Bewusstes Wahrnehmen von Liedern und Predigten
Als ich vorhin die Lieder mitgesungen habe, dachte ich mir: Wenn man Lieder auf eine Weise singt, die man nicht gewohnt ist, singt man sie bewusster. Sonst neigt man doch dazu, einfach in einen Rhythmus zu kommen und die Lieder so ein bisschen herunterzuspielen. Aber wenn Claudia plötzlich an einer Stelle eine Pause macht, wo nach meinem Verständnis gar keine hingehört, werde ich kurz wach und schaue wieder auf den Text.
So ging es mir vorhin bei dem einen oder anderen Lied. Ich merkte, dass ich dadurch noch dichter am Text dran war. Das fand ich ganz interessant. Vielleicht geht es nur mir so, aber dann ist man damit nicht alleine.
Etwas Ähnliches ist mir auch im letzten Jahr passiert. Ich habe eine Predigtreihe von einem amerikanischen Prediger, Tom Nelson, über das Hohelied gehört. Man kennt das ja: Wenn man irgendwohin im Zug fährt und eh schon sechs bis acht Stunden unterwegs ist, hört man sich ein, zwei Predigten an, um den eigenen Horizont zu erweitern.
Ich glaube, Jürgen, du hattest uns die Predigten mal weitergegeben. Die lagen schon lange bei uns, bestimmt drei, vier Jahre auf irgendeiner CD. Ich habe sie mir angehört, und es machte irgendwie „Flash“ bei mir. Zum ersten Mal hat mir jemand eine Idee gegeben, worum es eigentlich beim Hohelied geht – bei diesem alttestamentlichen Liebeslied, das Salomo für die Königin seines Herzens, für Sulamit, schreibt.
Viele von euch werden jetzt vielleicht sagen: „Ich habe das Buch nie verstanden.“ Ich glaube, die meisten Leute, mit denen ich in den letzten Monaten meine Begeisterung geteilt habe, fühlen ähnlich. Ich habe dann angefangen, das Hohelied zu studieren, und das hat mich einfach durchgehypt. Wirklich Vers für Vers dachte ich: Wow!
Ich habe schon das ein oder andere biblische Buch studiert und mir Mühe gegeben, mich in die Texte hineinzufuchsen, ihre Bedeutung herauszufinden, mich mit Sprache zu beschäftigen und Bilder zu interpretieren. Aber bei diesem Buch war das anders.
Sonst ist es beim Bibelstudium oft so: Wenn man in drei, vier Stunden ein richtig schönes Aha-Erlebnis hat, kann man zufrieden sein. Aber beim Hohelied war es wie ein Feuer: Pum, pum, pum – ständig schießt ein Wow-Moment nach dem anderen auf.
Während ich diese Wow-Momente hatte, dachte ich: Warum hat mir das niemand vor zwanzig Jahren erzählt? Ich merkte nicht nur, wie lebensnah dieses Buch ist und wie es mir vor Augen führt, wie Gott sich die Beziehung zwischen Mann und Frau vorstellt. Mir wurden auch meine eigenen Fehler bewusst.
Plötzlich dachte ich: Oh Mann, das hast du falsch gemacht! Und vieles mache ich inzwischen richtig. Aber wenn man den harten Weg geht – das heißt try and error, gegen die Wand laufen, wieder aufstehen, wieder gegen die Wand laufen und so weiter – dann findet man irgendwann die Tür. Das geht auch. Aber ich habe das Buch gelesen und dachte: Das kann doch nicht wahr sein!
Deshalb auch mein Gebet: Im Alten Testament steht schon eine Anweisung, wie man Ehe leben soll. Das ist sicherlich nicht nur einmal durchlesen und alles ist gut. Aber wenn ich zu meiner Frau sage: „Meine liebliche Hirschkuh“ – ja, ihr kennt das schon, es kommt nicht so oft vor –, und wenn ich versuche, die Bilder zu verstehen, die da sind, wenn ich mir dieses Buch anschaue und mitbekomme, was im Zentrum steht, wie die einzelnen Bilder angeordnet sind, wie sie sich aufeinander beziehen und welche Kernaussagen sie bringen, dann geht es mir im Moment so:
Ich stehe hier vorne und würde am liebsten alles sagen, was mir auf dem Herzen liegt zu diesem Buch. Nur ist das ein bisschen viel für eine Predigt.
