Kursbuch

Auf der Reise in ein neues Jahr
Konrad Eißler

Was braucht’s für die Lebensreise durch’s Jahr? Nichts anderes als bei einer Bahnfahrt auch: ein Kursbuch. Die Silvesterpredigt zeigt, was das Mosebuch am Aufbruch zu einem Jahr zu sagen hat.


Was braucht’s, wenn ich eine Zugreise durchs Land antrete? Braucht es ein Sachbuch über Bleigießen? Damit kann ich erfahren, wie man Blei schmilzt. Die flüssige Masse wird ins Wasser geschüttet. An den entstehenden Figuren sollen die künftigen Ereignisse abgelesen werden. Aber das ist doch ein Schlag ins Wasser, wenn es um Abfahrts- und Ankunftszeiten geht. Bleigießen ist Unsinn. Was braucht’s, wenn ich eine Zugreise durchs Land antreten muss? Braucht es ein Werkbuch über Uhrenpendeln? Damit kann ich studieren, wie man Dinge auspendelt. Die goldene Taschenuhr kreist über dem neuen Kalender. An den Schwingungen sollen die künftigen Geschehnisse aufgedeckt werden. Aber das ist doch glatter Schwindel, wenn es um Eil- und D-Züge geht. Uhrenpendeln ist Irrsinn. Was brauchts, wenn ich eine Zugreise durchs Land antreten muss? Braucht es ein Lehrbuch über’s Sterngucken? Damit kann ich lernen, wie man Sternbilder erkennt. In der Ekliptik liegt der ganze Tierkreis. An Adler, Schütze, Wassermann sollen künftige Vorkommnisse vorhergesagt werden. Aber das ist doch ein reiner Witz, wenn es um Umsteige- und Zielbahnhöfe geht. Wer nach den Sternen schaut, guckt in den Mond.

Was braucht’s, wenn ich eine Zugreise durchs Land antreten muss? Ganz schlicht und einfach ein Kursbuch. Darin finde ich den Weg. Darin finde ich das Ziel. Darin finde ich alles, was ich zur Reise wissen muß. Für die Zugreise durch’s Land brauche ich ein Kursbuch, und für die Lebensreise durch’s Jahr auch. Was ist das für ein Unsinn, am Silvesterabend Blei zu gießen, um die künftigen Ereignisse abzulesen? Was ist das für ein Irrsinn, am Silvesterabend Uhren zu pendeln, um die künftigen Geschehnisse auszudeuten? Was ist das für ein Schwachsinn, am Silvesterabend Sterne zu gucken, um die Zukunft vorherzusagen?

Ein Kursbuch braucht es und dieses ist uns mit dem Mosebuch gegeben. Manche meinen, es sei ein Tagebuch des Mose, der dem mächtigen Pharao respektlos entgegengetreten ist und die Freiheit des versklavten Volkes verlangt hat. Das ist es auch, aber es ist mehr. Manche meinen, es sei das Erinnerungsbuch der Kinder Israel, das nach 430 Jahren Sklaverei mit Sack und Pack, mit Mann und Maus aus Ägypten ausgezogen ist. Das ist es auch, aber es ist mehr. Manche meinen, es sei ein Geschichtsbuch des jüdischen Volkes, das über den unvergessenen und bis heute gefeierten Exodus berichtet. Das ist es auch, aber es ist mehr. Das Mosebuch ist das Kursbuch der Gemeinde Gottes. Darin finden wir unseren Weg. Darin finden wir unser Ziel. Darin finden wir alles, was wir zur Reise durch 1994 wissen müssen. Also benützen wir den letzten Abend des Jahres, um uns von diesem Buch den Kurs geben zu lassen.

