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26.03.1989Johannes 20,19-23
Der Auferstandene begegnet den Jüngern mit den Worten: „Friede sei mit euch!“ Keine Schuld. Keine Flucht. Konrad Eißler nimmt mit hinein in die Tiefe dieser Zusage.

Schalom, liebe Gemeinde, Friede. Das ist nicht nur ein altjüdischer Willkommensgruß, so wie wir Grüß Gott oder Guten Tag sagen. Schalom, Friede, das ist nicht nur ein altjüdischer Abschiedsgruß, so wie wir Adieu oder Aufwiedersehen sagen. Schalom, Friede, das ist also nicht nur eine altjüdische Grußformel, die wie eine abge­griffene Münze bis heute in Israel umgeht. Schalom, Friede ist Jesu Ostergeschenk an uns. Er schenkt keine Rahmhasen und keine Ostereier, auch keine Pralinenschachteln und keine Frühlings­sträuße, Jesus schenkt Frieden. Er bringt keine Bücher über Fried­ensforschung und Friedenssicherung, auch keine Thesen und Manifest zur Friedenspolitik, Jesus bringt Frieden. Er macht keine Friedensmärsche und keine Friedensfeste, auch keine Friedensnetze und Friedenslieder, Jesus macht Frieden. Schalom alechem, Friede sei mit euch. Ein unglaubliches Ostergeschenk. Unglaublich für die Frauen am Grab. Sie sahen nur einen Geist. Unglaublich für die Jünger im Haus. Sie zitterten vor bösen Geistern. Unglaublich für uns heute. Wir sind gelähmt angesichts der Zeitgeister und Ungeister. Zuhause ist Krach. Die Jungen scheren sich keinen Deut um die Eltern. Der Familienfrieden ist dahin. Die politische Landschaft verändert sich. Links- und Rechtsradikale trumpfen mit ihren Kampf­parolen mächtig auf. Der Landfrieden ist gefährdet. An vielen Eck­en unseres Planeten wird gefährlich gezündelt. Die Angst vor ge­waltigen Explosionen überschreitet zollfrei jede Grenze. Der Völkerfrieden ist keineswegs gesichert. Resigniert winken wir ab und denken an Jeremia: "Sie sagen Friede! Friede! und ist doch kein Friede." Unsere Realität ist der Krieg. Und Jesus bleibt dabei: Schalom, Friede. Damit es nicht gespensterhaft klingt, zeigt er seine durchbohrten Hände und seine durchnagelten Füße als Pass. Schalom! Damit es nicht unüberlegt klingt, wiederholt er es und sagt es gleich dreimal: Schalom! Damit es nicht missverständlich klingt, verbindet er es mit der segnenden Gebärde.Schalom alechem, Friede sei mit euch! Nur eins, und das muss jeder begreifen. Jesus meint nicht zuerst den Familienfrieden oder Landfrieden oder Völker­frieden, sondern den Gottesfrieden. Jesus sieht nicht zuerst den Generationskonflikt oder Interessenkonflikt oder Machtkonflikt, sondern den Urkonflikt. Jesus spricht nicht zuerst vom horizontalen sondern vom vertikalen Frieden. Weil kein Einklang mit Gott be­steht, deshalb gibt es keine Harmonie zwischen den Menschen. Weil kein Vertrauen auf Gott besteht, deshalb gibt es Misstrauen zwisch­en den Leuten. Weil keine Liebe zu Gott besteht, deshalb regiert der Hass. Nur wenn der Schöpfer selber den Achsenbruch seiner Schöpfung repariert und wider Erwarten das Verhältnis zu den Menschen neu bestimmt, kann Frieden werden und genau daran macht sich Jesus. An Weihnachten wurde es über dem Stall hörbar: "Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens." Am Karfreitag wurde es auf Golgatha greifbar: "Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten." Und an Ostern ist es beim Felsengrab unübersehbar, als Jesus mit seinem Wort alles klar machte: Schalom alechem, Friede sei mit euch. Was heißt das konkret?