Persönliche Erfahrungen und Motivation zur Predigtreihe
Ich habe beides erfahren: eine gewisse Traurigkeit und auch die Erkenntnis, wie das sein kann, dass ich – als jemand, der die Bibel liebt und seit zwanzig Jahren verheiratet ist – erst jetzt dieses Buch studiere. Diese Erfahrung habe ich schon früher gemacht. Oft habe ich mich gefragt: Wie blöd muss man eigentlich sein? Ich beschäftige mich immer erst dann mit der biblischen Sichtweise auf eine Sache, nachdem sie bereits passiert ist.
Das ist der Grund, warum ich hier vorne stehe. Ich habe einfach Lust, dieses Buch zu erklären und vielen zukünftigen jungen Ehepaaren etwas mit auf den Weg zu geben. Ich möchte ihnen sagen, dass man von Anfang an richtig handeln kann. Denn dieser harte Weg tut weh, er ist nicht immer schön. Für mich bedeutet das konkret, dass ich zurückblicke auf eine Ehe, die nicht immer gut gelaufen ist, die in kritische Phasen geraten ist.
Heute muss ich ehrlich sagen, dass ich an diesen Schwierigkeiten mindestens eine Mitschuld trage – wahrscheinlich sogar den Hauptteil der Schuld. Wir sind da durchgegangen, und heute führen wir eine glückliche Ehe. Man möchte keine Sorgen mehr haben. Trotzdem hätte ich mir gewünscht, dass mir jemand vor zwanzig Jahren das, was ich jetzt in diesem Buch gelesen und verstanden habe, gepredigt hätte. Ich hätte wirklich viel dafür gegeben.
Es hätte manche Entwicklungen, die sich in unserer Ehe zum Guten gewendet haben, zwanzig Jahre früher angestoßen. Aus den insgesamt sieben Predigten, die wir zum Thema Hohelied halten werden, wünsche ich mir, dass ihr ein Stück dieser Begeisterung mitnehmt. Und dass ihr das, was ihr mitnehmt, auch ein Stück weit in euren eigenen Beziehungen umsetzt – dort, wo ihr gerade steht und so, wie es für euch möglich ist.
Aufbau der heutigen Predigt
Ich möchte heute mit euch drei Dinge besprechen.
Zum einen möchte ich mich ganz grundsätzlich mit euch über Auslegungsgrundsätze unterhalten. Warum ist das Hohelied eigentlich so, wie es ist, und wie geht man an so einen Text heran?
Dann werden wir uns kurz mit der Struktur beschäftigen. Wenn man die Struktur eines biblischen Buches versteht, fällt es leichter, das gesamte Buch besser zu erfassen.
Am Ende werden wir uns den ersten Vers des Hohelieds anschauen. So steigen wir wenigstens ein bisschen in den Text ein.
Wir brauchen heute keine Bibel, es sei denn, ihr habt selbst eine dabei, in der ihr etwas anstreichen könnt. Das ist zwar gut, aber nicht unbedingt notwendig.
Auslegungsgrundsätze zum Hohelied
Erster Punkt: Auslegungsgrundsätze
Das Hohelied – der Begriff „hohes Lied“ oder „hoher Lied“ bedeutet „das höchste“ oder „das schönste Lied“. Es handelt sich dabei um ein Liebeslied. Wenn man einen Blick in die Kirchengeschichte wirft, stellt man fest, dass dieser alttestamentliche Text, der nur etwa fünf Seiten umfasst, immer wieder allegorisch und bildhaft ausgelegt wurde.
Das liegt daran, dass man beim Lesen dieses Buches mit halbwegs offenen Augen relativ schnell ein gewisses erotisches Element entdeckt. Das steht nicht explizit da, aber wenn Salomo sagt: „Ich gehe in meinen Garten, ich esse meinen Honig und ich trinke meine Milch“ – und man hat das davor gelesen, weiß man ungefähr, was gemeint ist. Wenn er sagt: „Ich werde meine Palme besteigen und von meinen Trauben naschen“, dann denkt man schon: „Oh, nicht schlecht!“ Und das steht tatsächlich in der Bibel.
Über die Jahrhunderte der Kirchengeschichte hinweg war es nicht einfach, mit diesem erotischen Element umzugehen. Deshalb hat sich relativ früh eine allegorische Auslegung etabliert. Dabei nimmt man das platte Erotische und sagt: „Das ist ja nur ein Bild.“ Ein Bild für etwas anderes, das eigentlich gar nicht das meint, was dort steht. Das ist so ein „Ich traue mich nicht, das zu nehmen, was da steht“, und deswegen wird es zum Bild – und damit ist man gleich woanders.
