0:00:00
0:19:23

Was hat Weihnachten dem Josef gebracht? Nur einen durchkreuzten Wegplan, Zeitplan und Stadtplan? Weihnachten hat ihm das Kreuz gebracht. Das ist das Größte und Schönste und Beste, was einem Weihnachten bringen kann. - Predigt aus der Stiftskirche Stuttgart


An Weihnachten bekam jeder sein Päckchen. An Weihnachten bekam jeder sein Geschenkchen. An Weihnachten ging keiner leer aus. Weihnachten hat jedem etwas gebracht. Dem Buben den lang ersehnten CD-Player, der noch heißere Rockkonzerte in der Wohnung ermöglicht. Dem Mädchen den topmodernen Skianzug, der auf jeder Piste das Aufsehen garantiert. Dem Papa den neuen Wanderführer, der noch anstrengendere Sonntagsausflüge verheißt. Der Mama den antiken Wandschmuck, ein richtiges Schnäppchen vom Flohmarkt. Dem Opa eine umweltfeindliche Zigarre mit Bauchbinde und der Oma einen umweltfreundlichen Briefblock mit Briefmarken. Freude, Freude über Freude. Weihnachten hat jedem etwas gebracht.

Aber, das ist die Frage dieses Sonntags, was hat Weihnachten dem Josef gebracht, diesem sympathischen Schweiger, der nicht den Mund auftut? Was hat Weihnachten dem Josef gebracht, diesem liebenswerten Stillen, von dem kein Sterbenswörtlein überliefert ist? Was hat Weihnachten diesem nachdenklichen und nach innen gekehrten Josef gebracht? Schwierigkeiten lagen hinter ihm. “Der braucht endlich eine tüchtige Frau ins Haus”, sagten sie. Er aber wollte nicht nur eine tüchtige Frau ins Haus. Er wollte mehr. Er wollte nicht nur eine schaffige Frau ins Haus. Er wollte mehr. Er wollte nicht nur eine mütterliche Frau ins Haus. Er wollte mehr. Josef wollte eine fromme Frau. Was nützt es, wenn man miteinander arbeiten, mitarbeiten essen, miteinander leben, aber nicht miteinander beten kann?

Endlich hatte er eine solch fromme Braut namens Maria gefunden. Schwierigkeiten lagen hinter ihm, und Peinlichkeiten lagen hinter ihm. “Hast du’s schon gehört?”, tuschelten sie hinter vorgehaltener Hand: “Die Spatzen pfeifen es von den Dächern. Josefs Maria kriegt ein Kind.” Die Klatschtanten hatten ihr Thema und die Stammtischler ihre dreckige Freude: “Seht, so sind die Frommen; zuerst große Reden vollführen und dann kleine Mädchen verführen.” Peinlichkeit­ lagen hinter ihm und Scherereien lagen hinter ihm. “Kein Zimmer frei”, hieß es bei der Quartiersuche. Die Türen wurden ihnen vor der Nase zugeschlagen. Von wegen “stille Nacht, heilige Nacht”. Eine hektische Nacht war es mit einer Geburt ohne Arzt, ohne Hebamme, ohne Geburtshelfer, einfach so, wie eben davor und danach andere Flüchtlingskinder auf die Welt kamen. Scher­ereien lagen hinter ihm.

Jetzt musste ihm Weihnachten doch Freude bringen, so wie es uns nach vielen Schwierigkeiten Freude bringen muss. Jetzt musste ihm Weihnachten doch Friede bringen, so wie es uns nach so viel Peinlichkeiten endlich Frieden bringen muss. Jetzt musste ihm Weihnachten doch Glückseligkeit bringen, so wie es uns nach so viel Scherereien Glückseligkeit bringen muss. Was hat Weihnachten dem Josef gebracht?

Dieser Bericht des Matthäus ist ernüchternd. Keine Spur von Krippenidyll und Hirtenromantik. Kein Ton von Friedensschalmeien und Jubelchören. Kein Dunst von Weihrauch und Myrrhe. Die Hauptfiguren haben fluchtartig den Saal verlassen. Die Mütter schreien auf von Jammer und Herzeleid. In Bethlehem riecht es nach Blut und Verwesung. Weihnachten hat dem Josef einen durchkreuzten Wegplan, einen durchkreuzten Zeitplan und einen durchkreuzten Stadtplan gebracht. Das müssen wir zur Kenntnis nehmen.

