvertrauen und Gott wird ihnen helfen. Vielleicht nicht so wie sie es sich vorstellten, aber so, dass sie das Ziel erreichen werden. Gott wird den Gerechten zu ihrem Recht verhelfen. Nun sagt der Psalmist etwas, mit dem wir uns theoretisch schwertun. Es ist nicht ein Ausrutscher eines frustrierten Gläubigen. Diesen Gedanken finden wir in verschiedenen biblischen Texten. Doch würden wir diese Texte lieber übergehen. Er wünscht jetzt nämlich nicht Gnade für seine Feinde, sondern er wünscht ihre Vernichtung. Er will Vergeltung. „Zerbrich die Macht dieser gottlosen und boshaften Menschen, zieh sie zur Rechenschaft dafür, dass sie sich dir widersetzen! Keiner von ihnen soll mehr zu finden sein!“ Ps.10,15. Darf er diesen Wunsch äussern? Verstösst das nicht gegen das Gebot der Nächstenliebe? In der Theologie spricht man bei solchen Äusserungen in den Psalmen von Rachepsalmen. Tatsächlich fordert er hier Rache und zwar die Vernichtung dieser bösen Menschen. Wir sind so stark vom Gedanken der Feindesliebe bestimmt, dass uns solche Äusserungen befremden. Ich will nun versuchen diese, für uns etwas schwer verständliche Bitte, zu erklären. Für einen gesunden Glauben ist es wichtig, dass wir das verstehen. Zwei Tatsachen helfen uns zu einem guten Verständnis. Erstens müssen wir festhalten, dass es bei der Feindesliebe nicht um ein Gefühl der Liebe geht. Feindesliebe meint nicht, dass ich meinen Feind von Herzen lieben muss. Liebe ist primär eine Tat und kein Gefühl. Zweitens muss uns klar sein, dass Gott von uns nie erwartet, dass wir Bosheit und Sünde für gut halten oder mit ihr sympathisieren. Gott erwartet auch nicht, dass wir sie vertuschen. Gott selbst wird zornig über Sünde und er wird die Sünder bestrafen, wenn sie nicht Busse tun. Wenn wir nun ungerecht behandelt werden, können wir sicher sein, dass Gottes Zorn entbrennt. Gott erwartet von uns nicht, dass wir diese Ungerechtigkeiten reglos ertragen. Wir können uns darüber ärgern und wenn wir merken, dass wir uns am liebsten rächen möchten, dann ist das zunächst einmal eine ganz normale und gesunde Reaktion. Paulus bringt diese beiden Aspekte zusammen und erklärt uns, wie wir uns in einer solchen Situation verhalten sollen. Nach Rom schreibt er: „Rächt euch nicht selbst, liebe Freunde, sondern überlasst die Rache dem Zorn Gottes. Denn es heisst in der Schrift: ‚Das Unrecht zu rächen ist meine Sache, sagt der Herr; ich werde Vergeltung üben.‘“ Röm.12,19. Paulus sagt nicht, dass es falsch ist, wenn wir uns rächen möchten. Das Bedürfnis sich zu rächen bezeichnet er nicht als Sünde. Aber Paulus erlaubt uns nicht, uns selber zu rächen. Er fordert uns dazu auf, die Rache Gott zu überlassen. Gott wird das für uns erledigen. Das macht dieser Psalmschreiber. Er rächt sich nicht, sondern er übergibt die Rache an Gott. Damit ist es aber noch nicht getan. Paulus verlangt von uns noch viel mehr und noch viel Schwierigeres. Er will, dass wir die Liebe praktizieren. Feindesliebe ist eben eine schwierige Aufgabe. Paulus schreibt: „Wenn dein Feind hungrig ist, gib ihm zu essen, und wenn er Durst hat, gib ihm zu trinken. Ein solches Verhalten wird ihn zutiefst beschämen.“ Röm.12,20. Ich bin überzeugt, dass wir nur so einen gesunden und ungeheuchelten Glauben leben können. Wer seinen Frust über ungerechte Behandlung konsequent unterdrückt und auf jegliche Form der Klage gegenüber Gott verzichtet, der wird früher oder später seinen Glauben als unerträgliche Belastung empfinden. Er wird realisieren, dass er mit seiner Gefühlswelt nicht mehr zurecht kommt. Paulus machte übrigens gegenüber Timotheus eine Bemerkung, die zeigt, dass er wie der Psalmschreiber davon ausging, dass Gott die Bosheiten vergelten wird. Er schreibt: „Alexander, der Schmied, hat mir viel Böses zugefügt. Der Herr wird so an ihm handeln, wie er es verdient hat.