Die allegorische Auslegung ist keine Erfindung der Christen. Die Griechen hatten schon viel Erfahrung damit. Sie hatten ein ähnliches Problem. Wenn man alte griechische Mythologie kennt, sieht man auf der einen Seite Zeus, der sich jede Frau schnappt, die er haben will – nicht unbedingt ein Vorbild für die Jugend. Auf der anderen Seite lesen wir von Philosophen wie Platon und Aristoteles, die auf einem relativ hohen Niveau abstrakt über Philosophie schreiben. Da entsteht eine Spannung: Auf der einen Seite philosophiert jemand über Ideen und das Gute, auf der anderen Seite verwandelt sich Zeus in einen Stier oder Schwan, um seine Ziele zu erreichen.
Die Griechen überlegten, wie sie diese alten Geschichten, die man nicht wörtlich nehmen kann, verstehen sollten. Man kann seinen Kindern ja nicht in der Kinderstunde erzählen: „Dann wurde er ein Stier, hat sie entführt, ist ins Mittelmeer geschwommen und hatte sie.“ Das ist kein Vorbild. Also nahmen sie diese Geschichten und betrachteten sie als Bilder für höhere geistige Wahrheiten. Das war damals üblich, so ging man mit solchen Texten um.
Man kann gut zeigen, dass das Hohelied anfangs noch wörtlich verstanden wurde, aber spätestens im ersten Jahrhundert nach Christus spürten die Christen eine Spannung. Auf der einen Seite steht dieses fleischliche Buch, in dem von Brüsten gesprochen und Körper beschrieben werden, auf der anderen Seite steht die Tatsache, dass dieses Buch in der Bibel steht.
Diese Spannung lösten sie, indem sie die allegorische Methode übernahmen, die damals gerade modern war. Sie dachten: „Wunderbar, das machen wir auch.“ So fanden sie eine Auslegung, die etwas netter war.
Wenn man die allegorischen Auslegungen zum Hohelied grob in zwei Gruppen einteilt, dann gibt es zum einen die historisch-allegorische Auslegung. Dabei sagen Leute: Das Hohelied ist ein Bild für die Liebe Gottes zu Israel oder, aus christlicher Sicht, die Liebe Gottes zur Gemeinde. Alles wird bildhaft ausgedrückt.
Die andere Richtung ist etwas persönlicher und mystischer. Dabei wird die Liebe Gottes nicht zur Gemeinde, sondern zu mir persönlich betrachtet.
In diesen beiden großen Gruppen lassen sich alle allegorischen Auslegungen zum Hohelied einsortieren.
Ich persönlich glaube nicht an die allegorische Auslegung. Sie ist mir sehr suspekt, und ich möchte kurz erklären, warum. Wenn ich all diese Auslegungen vergleiche und nebeneinanderlege, schreibt jeder, was er will. Sobald ich einen Text als Bild nehme, lege ich letztlich in diesen Text hinein, was ich will.
Der Text wird zum Spielball des Auslegers. Die Grenzen und Ergebnisse der Auslegung hängen dann nur noch von der Vorstellungskraft des Auslegers ab, nicht mehr von dem, was tatsächlich da steht.
Deshalb habe ich mich von dieser allegorischen Methode verabschiedet und sage: Nein, das ist gar nicht nötig. Ich komme nur deshalb darauf, weil ich nicht erklären kann, warum ein erotisches Liebeslied in der Bibel steht.
Das ist die Frage, die am Anfang steht. Wenn ich eine gute Erklärung dafür habe, warum Gott so ein merkwürdiges Stück Literatur – merkwürdig jetzt aus unserer Perspektive – in die Bibel hineinstellt, dann brauche ich keine allegorische Auslegung.
Vier Gründe für das Hohelied in der Bibel
Ich möchte euch vier Gründe nennen, warum das Hohelied in der Bibel steht.
Der erste Grund ist, dass das Hohelied Sexualität als eine Gabe Gottes darstellt. In der Kirchengeschichte gibt es – nicht nur in der christlichen, sondern allgemein im religiösen Leben – eine Tendenz, Askese, Zölibat und platonische Ehe hochzuhalten. Das ist ganz merkwürdig. Sexualität wird dabei schnell heruntergespielt, oft mit dem Gedanken, dass sie nur als notwendiges Übel zur Zeugung von Kindern geduldet wird.
Diese Entwicklung hat sich in der Kirchengeschichte relativ schnell vollzogen. Nach nicht einmal hundertfünfzig Jahren wurde Ehelosigkeit plötzlich zum Ideal erklärt. Man fragt sich: Wie kann das sein? Sexualität ist doch eine natürliche Neigung. Wenn das Hohelied die Liebesbeziehung zwischen Mann und Frau feiert und zeigt, dass Sex nichts Böses ist, sondern eine von Gott gegebene Gabe, dann ist das ein klares Gegenbild zu dieser Entwicklung. Im Hohelied geht es nicht um Kinder, sondern um die Lust und Freude aneinander.