1. Einen durchkreuzten Wegplan

Denn Josef wollte nach all dem Erlebten nichts wie heim. Der zugige Stall ist kein Dauerquartier. Die beinharte Krippe ist kein Kinderbettchen. Maria und Jesus brauchen endlich ein warmes Nest. Für Josef war der Heimweg dran. Aber dann wurde ihm nachts befohlen: “Steh auf, nimm das Kindlein und Maria und flieh.” Und Josef entgegnete nicht: “Herr, das Kind ist neu geboren; es verträgt keine Strapazen.” Und Josef argumentierte nicht: “Herr, ich habe nichts auf dem Kerb­holz; warum soll ich mich aus dem Staub machen?” Und Josef diskutierte nicht: “Herr ich bin doch in Galiläa zuhause; warum soll ich nach Ägypten?” Josef stand wortlos auf, nahm das Kindlein und seine Mutter und ging nach Ägypten.

So wie seine Glaubensvät­er auch schon. Der frühere Josef stand auf und ging mit harten Sklaventreibern nach Ägypten. Die elf Josefsbrüder standen auf und gingen mit leeren Getreidesäcken nach Ägypten. Jakob, der Erzvater, stand auf und ging mit seiner Großfamilie nach Ägypten. Ägypten ist nicht nur ein Name aus der Geographie, sondern ein Begriff aus der Theologie. Ägypten meint Fremde. Ägypten meint Ängste. Ägypten meint Hitze. Die heilige Familie ist auf dem Weg nach Ägyptenland.

Liebe Freunde, wer sich dieser Familie anschließen will, hört es genau so: “Steh auf und gehe mit!” Entgegnen wir nicht: “Herr, ich vertrage keine Strapazen.” Argumentieren wir nicht: “Herr ich habe nichts auf dem Kerbholz.” Diskutieren wir nicht: “Herr, warum jetzt diese Richtung?” Wortlos aufstehen und nach Ägypten mitgehen, das ist Glaube. Nicht der Heimweg ins warme Nest ist dran, denn “die Vögel haben Nester, aber Jesus hat nichts, wo er sein Haupt hinlege”, sagt der Herr. Nicht der Heimweg in die heimatliche Stadt ist dran, denn “wir haben hier keine bleibende Stadt”, sagt der Apostel. Nicht der Heimweg in den ungestörten Frieden ist dran, denn “ich bin nicht gekommen Frieden zu bringen, sondern das Schwert”, sagt Jesus. Die familia dei, die Gottesfamilie, ist auf dem Weg nach Ägyptenland.

Wundern Sie sich nicht, wenn Ihr Weg ganz anders aussieht, als Sie es vorgesehen hatten. Stoßen Sie sich nicht, wenn Ihr Weg in die ganz andere Richtung läuft, als Sie es ursprünglich dachten. Grämen Sie sich nicht über einen durchkreuzten Wegplan, denn Gottes Weg führt nie aus seiner Schutzzone hinaus. Seine Macht endet nicht an den Landesgrenzen. Sie ist auch durch keinen Schlagbaum begrenzt. Sie wird bei der Familie am Nil genau so zu spüren sein wie später am Jordan. Schutztruppen in Gestalt unsichtbarer Heere sind überall. Einer, der diese Erfahrung machte, sagte im Rückblick auf sein Leben: “Mich haben die steilen und beschwerlichen Wege fester mit meinem Herrn verbunden als die leichten und angenehmen.” Gerade auf dem unverständlichen und unbegreiflichen und undurchschaubaren Weg ist Jesus erst recht in unserer Nähe.

Der durchkreuzte Wegplan ist Gottes Kreuzplan. Den hat Weihnachten dem Josef gebracht.

2. Einen durchkreuzten Zeitplan

Denn Josef wollte die Zeit abkürzen. In seinem Asylantenheim im Nildelta hörte er von der neuen Bluttat dieses Bluthundes Herodes. Zuerst hatte er den Hiskia mitsamt seinen Widerstandskämpfern abschlachten lassen. Dann trieb er ganze Familien in die Felsenhöhlen von Galiläa und räucherte sie mit Feuerbränden aus. Dann fürchtete er, die Macht zu verlieren und tötete zwei seiner Söhne; noch drei Tage vor seinem Tod erdrosselte er den dritten. Jetzt ging er gegen die Kinder los. Alle Ein- oder Zweijährigen lieferte er ans Messer. Das Wehklagen Rahels zerriss die Stille von Beth­lehem. Josef bat: “Verkürze die Zeit! Beende das Morden! Mach End, o Herr, mach Ende, mit aller unserer Not!”

So wie die Juden auch gebetet haben, als ihre Kinder aus dem Kinderhospital in Berlin abtransportiert wurden. “Die Babys”, so schreibt eine Augenzeugin, “die durchdringenden Schreie der Babys, die mitten in der Nacht aus ihren Betten geholt wurden, waren wohl das schlimmste. Der Jammer der Säuglinge schwoll an und war fast nicht mehr zu ertragen. Nur ein Name kam in den Sinn: Herodes.” Verkürze die Zeit!