1. Friede und keine Angst

Abend in Jerusalem. Die Sonne verschwindet hinter den judäischen Bergen. Dämmrig wird’s, ruhig, kalt. In einem Schlupfwinkel der Altstadt hocken sie zusammen, so wie Leute nach einer Beerdigung zusammenhocken. Alle können nicht vergessen. Was war das für ein treuer Herr? Alle denken das gleiche Thema. Wie wird das ohne ihn weitergehen? Alle haben Angst. Wann werden sie uns aufspüren und abführen? Die Fenster sind verschlossen, die Schlösser verriegelt, vor der Tür liegt ein grob gehobelter Querbalken. Dabei hatte der Sonntag so gut angefangen. Die ganze Mannschaft war von Maria Magdalena aus dem Schlaf getrommelt word­en: Hallo, der Lack ist ab, das Grab ist leer, die Leiche ist fort! Johannes und Petrus stürmten los, um alles in Augenschein zu nehm­en. Aber der Wettlauf brachte nichts ein. Die Vermutungen gingen in Richtung Grabschändung oder Leichenraub. Kopfschüttelnd schlichen sie in ihr Versteck zurück. Sie waren ganz dicht bei Ostern, und dann haben sie dicht gemacht. Ostergemeinde im Unterschlupf, Auferstehungsgemeinde im Untergrund, Christengemeinde hinter Schloss und Riegel. Und ich frage mich, sitzen wir denn so viel anders beieinander? Alle können wir nicht vergessen. Was war das für ein treuer Mann, für eine treue Mutter, für ein treues Kind? Alle denken wir das gleiche Thema. Wie wird das ohne sie, ohne ihn, wie wird das alles weitergehen? Alle haben wir Angst, Lebensangst, Zukunftsangst, Todesangst. Wir schließen uns ein, riegeln ab und lassen niemand heran. Ostergemeinde im Druck. Auferstehungsgemeinde im seelischen Tief. Christengemeinde hinter zugeschlagenen Türen. Und ausgerechnet in dieses stockfinstere Loch hinein trägt Jesus seinen Frieden. Er kehrt sich nicht um verrammelte Türen. Wer am Kreuzbalken vor dem Stadttor gelitten hat, für den ist der Querbalken vor der Haustür kein unüberwindliches Hindernis. Er kehrt sich nicht um verriegelte Schlösser. Wer die Todestür aufgeschlos­sen hat, der besitzt den Hauptschlüssel für alle dicht gemachten Eingänge. Er kehrt sich nicht um finstere Löcher. Wer die Sonnen­finsternis am Karfreitag durchstanden hat, für den ist kein Dunkel mehr undurchdringbar. Jesus tritt in die Höhlen der Angst und ver­kündigt: Schalom, Friede. Und wenn er dies damals getan hat, dann gibt es heute keinen Platz mehr, an dem er dies nicht wieder so tun will. Im Wohnzimmer will er das sagen, wo sich Familien auseinander gelebt haben und sich zu Leide leben: Friede! Im Arbeitszimmer will er das sagen, wo die Anforderungen immer mehr werden und der Konkurrenzkampf bis aufs Messer ausgefochten wird: Friede! Im Krankenzimmer will er das sagen, wo sich die Angst vor dem tödlichen Geschwür festgesetzt hat und sich nicht mehr vertreiben lässt: Friede! Im Sterbezimmer will er das sagen, wo einer mit dem Leben kämpft und zu Tode ermattet ist: "Meinen Frieden gebe ich euch, nicht gebe ich euch, wie die Welt gibt. Euer Herz erschrecke nicht und fürchte sich nicht." Dieser Friede gilt. Auch wenn sich wie damals die Lage nicht schlagartig ändert, die Feindschaft der Menschen bleibt, die Gefahren eher größer als kleiner werden, dies letztlich unbegreifliche Ostergeschenk für die Verängstigten ist wahr: Schalem alechem, Friede sei mit euch. Friede und keine Angst.