Der erste Grund, warum das Buch in der Bibel steht, ist also, um diesen Tendenzen entgegenzuwirken.
Der zweite Punkt betrifft das kulturelle Umfeld Israels. Dort gab es zwei große konkurrierende Systeme: Auf der einen Seite den Gott Israels, Jachwe, den Schöpfergott, und auf der anderen Seite Baal, den Fruchtbarkeitsgott. Wer auf der Seite von Baal stand, betrachtete alles, was sexuell getrieben wurde, als Ausdruck seiner Religion. Egal, ob man mit einer Prostituierten oder im Ehebett Sex hatte – alles war religiös motiviert.
Das dahinterstehende Denken war, dass sexuelle Aktivität göttliche Kraft freisetzt und den Lebenszyklus sichert. Als ich darüber nachdachte, ist mir aufgefallen: Sex ist immer religiös. Wie man über Gott denkt, bestimmt auch, wie man zuhause mit Sexualität umgeht, wie man mit seiner Frau oder seinem Mann umgeht. Sexualität steckt tief im Denken.
Gott macht durch das Hohelied jedoch deutlich: Sexualität ist ein Teil der Schöpfung, zum privaten Gebrauch in den von Gott gesetzten Grenzen der Ehe, und hat mit Religion überhaupt nichts zu tun. Sie ist eine private Sache. Für uns ist das selbstverständlich, weil wir es so kennen. Aber in einer Kultur, in der Prostituierte abends ausgehen und Männer einladen, mit ihnen in den Tempel zu gehen, wo Prostitution und Religion vermischt werden, ist das Hohelied eine Provokation. Es sagt: Das, was zwischen meiner Frau und mir passiert, hat mit Religion nichts zu tun.
Der dritte Grund ist besonders schön. Wenn man das Hohelied liest, fällt auf, wer am meisten spricht: die Frau. Man könnte sagen, Frauen reden immer mehr als Männer, aber hier ist es ein Liebeslied, das von einem Mann geschrieben wurde, und dennoch lässt er die Frau mehr sprechen als sich selbst.
Das zeigt uns etwas über das Verhältnis der Geschlechter zueinander: Vor Gott sind in einer Ehe beide Partner gleichwertig. Sie dürfen gleichwertig ihre Bedürfnisse artikulieren. Das ist bemerkenswert. Sulamit, die Frau, sagt zum Beispiel: „Komm, jetzt gibt es eine Runde Kuscheln.“ Man denkt: Der Text ist etwa tausend Jahre vor Christus geschrieben, also vor ungefähr dreitausend Jahren. Und Sulamit ist keine Feministin, sondern verblüffend emanzipiert. Sie bringt ihre Bedürfnisse klar auf den Punkt und sagt, was sie sich wünscht. Gleichzeitig ist sie ganz Frau.
Salomo ist nicht einfach der Macho, der sagt: „Komm, Kleine, jetzt ab ins Bett“, sondern geht sanft mit ihr um und bleibt trotzdem männlich. Das Hohelied zeigt uns, wie das Verhältnis der beiden zueinander ist: eine gleichwertige Beziehung, in der zwei reife Personen miteinander verschmelzen.
Im Gegensatz zu Hollywood hört es hier nicht mit der Hochzeitsnacht auf. Das Hohelied beschreibt einen Lebenszyklus und zeigt, wie eine Ehe funktionieren und gelingen kann.
Der vierte Punkt ist für mich persönlich sehr schön. Im Hohelied lernt man etwas über das Verhältnis von Sex und Romantik. Wahrscheinlich stimmen mir jetzt viele Frauen zu: Romantik ist wichtiger. Romantik ist das Eigentliche.
Im Hohelied wird mindestens zweimal sehr deutlich beschrieben, dass es „jetzt zur Sache geht“. Doch an anderen Stellen finden sich Leidenschaft, Bewunderung, Romantik und Schwärmerei. Man merkt, dass der letzte Akt, den wir in unserer Gesellschaft oft aus dem Zusammenhang der Ehe reißen und ins Zentrum stellen, seinen Wert als Sahnehäubchen auf der Erdbeertorte hat.
Für mich ist eine Erdbeertorte ohne Sahnehäubchen nicht dasselbe. Ich brauche beides: Erdbeertorte mit Sahnehäubchen. Und das Sahnehäubchen ist der Sex. Die Erdbeertorte steht für Bewunderung, Leidenschaft, Verliebtsein, Schwärmerei, das Träumen voneinander, das Reden miteinander, das Aneinanderhängen und das Verschmelzen.