1. Ortsangabe: Sukkot. Sukkot bedeutet so viel wie “Zelte”. Sie wohnen also nicht mehr in festen Häusern. Planen spannen sich über ihren Köpfen. Der Wind pfeift durch die Lagerstadt. Ich kann mir das richtig vorstellen. In der Frühe bläst es zum Aufbruch. Zeltpflöcke werden herausgerissen, Teppiche werden zusammengerollt, Kisten werden verpackt und Tiere werden beladen. Dann geht der Zug los. Und abends kommt das Signal zum Lagern. Tiere werden entladen, Kisten werden ausgepackt, Teppiche werden ausge­rollt und Zeltpflöcke werden eingeschlagen. Die Marschierer kommen zur Ruhe, aber nur für eine Nacht. Am nächsten Morgen derselbe Trompetenstoß und am nächsten Abend dasselbe Haltesignal Tag für Tag, Woche für Woche, Jahr um Jahr. Sie sind heimatlos. Sie sind unterwegs. Sie sind immer im Aufbruch. Das Volk Gottes existiert zwischen gestern und morgen. Dabei ist es keine Wander­lust, die sich in ihrer Brust regt. Die Golfregion ist wahrlich kein Wandergebiet. Es ist auch kein Unternehmergeist, der sie so mobil macht. Ölgeschäfte gibt es noch nicht zu tätigen. Es ist erst recht kein Fernweh, das sie immer weitertrieb. Das Heim­weh nach den Fleischtöpfen Ägyptens wird sogar immer stärker. Nein, der Herr zieht los. Der Herr befiehlt den Marsch. Der Herr macht sie zu Wanderern zwischen zwei Welten. Das Volk Gottes ist Auszugsgemeinde, und dabei bleibt es. Auch wenn wir in festen Häusern wohnen, auch wenn wir Ziegeldächer über den Köpfen haben, auch wenn kein Wind durch die Fugen pfeift, in der Frühe des Tages brechen wir auf und abends suchen wir unser Lager: Tag für Tag, Woche für Woche, Jahr um Jahr. An Silvester wird es besonders deutlich. Wir sind heimatlos. Wir sind unterwegs. Wir sind immer im Aufbruch. Gemeinde Jesu existiert zwischen gestern und morgen. Dabei ist es wahrlich keine Wanderlust, die uns weitermarschieren lässt. Zu gerne wären wir an manchen Plätzen und Orten geblieben. Es ist wahrlich kein Fernweh, das uns ins neue Jahr hineintreibt. Zu gerne würden wir das Altern und Abschiednehmen einfach vergessen. Aber der Herr zieht los. Der Herr befiehlt den Marsch. Der Herr macht uns zu Wanderern zwischen zwei Welten. Da mögen wir mit 1000 Seilen ein Geschehen festhalten wollen,das sich in 1993 ereignet hat, so gilt doch: Ich vergesse, was dahinten ist und strecke mich nach dem, was vorne ist.” Da mögen wir in dieser Stadt aufgewachsen, gelebt, alt geworden sein, so gilt doch: “Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die Zukünftige suchen wir.” Da mögen wir die Uhr anhalten und zum Augenblick sagen: Verweile doch, du bist so schön!, so gilt doch: Ein Tag, der sagt’s dem andern, mein Leben sei ein Wandern zur großen Ewigkeit. “Sicher hat das französische Lied recht: Partir c’est mourir en peu, Abschiednehmen ist ein bisschen sterben, aber weil der Herr losschickt, will ich mich in dieses Los schicken. Sukkot meint: Der Herr zieht los.

2. Ortsangabe: Etam. Etam bedeutet so viel wie “Grenzfeste”. Sie leben also nicht mehr innerhalb gesicherter Grenzen. Der Weg geht hinaus in unbekanntes Land. Die Wüste beginnt. Sie wissen, was das bedeutet. Wüste heißt Durst. Im Sand versickert das Wasser. Die Feldflaschen werden bald leer sein. Wüste heißt Hunger. Im Sand wächst kein Getreide. Die Brotbeutel werden bald ausgevespert sein. Wüste heißt Hitze. Im Sand brennt die Sonne. Die Leute werden bald die Flügel hängen lassen. Wüste heißt Orientierungslosigkeit. Im Sand verwehen die Wege. Die Anführer werden bald nach Auswegen suchen. In dieser wasserlosen, kargen, heißen, unwegsamen Wüste sind sie verloren, wenn, ja wenn ihr Herr nicht mitzieht. Und Gott zieht mit, am Tag in einer Wolkensäule und bei Nacht in einer Feuersäule. Sie sind nie allein. Sie sind in ständiger Begleitung. Sie sind immer in seiner Nähe. Das Volk Gottes existiert in seiner Gegenwart. Nun brauchen sie keinen fadenscheinigen Optimismus: Auf jeden Dezember folgt wieder ein Mai. Nun brauchen sie keinen gefährlichen Aberglauben: Das Hufeisen am Wagen bringt nichts. Nun brauchen sie keine verlogenen Horoskope. Der Herr zieht mit. Der Herr marschiert mit. Der Herr bleibt bei seinen Leuten. Das Volk Gottes ist unter besonder­en Schutz gestellt. Dabei bleibt es. Auch wenn wir in gesicherten Grenzen wohnen, müssen wir mit dem neuen Jahr hinaus in unbekanntes Land. Vieles wird Wüste sein. Hunger werden wir haben, Hunger nach Leben. Durst werden wir haben, Durst nach Liebe. Hitze werden wir erleiden, Hitze im Geschäft und im Privatleben. Orientierungslosigkeiten werden uns zu schaffen machen, in der großen Politik und im eigenen Leben. In der Wüste des neuen Jahres sind wir verloren, wenn der Herr nicht mitzieht. Aber Gott zieht mit. Wohl haben wir keine Wolkensäule mehr, aber wir haben den, der in einer Wolke gen Himmel fuhr und auf den Wolken des Himmels wiederkommen wird und gesagt: Ich bin euch alle Tage. Wohl haben wir keine Feuersäule mehr, aber wir haben den, der im Geist, zerteilt wie von Feuer, zugesagt hat: Mein Geist soll unter euch sein. Wir haben es nicht schlechter als die Israeliten, sondern besser. Wort und Sakrament sind unsere beiden Säulen. Wer die Bibel liest und zum Abendmahl geht, und beides sollten wir uns wieder ganz fest vornehmen für das neue Jahr, der hört und schmeckt es: Du bist nicht allein. Du bist in ständiger Begleitung. Du bist immer in Gottes Nähe. Da mag die Sonne stechen, es wird seine Sonne sein. Da mag die Dunkelheit hereinbrechen, es wird seine Dunkelheit sein. Da mag der Sturm toben, es wird sein Sturm sein. Auf dem Weg in das Morgen wird nichts zugemutet werden, woran er sich durch seine Gegenwart nicht beteiligt. Es kann mir nichts geschehen, als was er hat ersehen, und was mir nützlich ist. Der Herr zieht mit Ihnen. Der Herr marschiert neben Ihnen. Der Herr bleibt bei Ihnen. Sie müssen ihm nur auf den Fuß folgen. Etam meint: Der Herr zieht mit.

