Sie kamen eilend

Konrad Eißler
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Warum machten sich die Hirten so einen Stress, zum Stall zu kommen? Wer das Licht Jesu entdeckt, bleibt nicht unter dem Lichterbaum sitzen. Christ, der Retter ist da. Deshalb: den Hirten nach, heraus aus der Angst, hinüber zum Stall hinein zum Kind, eilend. - Predigt zum Heiligabend aus der Stiftskirche Stuttgart


Sie kamen eilend. Sie liefen keuchend. Sie hatten’s pressant, diese Hirten von der Gemarkung Bethlehem. Warum auf einmal diese Eile? Normalerweise schliefen sie auf ihren Fellen. Überlicherweise lehnten sie auf ihren Stöcken. Gewohnterweise schlenderten sie um ihre Pferche. Warum auf einmal diese Hetze? Christabend ist Feierabend. Heilige Nacht ist Stille Nacht. Weihnachtstag ist Ruhetag. Warum auf einmal dieser Stress, liebe Gemeinde?

Wenn ich damals Pastor gewesen wäre, zu deutsch Hirte, der nach seinen Schäflein schaut, dann hätte ich diesen Kollegen ins Gewissen geredet. “Habt ihr denn kein Zeitgefühl? Nachts rast man nicht durch die Gegend. Hirten sind keine Roboter. Wer den ganzen Tag auf der Beinen ist, legt sich bei Nacht aufs Ohr. Es geht nicht an, durch ständiges Pressieren seinen Körper zu ruinieren. Keiner will doch einen Herzinfarkt. Denkt an eure Gesundheit!” Aber die Hirten kamen eilend.

Dann hätte ich weiter argumentiert: “Habt ihr denn kein Pflichtgefühl? Nachts haut man nicht einfach ab. Hirten sind keine Unternehmer. Wer zur Nachtschicht eingeteilt ist, kann nicht auf die Schnelle ein paar Freistunden einschieben. Es geht nicht an, durch unerlaubte Entfernung vom Arbeitsplatz seine Präsenzpflicht zu versäumen. Keiner will doch seine Entlassungspapiere. Denkt an eure Pflicht!” Aber die Hirten kamen eilend.

Schließlich hätte ich meine letzte Stichkarte gezogen und gesagt: “Habt ihr denn kein Anstandsgefühl? Nachts macht man keinen Geburtstagsbesuch. Hirten sind keine Stoffel. Wer nicht am Spätvormittag oder Spätnachmittag aufkreuzen kann, schickt einen Blumenstrauß. Ein Hirtenbub kann wohl einmal Fleurop spielen. Es geht nicht an, durch nächtliche Überfälle eine Wöchnerin zu belästigen. Keiner will doch eine Nachtruhestörung. Denkt an euren Anstand!” Aber sie kamen eilend.

Sie liefen keuchend. Sie hatten’s pressant. Was ist der eigentliche Grund dafür?

Die Antwort ist einfach: Angst, pure Angst. Aus Angst konnten sie keinen Schlaf finden. Aus Angst ließen sie die Tiere im Stich. Aus Angst platzt en sie mitten in den Stall hinein. Bitte, das war nicht die Angst vor der Nacht. Die Nacht war in dieser Jahreszeit immer finster. Es war nicht die Angst vor dem Licht. Hirten waren Wetterleuchten gewohnt. Es war nicht die Angst vor dem Wolf. Mit Raubtieren machten sie kurzen Prozess. Hirten hatten Angst vor andern. Menschen machten ihnen zu schaffen. Die Heilande der Welt jagten ihnen den Schrecken ein. Wohl war auf jeder Münze in ihrer Felltasche eingeprägt: “Augustus, Wohltäter und Erlöser!” Wohl war auf jeder Siegessäule in den Städten eingemeißelt: “Augustus, Preis dem Weltheiland, dem Gott auf Erden!” Wohl war es bis auf die entlegensten Fluren gedrungen: “Augustus, der ewige Friedenskaiser!” Aber die Wirklichkeit im Dorfflecken sah anders aus. Weil der Kaiser Geld für seine Kriege brauchte, deshalb, und so ist es in einer alten Urkunde nachzulesen, “waren Plätze und Straßen von Herden und Familien verstopft, überall hörte man das Schreien derer, die mit Folter und Stockschlägen verhört wurden. Man spielte die Söhne gegen die Väter aus und presste die treuen Sklaven zu Aussagen gegen ihre Herren, die Frauen gegen ihre Männer. Es gab keine Rücksicht auf Alter und Gesundheitszustand, selbst Kranke wurde herbeigeschleppt und abgezählt.”