Das Hohelied zeigt uns – oder provoziert uns – mit Gottes Ideal von Ehe, dass dort, wo Mann und Frau zusammen sind, Romantik, Leidenschaft und Poesie einfach dazugehören. Das ist der Startpunkt.
Ich werde versuchen, das beim übernächsten Mal noch deutlicher zu machen. Das ist das eigentliche Fundament. Deshalb ist es auch so problematisch, wenn Beziehungen anders beginnen, weil sie kein wirkliches Fundament bekommen.
So viel dazu. Deshalb glaube ich, dass es wirklich gut ist, dass Gott sich dieses Buch, das Hohelied, ausgedacht hat.
Begeisterung und persönliche Annäherung an das Hohelied
Als mir das so klar wurde und ich bemerkte, wie diese vier Punkte mein Denken angestoßen hatten, war ich voller Begeisterung. Ich tauchte ein in das Hohelied und möchte vorweg eines sagen: Man kann sich mit dem Hohelied beschäftigen und danach frustriert die Bibel zuklappen und denken: So sieht es bei mir aber nicht aus. Noch schlimmer ist es, wenn man sagt: Ich habe ja gar niemanden, ich bin allein.
Ich möchte nicht frustrieren, und auch Gott möchte nicht frustrieren. Ich glaube, das Hohelied ist in der Bibel, damit wir etwas verstehen von qualitativ hochwertigen Beziehungen. Dort, wo wir in Beziehungen stehen, können wir uns von diesem Element der Leidenschaft anstecken lassen.
Das kann ein Stück weit jeder. Ein Ehepaar kann das Hohelied natürlich leichter auf sich übertragen als ein Single. Aber die Tiefe der Beziehung und diese grundsätzlichen Prinzipien – ich denke, die kann jeder für sich ein Stück weit nutzen.
Die Struktur des Hohelieds
Kommen wir zur Struktur. Bei Strukturen ist es immer so: Es gibt Leute wie mich, die Strukturen lieben. Strukturen in der Bibel zu entdecken, ist einfach klasse. Ich dachte mir, es wäre vielleicht gut, euch zu erklären, wie man auf so eine Struktur kommt.
Der Punkt ist: Wenn man das Hohelied durchliest, macht man eigentlich etwas, was mit dem Buch nie gedacht war. Das Hohelied wurde nicht zum Lesen geschrieben, sondern zum Hören. Die Struktur wird also mit den Ohren festgestellt.
Ich kann jetzt nicht zu sehr in die Tiefe gehen, obwohl ich das könnte. Aber ich lasse es jetzt mal, weil das sonst nicht mehr nett wäre. Jeder, der einmal im Leben das Hohelied gelesen hat, erinnert sich an einen Satz. Wie heißt dieser eine Satz? Laut: „Weckt nicht, stört nicht, stört nicht auf die Liebe, bis es ihr selber gefällt.“ Das ist das Minimum an Struktur, das jeder entdeckt, wenn er das Buch einmal durchliest. Beim zweiten Mal denkt man: „Den Satz kenne ich schon.“ Und beim dritten Mal weiß man, dass man ihn kennt.
An dieser Stelle bitte merken: Wann immer ihr beim Lesen eines Buches den Eindruck habt, „Das habe ich doch schon mal gehört“ oder „Das ist mir doch schon mal untergekommen“, dann ist das ein Strukturmarker. Das kann man so ein bisschen abspeichern. Das hat damit zu tun, dass alttestamentliche Bücher – aber das gilt auch für das Neue Testament – also antike Bücher, zum Vorlesen gedacht waren.
Deswegen habe ich, und das seht ihr hier, wo das vorkommt, nämlich in Kapitel 2, Vers 5, in Kapitel 3, Vers 5 und dann noch einmal in Kapitel 8, Vers 4, immer einen Strich gemacht – für mich intern – und gesagt: Da ist eine Grenze.
Das Nächste, was ich gemacht habe, ist, dass ich mir die Mitte des Buches angeschaut habe. Ich dachte mir, das ist ja spannend. In der Mitte des Buches werden zwei riesige Erzählblöcke zusammengestellt. Beide Erzählblöcke fangen damit an, dass etwas getrennt ist, und enden damit, dass es vereinigt wird.
Zuerst ist das der Abschnitt drei. Dort steht: Hochzeit, Trennung und Vereinigung. Da ist sie noch in der Wüste, in der Karawane, und er steht in Jerusalem, weit auseinander. Am Ende dieses Abschnitts endet die Sache mit dem Garten. „Ich gehe in meinen Garten und genieße da meine Milch und meinen Honig und was es sonst noch gibt“, also in der Hochzeitsnacht.
