Einführung: Die Herausforderung der Jahreslosung
Ich möchte heute über die Jahreslosung predigen. Sie steht in Johannes 8,32: „Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch freimachen.“
Tatsächlich könnte ich mir aufregendere Parolen zum neuen Jahr vorstellen. Denken Sie nur: Wenn es hieße, der Ölboykott sei zu Ende und der Ölpreis sinke im Jahr 1974 wieder auf zwölf Pfennig, wäre das eine Nachricht, die Aufsehen erregen würde. Oder wenn ein Impfstoff gegen Krebs in diesem neuen Jahr entwickelt würde, dann würde man aufhorchen.
Auch wenn trotz 15 oder 20 Prozent Lohnsteigerungen keine Preissteigerung zu erwarten wäre – das wären aufregende Parolen. Wenn jemand uns versprechen könnte, dass es in diesem Jahr keinen verregneten Urlaub mehr geben wird, wären das Dinge, die uns beschäftigen.
Doch hier wird uns eine Jahreslosung gegeben: „Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch freimachen.“
Meine Prognose für 1974: Mein erster Punkt lautet, dass Wahrheit nicht attraktiv ist. Wahrheit ist nicht attraktiv.
Wahrheit ist nicht attraktiv
Von der Wahrheit spricht jedermann. Jeder behauptet, die Wahrheit sagen zu wollen und sie zu besitzen. In einem Sprichwort heißt es: Die Wahrheit wird viel gelobt, aber so selten geliebt. Man spricht über die Wahrheit, doch man findet sie nur selten.
Es gibt ganz andere Dinge, die uns attraktiv erscheinen – das ist doch klar. Zum Beispiel Ehre: Sie kann einem schmeicheln und wohlklingend sein. Die Wahrheit hingegen schmeichelt nie. Sie redet einem auch nicht einfach wohl. Deshalb ist sie nicht attraktiv.
Oder man sagt: Geld beruhigt. Natürlich beruhigt Geld, aber die Wahrheit beruhigt nie. Die Wahrheit kann furchtbar aufregen.
Menschen haben oft gar nicht den Anspruch, die letzte Wahrheit zu sagen. Hören Sie sich einmal unter Christen um: Wo finden Sie wirklich jemanden, der sagt, ich weiß, dass ich die allgemein gültige und verbindliche Wahrheit habe? Hören Sie sich um – wir alle haben uns schon daran gewöhnt, so zu sprechen: Wir wollen nur Fragen besprechen, wir wollen offen sein für die anderen, die mit ihren Fragen kommen, wir wollen mit euch reden, wir wollen uns gesprächsweise euren Fragen stellen.
Aber wo ist denn einer, der sagt: Hier ist der Punkt, hier kann man stehen, und hier gibt es nichts, was dem widersprechen kann? Das ist die Wahrheit, die verbindliche, die gültige, die letzte.
Das hat nur Jesus Christus gewagt – und deshalb war Jesus Christus auch so befeindet.
Jesus Christus als Verkörperung der Wahrheit
Jesus Christus ist die Wahrheit, und genau deshalb wurde er so stark angefeindet. Schon von den ersten Tagen an, als er auftrat, stellte er eine große Herausforderung für die Menschen seiner Zeit dar. Denn damals lebte jeder mit dem Bewusstsein, sein Leben sichern zu müssen. Man musste eine Wohnung erwerben, für Sicherheit im Beruf sorgen und ein Auskommen haben.
Jesus verzichtete auf all das. Er schenkte diesen Dingen keine Beachtung. Stattdessen legte er Wert auf nur eines: Er ging in die Wüste, blieb dort eine Nacht allein und betete. Jesus lebte diese eine Wahrheit – die Wahrheit, dass es nur eine wahre Geborgenheit gibt, und zwar beim lebendigen Gott.
Für die Menschen war das sehr ärgerlich. Sie sagten: „Wir sind doch auch fromm, wir beten doch auch, wir glauben doch auch, dass es einen Gott gibt.“ Doch durch das ganze Wirken Jesu wurde offenbar, was er immer wieder sagte: „Ihr seid von der Finsternis. Ihr seid ganz anders.“
Die Menschen standen daneben und merkten, dass die Frömmigkeit ihres Lebens nicht verdecken konnte, dass sie Menschen sind, die aus dem Dunkeln kommen. Sie waren weit entfernt von dem, was göttliches Leben bedeutet.