“ 2.Tim.4,14. Er überlässt die Rache Gott. Paulus schreibt also nicht, er würde jetzt für seine Erlösung beten. Vielleicht hatte er das auch getan, aber er hatte eben auch Gott die Rache übergeben. Mir ist bewusst, dass das, was ich eben gesagt habe, in einer gewissen Spannung zu dem steht, was Jesus in der Bergpredigt über die Feindesliebe sagte: „Liebt eure Feinde, und betet für die, die euch verfolgen. Damit erweist ihr euch als Söhne eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne über Bösen und Guten aufgehen und lässt es regnen für Gerechte und Ungerechte.“ Mt.5,44-45. Wenn wir die Liebe als Tat verstehen, dann gehört eben auch das Gebet für die Feinde dazu. Es ist durchaus möglich, dass ich Gott die Rache übergebe und ich dann für meine Feinde bete. Das scheint theoretisch ein Widerspruch zu sein, ist es aber in der Praxis nicht. Beides kann ineinandergreifen und in jeder Hinsicht echt sein. Zurück zu unserem Psalm. Der Schreiber zweifelt nicht an der Macht Gottes. „Der HERR ist König für immer und ewig. Einst werden alle Völker, die ihn missachten, aus seinem Land verschwunden sein.“ Ps.10,16. Und er ist sich auch sicher, dass Gott die Gebete seiner Nachfolger hört: „Du hast die Wünsche derer gehört, die erlittenes Unrecht geduldig ertragen, HERR; aufmerksam hast du dich ihnen zugewandt und ihr Herz wieder stark gemacht.“ Ps.10,17. Diese Gläubigen erlebten, dass Gott sie innerlich aufgerichtet hat. Er hat sie gestärkt, auch wenn sich die äusseren Umstände nicht verändert haben. Doch es wird die Zeit kommen, in dieser oder in der neuen Welt, da wird der Hochmütige zu Fall kommen und der Gerechte wird aufgerichtet werden. „Du wirst den Verwaisten und den Unterdrückten zu ihrem Recht verhelfen. Du wirst nicht zulassen, dass Menschen auf der Erde Angst und Schrecken verbreiten.“ Ps.10,18. Wir leben mit der Gewissheit, dass Gott die Gerechtigkeit aufrichten wird. Manchmal erleben wir das ganz praktisch in unserem Alltag. Doch das, was wir hier erleben können ist nur immer zeichenhaft auf den Tag hin, an dem Gott Gericht halten wird und er die Gerechten aufrichten wird. Auf diesen Moment sollten wir uns freuen. Wir sind uns gegenüber nicht ehrlich, wenn wir sagen würden, es sei uns egal, ob jemand gerecht behandelt wird oder nicht. Wir leben als Christen mit dem Wissen, dass Gott gerecht richten wird und er sich rächen wird. Doch im Vordergrund unseres Lebens steht nicht die Rache, das überlassen wir ja Gott. Im Vordergrund steht die Liebe zu allen Menschen. Die praktische Liebe, wie Petrus schreibt: „Vergeltet Böses nicht mit Bösem und Beschimpfungen nicht mit Beschimpfungen! Im Gegenteil: Segnet! Denn dazu hat Gott euch berufen, damit ihr dann seinen Segen erbt.“ 1.Petr.3,9.

Schlussgedanke

Wie im Leben von Mariam Yahya, kann es einen Christen sehr hart treffen. Natürlich wünschten wir alle, dass sie doch noch frei gesprochen wird und ihre Kinder behalten kann. Aber es könnte auch sein, dass sie hingerichtet wird. In der Offenbarung heisst es sogar: „Wenn jemand für die Gefangenschaft bestimmt ist, wird er in Gefangenschaft geraten. Und wenn jemand durch das Schwert umkommen soll, wird er durch das Schwert umkommen. Hier ist die ganze Standhaftigkeit und Treue derer gefordert, die zu Gottes heiligem Volk gehören.“ Offb.13,10. Es gibt Situationen, denen wir nicht ausweichen können. Wir können dafür beten, dass Gott die Situation ändert, doch kann es sein, dass er es nicht tut – noch nicht. Aber wir können mit unserer Not, Angst, Trauer und Wut immer zu unserem Vater im Himmel gehen und rauslassen, was uns quält. Die Psalmen helfen uns dabei, unsere Gefühle zu kanalisieren. Und wenn Gott die Situation nicht ändert, so wird er uns innerlich zur Ruhe kommen lassen und uns einen tiefen Frieden schenken. Wie wir in diesem Psalm gelesen haben: „HERR, aufmerksam hast du dich ihnen zugewandt und ihr Herz wieder stark gemacht.“ Ps.10,17