Abschnitt fünf startet mit Trennung. Und ich finde es so gut, dass das drin ist – das ist ein richtiger Ehekrach. Er klopft an der Tür und sagt: „Ich hätte gern noch ein bisschen Lust auf dich.“ Sie sagt: „Ich liege schon im Bett und habe meine Schuhe schon ausgezogen. Nein, ich will nicht mehr.“ Wir werden uns darüber unterhalten. Es ist fantastisch – Trennung pur. Am Ende dieses Abschnitts kommt: „Ach, wir sind wieder in unserem Nussgärtchen.“ Also da sind wir wieder im Garten. Dieses Bild von dem, dass wir wieder beieinander sind, schließt beide Male diese Abschnitte ab.
So habe ich das Hohelied in insgesamt sieben Abschnitte eingeteilt.
Am Anfang steht Hohelied 1,1–2,5, ein Prolog. Dort werden wir in das Buch eingeführt und lernen die beiden kennen: Salomon und Sulamith. Ihr werdet beim nächsten Mal sehen, dass es immer hin und her geht: „Ich habe dich lieb“ und „Du bist schöner“, „Du bist auch viel schöner“. Es geht immer so hin und her. Das ist total schön.
Dann kommt Abschnitt zwei. Der Prolog stellt uns nur die Frage: Wie kriegen die das hin, dass sie auf so einem hohen Niveau eine Beziehung leben? Abschnitt zwei behandelt die Zeit vor der Hochzeit: Sehnsucht und Grenzen einer jungen Liebe. Man merkt, wie sie gestartet sind.
Dann folgt Abschnitt drei, Kapitel 3, Vers 6 bis Kapitel 5, Vers 1: die Hochzeit selbst. Danach kommt die Hochzeitsnacht, mit der dieser Abschnitt endet.
Mittendrin, und das ist total schön, kommt dann eine Stimme aus dem Off. Im Hohelied taucht Gott kaum auf, bis auf diesen Vers: Denn mitten in der Hochzeitsnacht spricht einer, der zu den beiden sagt – und da ist kein anderer dabei –, „Esst, trinkt und berauscht euch an der Liebe.“
Das ist wirklich so aus dem Off. Und der Einzige, der das in diesem Moment sagen kann, ist Gott selbst. Das ist das Thema des Hohelieds.
Das Thema dreht sich um die Frage, wie ich eine Beziehung zu meinem Ehepartner lebe, bewahre und genieße. Im Zentrum steht Gott, der nicht sagt: „Huch, ein bisschen schneller bitte, das ist mir zu viel Kuscheleinheit.“ Sondern Gott sagt: „Iss, trink, berausch dich.“ Das ist der Gott, mit dem wir es an dieser Stelle zu tun haben.
Dann geht es weiter mit Abschnitt fünf: der Ehekrach, Trennung und Versöhnung, Kapitel 5, Verse 3 bis 6 und Vers 12.
Abschnitt sechs behandelt die Zeit nach der Hochzeit. Ich habe es ganz bewusst so ein bisschen übereinander geschichtet, damit ihr seht, dass der Abschnitt vor der Hochzeit und der Abschnitt nach der Hochzeit – Freude und Genuss einer reifen Liebe – zusammengehören. Hohelied 7,1 bis 8,4.
Ich werde euch am Ende bitten, das Hohelied einmal zu lesen und zu schauen, ob ihr das wiederentdecken könnt. Ob ihr zwischen diesen beiden Abschnitten Verbindungen findet. Dort werdet ihr plötzlich Begriffe finden, die nur in diesen beiden Abschnitten vorkommen. Diese zeigen genau, dass sie zusammengehören. Vor der Ehe steht die Sehnsucht, nach der Ehe wird stark betont, wie das erfüllt worden ist.
Im Prolog steht die Leidenschaft der Liebe. Am Ende folgt noch ein Epilog, ein siebter Abschnitt: Die Macht der Liebe, Hohelied 8,5–14. Wie schaffe, bewahre und genieße ich eheliche Nähe?
Das ist das Thema des Hohelieds. Man könnte es noch genauer sagen: Wie schaffe, bewahre und genieße ich eheliche Nähe durch Bewunderung? Denn das ist das Mittel, das die beiden benutzen.
Einstieg in den Text: Hohelied 1, Vers 1
Schauen wir uns noch einen Vers an: Hohelied 1,1. Das ist das Lied der Lieder von Salomo.