3. Ortsangabe: Von Sukkot nach Etam. Das bedeutet so viel wie ein Umweg. Das ist nicht der kürzeste Weg von Ost nach West. Die endlose Karawane aus Mensch und Tier schlägt einen großen Bogen. Der Treck wird umgeleitet. Mose und seine Stabsleute mögen den Kopf geschüttelt haben: Warum denn solch ein Umweg, wenn es einen Schnellweg, nämlich die viel begangene Handelsstraße zwischen ägyptischem Nildelta und palästinensischer Küstenebene gibt? Warum denn solch ein Zick-Zack-Kurs, wenn eine Directissima vorhanden ist? Warum denn solch eine Zeitverschwendung, wenn es auch viel kürzer geht? Sie können nicht wissen, dass Gott sie vor dem Kriegsgebiet der Philister bewahren will. Sie müssen beim Glauben bleiben: Der Herr führt an, der Herr zieht voran. Der Herr gibt die Richtung an, und dabei bleibt es. Auch wenn wir in andern Regionen unterwegs sind, haben wir auf diese Führung zu achten. Immer wieder schütteln wir die Köpfe: Warum dieser Umweg in meinem Leben? Eigentlich wollte ich Arzt werden, und jetzt bekomme ich keine Stelle. Es ist alles so sinnlos. Warum dieser Zick-Zack-Kurs in meinem Leben? Eigentlich wollte ich eine Familie gründen und jetzt tappe ich allein durchs Leben. Ich kann nicht mehr. Warum denn diese Zeitverschwendung in meinem Leben? Eigentlich wollte ich meinen Beruf ausfüllen, und jetzt jagt eine Krankheit die andere. Ich bin am Ende. Alle, die mit diesem Warum hergekommen sind, müssen es neu hören: Wenn der Herr voranzieht, dann ist es immer der richtige Weg. Auch der Umweg ist Gottes Schnellweg. Auch die Umleitung ist Gottes Leitung. Auch die durchkreuzte Straße ist Gottes Kreuzstraße. Nur auf ihr werden wir vor Schrecken bewahrt und zum richtigen Ziel geleitet. Von Sukkot nach Etam meint: Der Herr zieht voran. - Von dem großen römischen Feldherrn Caesar las ich, dass er auf vielen Märschen, die er führte, seinen Soldaten niemals den Befehl gegeben hat: Ite! Das heißt: Geht! Caesar schickte seine Leute nicht in den Kampf, sondern er ging ihnen voran und sie folgten ihm. Sein Kommando lautete stets: Venite! Kommt! Auch unser Herr schickt uns nicht mit einem Ite ins neue Jahr hinein. Er zieht los. Er zieht mit. Er zieht voran. Er ruft mit väterlicher, liebender, werbender Stimme: Kommt! Einer, der es gehört hat, machte sich auf die Füße und sang: “Drauf wollen wir’s denn wagen, es ist wohl wagenswert, und gründlich dem absagen, was aufhält und beschwert. Welt, du bist uns zu klein, wir geh’n durch Jesu Leiten hin zu den Ewigkeiten. Es soll nur Jesus sein.” Das ist der richtige Kurs.

Amen