2. Friede und keine Schuld

Nacht in Jerusalem. Die Sonne ist längst hinter dem Horizont verschwunden, Dunkel ist’s, Nacht, rabenschwarz. Petrus vergräbt den Kopf in den Händen. Er wagt überhaupt nicht aufzuschauen. Immer wieder dieser Hahnenschrei im Ohr. Wie konnte ich nur wegen einer dahergelaufenen Magd mit dem Putzeimer? Wie konnte ich nur mit einer erbärmlichen Notlüge kom­men? Wie konnte ich nur solcher Schwächling, Lügner und Verräter werden? Auch die Zebedäus-Söhne lassen die Köpfe hängen. Sie kriegen die Frage Jesu nicht los: "Könnt ihr nicht eine Stunde mit mir wachen?" und dann schliefen sie wie die Murmeltiere. Wie konnten wir nur so müde sein? Wie konnten wir nur diese Bitte verträumen? Wie konnten wir nur solche Schlafhauben,Träumer und untreue Ge­sellen werden? Die ganze Elfergemeinschaft ist am Boden. Keiner konnte sich brüsten: Ich habe dem Herrn die Stange gehalten! Alle flohen sie vor den Schwertern und Stangen römischer Grenadiere. Wie konnten wir nur so feige sein? Wie wir nur in panischer Angst das Weite suchen? Wie konnten wir nur solche Angsthasen, Ausreißer und Fahnenflüchtige sein? Keiner sah gut aus. Jeder hatte Dreck am Stecken. Alle waren sie schuldig. Und ich frage mich wieder: Sitzen wir so viel anders beieinander? Müssen wir nicht im Rück­blick auf dunkle Augenblicke unseres Lebens sage: Da war die Sache mit der Frau, die eines Tages als Kollegin ins Büro kam. Wie konnte ich nur? Da war die Sache mit dem Geld, das ich kurzerhand umbuchte. Wie konnte ich nur? Da war die Sache mit dem Bittsteller, den ich kalt abfahren ließ. Wie konnte ich nur? Ist denn ein einziger hier, der sich heute Morgen mit einer blütenweißen und fleckenlosen Weste in Schale werfen konnte? Keiner sieht gut aus. Jeder hat seine Flecken weg. Paulus hatte recht: "Wir sind allzumal Sünder und mangeln des Ruhmes, den wir bei Gott haben sollen." Und ausgerech­net in diese traurige Gesellschaft trägt Jesus seinen Frieden. Er zählt nicht auf.Er rechnet nicht ab. Er präsentiert keine Rechnung mit roten Zahlen. Jesus zeigt seine durchschlagenen Hände. Zeichen von Schuld, gewiss, aber von vergebener Schuld. Zeichen von Sünde, gewiss, aber von vergebener Sünde. Zeichen von Brutalität, aber von vergebener Brutalität. So wie die hineingestanzten Löcher in einem Sparbuch die darin enthaltenen Zahlen ungültig machen, so löschen die durchstanzten Hände Jesu alle belastenden Summen unseres Lebensbuches. Für diese Entlastung musste er teuer bezahlen, nicht in DM, Dollars oder Gold, sondern in Blut. Jesus hat es so lange fließen lassen, bis kein Tropfen mehr aus seiner Seite kam. Teuer sind wir ihm geworden, liebe Freunde, teuer sind Sie ihm, Ihre Vergangenheit braucht Sie nicht mehr kaputt zu machen. Ihre Schatten sind nicht mehr Ihr Schicksal. Ein Leben in der Vergebung ist möglich, weil er zu den Schuldigen sagt: Schalom alechem, Friede sei mit euch. Friede und keine Schuld.

3. Friede und keine Flucht

Morgen in Jerusalem. Die Sonne schießt ihre ersten Strahlen an den Himmel. Hell wird’s, warm, Tag. Aber im Altstadtversteck zeigt sich wenig Leben. Die Ostergesellschaft rührt sich nicht vom Fleck. Von Aufbruchstimmung keine Spur. Viel­leicht sagt Johannes: Hier sitzen wir nebeneinander und halten uns warm. Vielleicht sagt Andreas: Hier bleiben wir beieinander und stärken uns gegenseitig. Vielleicht sagt Jakobus: Hier reden wir miteinander und machen es uns gemütlich. Alle, 11 Männer und ein paar Frauen sind sich darin einig: Wenn draußen ein solch scharfer Wind weht, bleiben wir drinnen in der warmen Stube. Osterchristen fliehen in die Windstille. Und noch einmal frage ich mich: Sitzen wir so viel anders beieinander? In unserem Jugendclub ist es so warm. In unserem Frauenkreis ist es so gemütlich. In unserem Seniorenkreis reden wir miteinander. Auch der Gottesdienst findet im Windschatten der Zeitstürme statt. Hier lasst uns Hütten bauen. Hier lasst uns Wurzeln schlagen. Hier lasst uns ungestört fromm sein. Und ausgerechnet in diese warme Runde hinein trägt Jesus seinen Frieden und "blies sie an". Nein, er blies keinen Kohlen­herd an, damit sie ihr Süppchen kochen können. Er blies keinen Kachelofen an, damit sie ihre Füße wärmen können. Er blies keinen Samowar an, damit sie abwarten und Tee trinken können. Jesus blies sie selber an, damit sie in der Kraft des Geistes aufstehen, hin­ausgehen und an ihrem Platz zu Friedenszeugen werden. "Der Heilige Geist ist", und so hat es der bayrische Theologe Hermann Bezzel erklärt, "nicht wie der Rausch eines Fieberkranken, auch nicht der Taumel der Unordentlichkeit, noch ein Aufschrei falscher Geistlichkeit. Heiliger Geist ist die stille, friedsame Entschlossenheit für Christus zu reden und zu arbeiten." Wenn Jesus bläst, dann will er uns nicht den Marsch blasen. Sein Atem will uns beleben, dass uns nicht die Luft ausgeht. Selbst in der Atemnot unserer letzten Stunde wird dann dieser Sauerstoff des ewigen Lebens zu einem seligen Sterben genügen.

Deshalb brechen Sie auf. Christ­en wittern den Morgen. Es muss doch alles gut werden, weil der Auferstandene sagt: Schalom alechem, Friede sei mit euch!

Amen

[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]