Die Konfrontation mit der Wahrheit am Kreuz
Es geht bis zu jener scheußlichen Nacht der Passionsnacht, als Jesus vor Pilatus steht. Man kann sich keine größere Darstellung Jesu, keine gemeinere Enthüllung unserer Welt vorstellen als das, was Jesus dort erdulden musste: Als ihm die Dornenkrone aufgesetzt wurde und ihm dieses Purpurgewand um die Schultern gelegt wurde. Plötzlich wird deutlich: Kein Titel dieser Welt, keine Krone, die jemand trägt, kein Präsidentenstuhl, der besetzt ist, kann sich mehr an seiner Größe erfreuen als seitdem Jesus die Hohlheit menschlicher Würde und Größe dargestellt hat – als er die Dornenkrone trug und Pilatus ihm gegenüberstand.
Ich kann mich auch für menschliche Diplomatie begeistern. Es ist etwas Schönes, wenn jemand sich überall durchlavieren kann, immer an der Spitze bleibt und sich in der Welt an der Macht behauptet. Doch Jesus steht Pilatus gegenüber und sagt: Ich bin ein König. Lächerlicher König bist du, wo hast du deine Macht? Wer steht denn hinter dir? Niemand steht hinter dir. Und Jesus lächelt ihn dennoch an.
Das ist die Wahrheit, die nicht attraktiv ist. Jesus stellt ohne große pathetische Reden dar, was in der Welt gültig ist: Ein Mensch, der von Gott bestätigt ist und im Namen Gottes auftreten kann. Das ist die Wahrheit. Demgegenüber ist alles, was in dieser Welt an Größe besteht, hohl, unwahr und gelogen.
Das ist an Jesus furchtbar deutlich geworden, ja sogar noch viel schlimmer: Man kann sich theologisch auf die Bibel berufen, wie es die Schriftgelehrten und Pharisäer tun, und doch, wenn dieses Leben nicht von Gott geheiligt ist, ist es eine Lüge von Anfang bis Ende. Man kann nicht nur sonntags, sondern den ganzen Tag in der Kirche oder im Tempel sitzen und doch ist alles nur Lüge.
Die Wahrheit ist nicht attraktiv – wer will das schon hören? Da stand Pilatus Jesus gegenüber, sah ihn an und sagte: Was ist Wahrheit? Und schon damals beherrschte er die Kunst, die wir heute so meisterhaft beherrschen: zu sagen, es sei relativ, es komme auf den Standpunkt an. Du redest so, der andere redet so. Es gibt solche Religionen, es gibt andere Religionen. Wenn ich predige, sagt sofort jemand: Du hast diese theologische Prägung, es gibt ja noch andere theologische Prägungen. Ich richte mich jetzt mal nach der anderen theologischen Prägung.
Nein, es geht nicht um theologische Prägung, es geht auch nicht um meine Person, sondern um den Anspruch Jesu Christi. Für uns Christen gibt es keinen verbindlicheren Anspruch als den einen: Er sagt, ich bin die Wahrheit. In jedem Christenleben muss es zu diesem Aufleuchten kommen, zu diesem einen Punkt, an dem Jesus Gültiges und Verbindliches setzt.
Damals hat man Jesus totgeschlagen. Und auch heute kann man Jesus mit seinem Anspruch, die Wahrheit zu sein, relativieren – in verschiedenen Theologien, in verschiedenen Meinungen, in verschiedenen Ansichten, die es gibt, in verschiedenen Konfessionen. Doch er lässt sich nicht darin binden. Die Wahrheit ist nicht attraktiv.
Die Wahrheit lässt sich finden
Aber wir kommen zum Zweiten: Die Wahrheit lässt sich finden.
Da war ein Mann, der mit dem gleichen Eifer diese Wahrheit, Jesus, von sich wies. Er sagte, er könne zwar die Lehre Jesu beurteilen, das sei ganz interessant. Aber den Anspruch Jesu, über sein Leben zu bestimmen, wies er von sich. Dann geschieht es, dass er plötzlich vom Pferd fällt – Saulus von Tarsus – und die Stimme Jesu hören muss. So erkennt er die Wahrheit, und die Wahrheit lässt sich finden.
Das wünschen wir uns ja: dass wir alle solch eine Erfahrung machen, wie Saulus sie hatte – ein Erlebnis. Wir wünschen das für unsere Kinder, dass sie das erkennen. Wir wünschen es für unsere Bekannten, dass sie so zur Erkenntnis des Glaubens kommen.
