Wachet
Wenn wir heute am Schluss des Kirchenjahres unser Sterberegister der Gemeinde aufschlagen, dann sind wir bedrängt. 21 Namen sind dort eingetragen worden in den vergangenen zwölf Monaten. Sie lauten: ... 21 mal Trauer, 21 mal Schmerz, 21 mal Heimweh. Man hat den Großvater nicht gerne hergegeben, obwohl er wegen seines schwachen Herzens und seiner schweren Füße wirklich lebensmüde geworden war. Man hat die Mutter nicht gerne ziehen lassen, obwohl sie seit der Operation Tag und Nacht von Schmerzen geplagt wurde. Man hat den Ehemann nicht mehr vergessen, obwohl ihm die Ruhe nach solchen Leidenstagen zu gönnen ist. Trauernde Menschen sind bedrängte Menschen, die wir an diesem Tag besonders grüßen und in unsere Mitte aufnehmen wollen.
Aber nicht nur sie, wir alle sind am Totensonntag in Bedrängnis. Jeder merkt, dass keiner am gesicherten Ufer steht, wenn der Strom des Todes unsere Nächsten und Liebsten von der Seite reißt. Das Ufer gibt nach. Der Boden fließt mit. Der Halt ist weg. Wir alle treiben dem Ende zu. Da mag man den Tod negieren wie Ludwig XIV., der die Vorhänge im Versailler Schloss zuziehen ließ, wenn eine Leichenkutsche passierte. Da mag man den Tod glorifizieren wie Dr. Switter, der in Dürrenmatts Meteor ausrief: "Ich bin berufen zum Sterben. Allein der Tod ist ewig. Das Leben ist eine Schindluderei sondersgleichen." Da mag man den Tod proklamieren wie Samuel Beckett, der sich zum Satz verstieg: "Das Nichts hat den höchsten Grad der Realität." Trotzdem gilt, was ich auf einem englischen Poster so las: "This day is the first day of the rest of your life." Dieser Tag ist der erste Tag vom Rest meines Lebens.
Unsere Tage sind also gezählt. Unsere Monate sind also gemessen. Unsere Jahre sind nur eine Galgenfrist. Jeder Name ist schon mit unsichtbarer Tinte ins Sterberegister eingetragen. Die Reihenfolge steht fest, nur kennen wir sie nicht. Deshalb fragen wir ängstlich: Wer wird der Nächste sein? Weichen wir nicht aus. Wer wird aus unserer Mitte gerissen? Hören wir nicht weg. Wer steht vor den Toren der Ewigkeit? Wer? Sie oder ich? Jeder Optimismus ist grundlos. Jeder Realismus ist aussichtslos. Jede Lage ist hoffnungslos. Die Welt ist ein einziger Friedhof, der schlussendlich auch unsere Grabstätte ausweist. Können wir deshalb noch etwas anderes erwarten als unseren todsicheren Tod?
An dieser Stelle meldet sich der Apostel, nicht lautstark, nicht vollmundig, nicht phrasenhaft, sondern im Gespräch mit seiner angefochtenen Gemeinde, argumentierend, unterstreichend, tröstend. Paulus sagt: Christen haben in der Tat eine andere Erwartung. Sie warten nicht auf ihren letzten Tag, sondern auf des Herrn Tag. Christen warten nicht auf ihre letzte Stunde, sondern auf des Herrn Stunde. Christen warten nicht auf ihre letzte Welt, sondern auf des Herrn Welt. Wir sind eingeladen, in dieses Gespräch hineinzuhorchen.
1. Christen warten nicht auf ihren letzten Tag, sondern auf des Herrn Tag
Gott hat nämlich einen eigenen Kalender. Wir haben einen Taschenkalender mit 12 Seiten, in den wir unsere Termine eintragen. Jeden Monat hangeln wir durch unsere Verpflichtungen. Und wenn wir den Dezember glücklich erreicht haben, dann kaufen wir eben ein neues Büchlein. Oder wir haben einen Wandkalender mit 52 Bildern, der in unserem Wohnzimmer hängt. Jede Woche lassen wir uns von einem andern Motiv überraschen. Und wenn nur noch das Jahresschlussbild übriggeblieben ist, dann besorgen wir uns eben einen neuen. Oder wir haben einen Abreißkalender mit 365 Wortauslegungen. Jeden Tag halten wir damit unsere Andacht. Und wenn der 31.12. abgerissen ist, dann lassen wir uns eben einen neuen schenken. Alle Kalender weisen Sonntage und Werktage aus, Arbeitstage und Urlaubstage, Sonntage und Regentage, Freudentage und Trauertage, helle Tage und schwarze Tage, aber keinen letzten Tag.
"Den gibt’s gar nicht", sagten die Spötter damals und riefen: "Wo bleibt die Verheißung seines Kommens? Denn nachdem die Väter entschlafen sind, bleibt es alles, wie es von Anfang der Schöpfung gewesen ist." "Den gibt's gar nicht", sagen die Spötter heute und trällern: "Eines Tages, und das hat wohl ein jeder gehört, der in ärmlicher Wiege lag, kommt des armen Weibs Sohn, auf 'nen goldenen Thron. Und der Tag heißt Sankt Nimmerleinstag. Und weil wir gar nicht mehr warten können heißt es, alles dies sei nicht erst auf die Nacht, um halb acht oder acht, sondern schon bei Hahnenschrei, am Sankt Nimmerleinstag." "Den gibt’s gar nicht" werden die Spötter morgen sagen und sich in der Illusion wiegen, als ob die Welt ein perpetuum mobile sei, die sich nach der Drehorgelmelodie "Auf jeden Dezember folgt wieder ein Mai" ewig im Kreise drehen werde.