So wie die Russen gebetet haben, als ihre Frischlinge im Archipel Gulag einfach beseitigt wurden, so wie sperriger Müll beseitigt wird. “Beende das Morden!”” So wie die Deutschen und Japaner auch gebetet haben, als in Dresden und Hiroshima die Kinder wie Fackeln brannten. “Mach End, o Herr, mach Ende!”

So wie wir heute auch beten, wenn jährlich weit über 300 000 ungeborene und unschuldige Kinder nicht zum Leben kommen dürfen: “Verkürze die Zeit! Beende das Morden! Mach End, o Herr, mach Ende!”

Und Gott sagt zu Josef: “Bleibe, bis ich dir’s sage”. Warte, bis ich es tue. Alles hat seine Zeit. Auch Herodes hat nur seine Zeit. Als das Morden am größten war, raffte ihn der Tod hinweg. Wie ein Spuk war die Szenerie verändert. “Der im Himmel wohnt, lacht ihrer”, heißt es im Psalm. Es geht immer nach Gottes Uhr. Sie ist nicht stehengeblieben. Sie ist nicht reparaturbedürftig. Sie geht nicht nach. Jede Schreckenszeit hat nur ihre Zeit. Einmal ist Schluss. Einmal wird Rahel nicht mehr weinen. Einmal sind sie gestorben, die dem Kind nach dem Leben trachten.

Und wenn Sie aus Ihrer Fremde ausbrechen wollen: “Bleibe, bis ich dir’s sage.” Und wenn Sie aus Ihrer Not fortgehen wollen: “Bleibe, bis ich dir’s sage.” Und wenn Sie aus Ägypten heimkehren wollen: “Bleibe, bis ich dir’s sage.” Denn: “Wenn die Stunden sich gefunden, bricht die Hilf mit Macht herein. Um dein Grämen zu beschämen, wird es unversehens sein.”

Der durch­kreuzte Zeitplan ist Gottes Kreuzplan. Den hat Weihnachten dem Josef gebracht.

3. Einen durchkreuzten Stadtplan

Denn Josef, der endlich nach erneuten Schwierigkeiten und auf besonderen Umwegen in Nazareth angekommen war, wollte auch dort bleiben. Endlich wieder ein Dach über dem Kopf, eine Frau am Herd, einen Sohn im Geschäft. Nazareth war sein Endpunkt. Nazareth war sein Zielpunkt. Nazareth war sein Fluchtpunkt. In der Stadt Nazareth sollte diese Familie für immer wurzeln. Aber Jesus war kein Nazarener, so wie wir Stuttgarter oder Cannstatter oder Esslinger sind. Er soll “Nazoräer” heißen, sagten die Propheten auf aramäisch, er soll “Spross” heißen. Also einer, der sprosst, der hinauswächst, der ins Weite schießt. Deshalb hielt es den Sprössling Jesus nicht im Zimmermannsgeschäft. Er wuchs hinaus aus der größer werdenden Handwerkerfamilie. Mit 30 Jahren suchte er das Weite, um nach dreijähriger Wanderschaft eine andere Stadt zu erreichen, nämlich Jerusalem. “Nicht Ägypten ist Fluchtpunkt der Flucht”, hat Kurt Marti gedichtet, “nicht Nazareth ist der Fluchtpunkt der Flucht. Das Kind wird gerettet für härtere Tage. Fluchtpunkt der Flucht ist das Kreuz.” Dort muss er hin. Dort wird es ihn statt der Kinder treffen. Dort hat er den Gottesplan zu erfüllen, der sein Leben zur Hingabe am Kreuz bestimmt hat. Jesus Christus ist nicht bewahrt worden vor dem Kreuz, sondern für das Kreuz, damit wir Bewahrung unterm Kreuz erfahren können.

Jesus Christus ist nicht bewahrt worden vor dem Kreuz, sondern für das Kreuz, damit wir Bewahrung unterm Kreuz erfahren können.

Sehet deshalb nicht die Schuld, die Euch anhängt. Sehet deshalb nicht die Not, die Euch nieder­drückt. Sehet deshalb nicht die Verzweiflung, die Euch den Atem nimmt. “Sehet die Liebe, die endlich als Liebe sich zeiget. Gott wird ein Kind, träget und hebet die Sünd, alles anbetet und schweiget.”

Der durchkreuzte Stadtplan ist Gottes Kreuzplan. Den hat Weihnachten dem Josef gebracht.

Liebe Gemeinde, noch einmal, damit wir es ganz begreifen und mitnehmen können: Was hat Weihnachten dem Josef gebracht? Weihnachten hat ihm das Kreuz gebracht. Das ist das Größte und Schönste und Beste, was einem Weihnachten bringen kann. Das Kreuz Christi bringt’s. Mehr als das brauchen wir nicht.

Amen


[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]