Jesus hat jedoch eine andere Weise gewählt, wenn er diese Prognose über das neue Jahr 1974 stellt: „Ihr werdet die Wahrheit erkennen.“ Wie geschieht das? Saulus war eine ganz besondere Ausnahme, wie er die Wahrheit erkennen konnte und durfte.
Es war eine andere Nachtstunde, als Jesus mit einem der Schriftgelehrten sprach. Dieser sagte zu Jesus: „Ich spüre, dass bei dir und in dir eine ganz große Wahrheit sich kundtut. Die Lehre, die du verkündigst, die ist von Gott. Du bist ein Lehrer, der von Gott gekommen ist.“
Können Sie sich etwas Größeres überhaupt vorstellen, als dass jemand schon so nahe am Christenglauben steht, dass er sagt: „Ich muss es zugeben, die Lehre Jesu ist wirklich von Gott, und da steckt Göttliches drin.“ Da würden wir einen Luftsprung machen und sagen: „Mann, du kannst nächsten Sonntag auf unserer Kanzel predigen, du bist schon ganz drin.“
Aber Jesus lehnt ab und sagt: „Du bist noch nicht drin, du hast die Wahrheit immer noch nicht erkannt. Aber eins muss geschehen: Du musst von Neuem geboren werden.“
Es liegt nicht daran, wie die Wahrheit dir gepredigt wird – ob sie noch ein bisschen süffiger gemacht wird oder ein bisschen netter serviert wird –, sondern ob du dich einmal von dieser Wahrheit in Frage stellen lässt.
Deshalb geht es, wenn wir von Wahrheit reden, nicht um theologische Leitsätze. Es geht auch nicht um Dogmen, bei denen die einen noch ein paar Sätze festhalten wollen, die andere schon aufgegeben haben. Es geht darum, dass in unseren Tagen der lebendige Herr Jesus Christus scheinheilig-fromme Menschen in Frage stellen will.
Und weil er das tun muss, so wie damals Menschen in Frage gestellt wurden, wurde auch Nikodemus, ein erkennender Mann, der ein edles Leben führte und uns haushoch überlegen war in seiner moralischen Qualität, angesprochen.
„Ich bin vor Gott einer, der sein Leben unheilig gelebt hat. Ich bin einer, der seine Existenz verfehlt hat. Ich bin ein sündiger Mensch.“
Er erlebt die eine Wahrheit des Gerichts Gottes und die andere Wahrheit: dass Jesus sein Leben neu machen will, dass er wiedergeboren wird, dass Jesus sich in seinem Leben verherrlicht und dass er ein angenommener Mensch wird.
Die Wahrheit lässt sich finden. Menschen werden neu durch den lebendigen Jesus Christus. Es geht nicht mehr um Sätze, sondern um das Sehen ins Angesicht Jesu.
Die Wahrheit lässt sich finden – welch eine Aussicht in dieses neue Jahr!
Die Wahrheit hat Folgen
Und noch ein letztes: Die Wahrheit hat Folgen.
Vor zwei Monaten habe ich genau über dieses Wort zu Ihnen gepredigt. Ich durfte Ihnen darlegen, was es bedeutet – aus der reformatorischen Wahrheitsperspektive, von der Erkenntnis und der Relativität, die Lessing aufstellt, wenn er sagt, die Wahrheit lasse sich nicht finden. Lassen Sie mich es hier ganz knapp sagen: Die Wahrheit hat Folgen, sagt Jesus.
Mir wurde das besonders bewusst, als wir gerade vor Weihnachten am Sterbebett von Fräulein Weidbrecht saßen. Ärzte und Krankenschwestern sagten, sie sei eine gläubige Christin, aber man dürfe nicht sagen, dass es zu Ende geht. Sie merkte es, weil wir mit ihr beteten und ihr Gottesworte sagten in ihrer großen Atemnot. Wir dachten, sie sei schon ganz weit weg, als sie plötzlich anfing zu beten und zu danken für ihr Leben – und das in einer so kindlichen, fröhlichen Weise. Sie sagte: „Wenn nun mein Leben abgeschlossen ist, Herr, dann darf ich es in deine Hand legen, und ich möchte nur danken für das, was du mir in diesem Leben gegeben hast.“
Dann verstehen Sie, dass die Wahrheit einen Menschen frei macht – eben von diesem verlogenen Festhalten an dieser vergänglichen Welt. Wo man sagt, man müsse auch noch in der Welt seine Sicherheit finden, man brauche eben auch noch dies und das. Nein! Dann kann ein Mensch solche Geborgenheit in Jesus haben, in der Wahrheit, weil er die Wahrheit erkannt hat.