Ich weiß nicht, ob ihr das schon gelesen habt, aber wenn ich es lese, stellt sich mir eine einzige Frage: Warum in aller Welt ist das Hohelied das Lied der Lieder? „Lied der Lieder“ ist ein hebräischer Superlativ, okay? Das ist die Nummer eins der alttestamentlichen Kuschelrockcharts. Es steht ganz oben. Salomo oder ich weiß nicht, wer es geschrieben hat, sagt: Das ist die Nummer eins.
Warum bitteschön ist ein Lied, das sich eigentlich nur um Mann und Frau dreht, in dem Gott vielleicht eher eine Nebenrolle spielt, das Lied der Lieder? Ich habe hundertfünfzig Psalmen, die Gott preisen und loben, als Konkurrenten. Und dieses eine Lied macht einfach nur schnapp – hat gewonnen.
Warum? Wie kann es sein, dass die Bibel sagt, das beste aller Lieder sei ein Liebeslied zwischen zwei Leuten, Salomo und Sulamit, die sich einfach mal fünf Seiten lang gegenseitig anschmachten? Ist das nicht ungeistlich?
Wenn ich euch gefragt hätte, was das bedeutendste Lied in der Bibel ist, hätte keiner das Hohelied gewählt. Wir hätten uns vielleicht gestritten: Psalm 150, weil da ein bisschen mehr vom Jubel drin ist, nein, Psalm 119, ja, das Wort Gottes, oder Psalm 19, ja, die Herrlichkeit, die die Schöpfung preist und solche Sachen. Aber da hätte irgendeiner gesagt: Nein, ganz klar, da, wo die beiden so miteinander sind, das ist das beste aller Lieder.
Aber die Bibel sagt das. Das habe ich mir nicht ausgedacht. Und deswegen zum Schluss...
Die Bedeutung des Hohelieds im Kontext Gottes Liebe
Die Antwort auf die Frage, warum das Hohelied eigentlich das beste und wertvollste Lied in der gesamten Bibel ist, liegt in Gott selbst. Warum ist das Hohelied das Lied der Lieder und nicht etwa ein Psalm? Die Antwort hat mit Gott zu tun – mit der Tatsache, dass Gott Liebe ist.
Im Zentrum Gottes, eines dreieinigen Gottes, dort, wo sich die Persönlichkeiten Gottes berühren – und das ist jetzt mit meinen Worten formuliert – da, wo Gott quasi zusammengehalten wird in seiner Dreieinigkeit, geschieht das durch Liebe.
Wenn ich mir Gottes Liebe anschaue, besteht die große Gefahr, dass ich mir ein durchschnittsverliebtes Berliner Ehepaar vorstelle, aus dieser Beziehung Liebe destilliere und sage, das ist das, was die Dreieinigkeit zusammenhält. Doch wenn ich im Alten Testament auf Gott stoße, der so Dinge sagt wie: „Du sollst keine Götzen anbeten und ihnen nicht dienen, denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifersüchtiger Gott“ oder an anderer Stelle warnt vor Götzendienst mit den Worten: „Denn der Herr, dein Gott, ist ein verzehrendes Feuer, ein eifersüchtiger Gott“, dann spüren wir vielleicht ein wenig von dem Feuer, von der Leidenschaft, die in Gott brennt. Wenn Gott von Liebe redet, dann meint er etwas sehr Tiefgründiges.
Nun zum Lied der Lieder: Ich bin mir darüber im Klaren, dass man das Hohelied beim Lesen an manchen Stellen – mindestens als mitteleuropäischer Durchschnittsmensch – merkwürdig berührt wird. Meine Frau leidet im Moment darunter, dass ich ihr immer wieder die Freundlichkeiten aus dem Hohelied an den Kopf werfe: „meine Taube“, „meine Vollkommene“, „die Hirschkuh nicht, aber die Gazelle schon“. Wir schmunzeln darüber, und gleichzeitig merke ich, wie arm meine Sprache ist. Ich bin es gar nicht mehr gewohnt, poetisch auszudrücken, wie sehr ich meine Frau liebe.
Einen Liebesbrief zu schreiben ist eine echte Herausforderung für mich. Am liebsten würde ich im Internet nachschauen, was ein Liebesbriefgenerator schreibt – und das habe ich auch schon getan. Natürlich brauche ich ein paar Anregungen. Ich lebe auf einer so rational geprägten Insel, dass ich verzweifelt nach Begriffen suche, mit denen ich meiner Frau romantisch sagen kann, wie ich für sie empfinde.