So sind sie bis heute alle geblieben, diese Großen der Welt, die Heil proklamieren und Unheil produzieren. So sitzen sie alle an den Schalthebeln der Macht, diese Mächtigen der Welt, die Frieden verkündigen und sich mit Kriegen versündigen. So jagen sie uns den Schrecken ein, diese Heilande von satanischer Hartherzigkeit.

Und Hirten entdeckten den Heiland von göttlicher Leutseligkeit. Ein Sohn des Gottes, der nicht weinselig wie Zeus nur mit seinen Getreuen auf dem Olymp bechert, ein Sohn des Gottes, der nicht saumselig wie Buddha nur auf seinem Thron vor sich hinstarrt, ein Sohn des Gottes, der nicht armselig wie Allah nur auf die Einhaltung seiner Gesetze aus ist, nein, ein Sohn des Gottes, der leutselig auf die Erde drängt. Engel und Heerscharen sind ihm nicht genug. Weil er unter die Leute will, deshalb vertauscht er seinen noblen Hofstaat mit der primitiven Bettstatt einer Karawanserei. Weil er nicht standesgemäß denkt, deshalb fürchtet er sich auch nicht vor schlechter Gesellschaft. Weil er Philantrop und nicht Misantrop, weil er Menschenfreund und nicht Menschenhasser ist, deshalb zieht es ihn in unsere Nähe.

Jeder soll seine Freundlichkeit sehen, auch der, der so viel Unfreundlichkeiten erlebt. Jeder soll seine Leutseligkeit spüren können, auch der, der an der Gottesferne leidet. Jeder soll seine Herzlichkeit erfahren können, auch der, der in unserer Eiszeit der Herzen friert. Also endlich ein Wohltäter, der wohl und nicht wehe tut. Endlich ein Friedensbringer, der Friede und keinen Streit bringt. Endlich ein Heiland, der heilt und keine neue Wunden schlägt. Bei ihm bin ich keine Nummer und kein Rädchen. Er degradiert mich nicht zum Kanonenfutter oder Konsumenten. Menschenmaterial und Menschenmassen sind Fremdworte im Reiche Gottes. Er kennt nur Geschöpfe, Kinder, unvertauschbare Persönlichkeiten, denen er mitten in ihre Angst hinein persönlich zusagt: Euch ist heute der Heiland geboren. Euch ist heute der Retter geboren. Euch ist heute der Herr geboren, der stärker ist als alle Augustusse, alle!

Hätten die Hirten zuwarten und Feuer machen sollen? Hätten die Hirten abwarten und Tee trinken sollen? Hätten die Hirten aufwarten und mit Lammkeule und Kräuterschnaps feiern sollen? Wer Jesus entdeckt, wird sich nicht mit allen Köstlichkeiten zudecken. Wer Christus ausmacht, wird sich nicht mit allerlei Plunder abmachen. Wer dieses Licht sieht, bleibt nicht unter dem Lichterbaum sitzen. Christ, der Retter ist da. Deshalb: den Hirten nach, heraus aus der Angst, hinüber zum Stall hinein zum Kind, eilend, keuchend, pressant!

Amen


[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]