„Wenn mir gleich Leib und Seele verschmachtet, so bist du doch Gott allezeit meines Herzens Trost und mein Teil.“
Es ist gegenwärtig sicher das Gericht Gottes über unsere europäische oder abendländische Christenheit, dass wir weitgehend Christen geworden sind, die das nicht mehr leben können, weil wir nicht in der Wahrheit stehen. Wir haben viel Wissen und viele Bücher, aber dieses einfältige Stehen vor dem lebendigen Christus haben wir nicht mehr.
Andere Menschen in großer Not sagen das, etwa gerade die afrikanischen Christen. So haben gerade die Christen aus Äthiopien in der Mekane Jesuskirche im vergangenen Jahr einen großen Vorwurf an uns gerichtet: „Ihr hört auf uns nur, wenn es um Sozialprojekte geht. Wenn wir euch aus Afrika um Traktoren und Maschinen bitten, hört ihr zu. Aber wenn wir euch um die Ausbildung unserer Evangelisten bitten, wenn wir euch um Hilfe bei der Pastorenausbildung bitten, dann sind plötzlich bei euch keine Mittel vorhanden. Ihr schätzt die Prioritäten falsch ein.“
Wenn Christen dort erleben, dass das Erste, was ein Mensch braucht, diese Geborgenheit in der Wahrheit ist, dann wird das deutlich. Natürlich geben wir Brot und medizinische Hilfe, aber wenn ich nicht in der Wahrheit stehe, wenn ich nicht geborgen bin, dann werde ich nicht frei. Dann kann ich nicht über der Welt stehen.
Wir können nicht alle Mängel der Welt abdecken, wir können nicht alle Not der Welt lindern. Und vor der Welt habt ihr Angst, aber seid mutig: „Ich habe die Welt überwunden“, sagt Christus. Das macht frei für einen Menschen, der ihn kennt und sich in ihm geborgen weiß.
Wenn unser afrikanischer Freund aus Nigeria, von dem ich gestern Abend erzählte und der so oft an unseren Gottesdiensten teilnimmt, uns schon so lange gebeten hat, seine Erweckung unter den Studenten dort etwas zu fördern – zum Beispiel mit Schreibmaschinen –, dann kamen wir nicht einmal dazu, diese einfachste Bitte zu erfüllen. Diese Menschen sagen: „Wir sind gepackt vom Evangelium, von Jesus, den wir erkennen.“
Dann ist es von uns nur ein lächerliches Theater, wenn wir sagen: „Aber die anderen Religionen haben doch auch noch Wahrheit.“ Nein, die letzte Wahrheit haben sie nicht. Beschäftigen Sie sich mit dem Buddhismus, beschäftigen Sie sich mit dem Hinduismus. Dort werden große Fragen angeschnitten, aber die letzte Geborgenheit des Menschen wird nicht gegeben.
Jesus will freie Menschen haben. Er will uns in dieses Jahr 1974 hineinsenden als solche, die sich frei schwimmen müssen von all den vielen Anforderungen, die auf uns zukommen. Wir können in diesem Jahr 1974 ertrinken – in unserem Beruf, in den vielen Wünschen, die man hat, und in dem, was man alles noch haben muss. Nicht nur vom Wohlstand her, sondern weil wir uns in unserer Zeit den Fragen der Zeit nicht verschließen können.
Es kommt auf eines an: Ob Sie den freien Blick auf Jesus Christus haben und wissen, dass er Sie angenommen hat. Es komme, was da kommen will – niemand kann Sie aus seiner Hand reißen. Er hat Ihre Schuld abgedeckt, sie ist vergeben in ihm. Und Sie wissen es in jeder Minute Ihres Lebens: Er ist bei mir.
Wenn Sie dann für ihn tätig sind, unabhängig davon, ob Sie Erfolg sehen oder nicht, ob Menschen Sie bestätigen oder nicht – was hat Jesus für Bestätigung von Menschen gehabt? Dass Sie Zeugen von ihm sind und frei, frei durch die Welt gehen.
„Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch freimachen!“ Welch eine Zusage! Amen!