Ich muss das tun, denn wenn ich nicht anfange, meine Gefühle mit Worten zu beschreiben, wird sich auch mein Gefühl nie weiterentwickeln. Deshalb ist das Hohelied auch so ein Problem: Wir treffen auf eine Beziehung, die in Bildern schwelgt. Klar, ich habe meiner Frau noch nie gesagt: „Du bist wie eine Stute am Prachtwagen des Pharao.“ Logisch. Aber wenn ich euch nächstes Mal erkläre, was das bedeutet, dann finden wir vielleicht Bilder, und vielleicht trauen wir uns dann, solche Bilder im Miteinander zu gebrauchen.
Klar, meine Frau hat mir auch noch nie gesagt: „Deine Schenkel sind wie Alabaster.“ Ja, okay, wir lachen darüber. Aber dieses Lachen kommt aus einer gewissen Unsicherheit. Wir wissen instinktiv, dass genau das eigentlich richtig wäre. So eine Beziehung zu leben – boah!
Warum ist das Hohelied das schönste aller Lieder? Es ist deshalb das schönste aller Lieder, weil es Gott und die Liebe beschreibt, die als Feuer in Gott brennt und Gott zusammenhält. Niemand von uns kann sein geistliches Leben allein als reiner Kopfmensch leben. Du bist nicht nur Kopf, es reicht nicht, nur zu sagen: „Ich habe verstanden, was am Kreuz passiert ist.“
Wir sind Kopf und Herz. Wir sind Menschen, die Verstehen brauchen und Emotionalität. Unsere Gefahr besteht darin, uns nur auf das Verstehen zu konzentrieren. Meine Gefahr besteht darin, dass ich mich in den kleinsten Details der Bibel verliere und mich daran freue. Ich kann vor Begeisterung aufstehen, weil ich eine zusammengesetzte Genitivkonstruktion gelöst habe – wow! Doch dann merke ich, dass das mit meiner eigentlichen Beziehung zu Gott nichts zu tun hat. Es ist nur Kopf. Wenn ich das nie getan hätte, wäre meine Beziehung zu Gott kein bisschen schlechter.
Jetzt aber kommt das Hohelied und zeigt uns etwas von leidenschaftlicher Liebe. Es zeigt uns etwas vom Herzen Gottes, von der Liebe. Ich muss jetzt einen Sprung machen: Die Liebe, die wir zwischen Mann und Frau sehen, ist immer auch ein Bild der Liebe, die Gott zu uns hat – nicht nur ein Bild im Zentrum Gottes, sondern ein Bild, mit dem Gott uns liebt.
Überlegt euch das mal: Ich nehme diese leidenschaftliche Liebe und sage, das ist Gottes Liebe zu dir. Und mit einem Mal geht es nicht mehr um ein rein intellektuelles Verstehen. Die Bilder, die uns in den nächsten sechs Predigten begegnen werden, werden uns im Bauch treffen. Ja, wir lachen über die Stute, keine Frage, ich auch. Aber wenn ich euch erkläre, was es bedeutet, wird es euch im Bauch treffen.
Ihr werdet merken: Ja, genau so ist es richtig. Es gehört sich, dass ein Mann so einer Frau das sagt und nicht anders. In diesem Moment trifft uns auf einer emotional-seelischen Ebene die Liebe.
Das ist nicht etwas, das man wortlos wegwischen sollte, weil es angeblich gefährlich ist, weil es Mystizismus ist oder wir vom Glauben abirren könnten. Nein, das ist mindestens im Vergleich zum Verstehen ein gleichwertiger Teil, wenn nicht an manchen Stellen sogar der wichtigere Teil.
Ich glaube, dass es ein Weg ist, Gott zu erkennen, wenn wir die Leidenschaft der Liebe, die zwischen Sulamit und Salomo da ist, an uns heranlassen und begreifen, dass wir an dieser Stelle dem Mysterium Gottes begegnen.
Deshalb – und weil wir das nur an dieser Stelle in der Bibel finden – ist das Hohelied das größte, beste und schönste aller Lieder.
Ich wünsche uns gemeinsam, dass wir in den nächsten Wochen Freude an diesem Buch haben und dass ich euch ein bisschen mit hineinnehmen kann. Ich werde euch kein Skript geben, weil ich gerade dabei bin, das als Buch zusammenzuschreiben. Das wird hoffentlich in sechs Wochen fertig sein. Dann bekommt ihr das Ganze und könnt daran Spaß haben.
Deshalb müsst ihr mit dem Skript noch ein bisschen warten. Bitte lest bis zum nächsten Mal das Hohelied einfach mal durch – wenigstens den ersten Abschnitt. Das wäre großartig.