Aber Gott hat einen eigenen Kalender. Vom ersten Blatt wissen wir, das Gott mit der Schöpfung aufgeschlagen hat. Wüst und leer war es, als er zu wirken begann. Dann kamen viele weitere Blätter, die wir Menschen mit unserem Blut besudelt haben. Aber im Jahr Null schlug er mit Jesus Christus ein ganz neues Blatt auf in der Heilsgeschichte. Der eine Tag, an dem Jesus am Kreuz hing, überragt in Gottes Augen alle andern Tage. Und einmal wird er das letzte Blatt aufschlagen. Wieviele Blätter es noch bis dahin sind, weiß niemand, denn ein Tag des Herrn ist wie 1000 Jahre und 1000 Jahre wie ein Tag. Das heißt, dass wir seit Jesu Geburt erst zwei Blätter weiter sind. Die Länge der Zeit ist keine Widerlegung der Wahrheit. Gott hat nichts vertagt oder ad acta gelegt. Unser alle Tage münden ein in des Herrn Tag, an dem er kommen wird. Noch gilt der mächtige Satz, den Luther beim Marburger Religionsgespräoh dem Zwingli entgegengeschleudert hat: "Major est verbi divini autoritas quam nostra capacitas." Die Autorität des göttlichen Wortes ist größer als unsere Kapazität, als unser Fassungsvermögen. Wir werden Christus begegnen. Wir werden ihm unsere Fragen und Zweifel hinlegen. Wir werden bei ihm unsere Widerstände und Anfechtungen ablegen. Wir werden befreit von Schmerz und Leid bei ihm sein alle Zeit. Wir warten auf des Herrn Tag.
2. Christen warten nicht auf ihre letzte Stunde, sondern auf des Herrn Stunde
Gott hat nämlich eine eigene Uhr. Wir haben eine Armbanduhr mit Schweizer Uhrwerk, die uns Zeit und Datum angibt. Schon der Vater hat sie getragen. Und wenn sie stehenbleibt, dann ziehen wir sie wieder auf. Oder wir haben eine Wanduhr mit Quarzwerk, die auf die Sekunde genau läuft. Jeder weiß, welche Stunde es geschlagen hat. Und wenn sie falliert, dann wechseln wir die Batterie aus. Oder wir haben eine Radiouhr mit Leuchtziffern, die uns pünktlich aus dem Bett wirft. Das Wecken ist kein Problem mehr. Und wenn sie keinen Ton mehr macht, dann muss nur wieder der Stecker in die Wand. Alle Uhren zeigen viertel und halbe Stunden, dreiviertel und ganze Stunden, Morgenstunden und Abendstunden, Tagstunden und Nachtstunden, aber keine letzte Stunde. Unsere Uhren gehen immer im Kreis.
Aber Gott hat eine eigene Uhr. Sie hat am ersten Schöpfungstag zu laufen begonnen. Zwölf Uhr mittags war es, als Jesus Christus in der Wiege lag. Um 15 Uhr schrie der Sohn Gottes am Kreuz: Es ist vollbracht. Jetzt läuft der Zeiger auf Mitternacht zu. Wenn diese Stunde noch nicht erreicht ist, so nicht deshalb, weil vielleicht der Strom ausgefallen oder die Batterie alle ist. Gottes Uhr ist nie reparaturbedürftig. Wir warten noch auf des Herrn Stunde, weil er uns noch stundet. Jesu ausbleibende Wiederkunft ist keine Saumseligkeit, sondern seine Barmherzigkeit. Gott hat Geduld mit uns. Er will, dass keiner vorschnell abgeschrieben werde. Er will, dass keiner verlorengehe. Er will, dass alle umkehren, bevor es zu spät ist. Unser Gott arbeitet mit der Geduld. Er verliert nicht gleich die Nerven. Er hat eine Lust an der Vollständigkeit. Hätte er vor 500 Jahren die letzte Stunde eingeläutet, wäre Martin Luther nicht dabei. Hätte er vor 500 Jahren den Vorhang heruntergelassen, dann hätte es Johann Sebastian Bach gekostet. Hätte er vor 100 Jahren Schluss gemacht, wäre sein Volk ohne Dietrich Bonhoeffer. Hätte er vor 50 Jahren das Uhrwerk angehalten, dann wäre die Chance an mir vorbeigezogen. Und käme er heute, wären Sie dabei?
Der badische Erweckungsprediger Aloys Henhöfer hat es im letzten Jahrhundert seiner Gemeinde mit einem schlichten Bild verdeutlicht. Auf dem Marktplatz steht die Postkutsche, zur Abfahrt bereit. Aber der Kutscher geht noch um die Pferde, schaut die Geschirre an und blickt immer wieder die Straße hinunter. Dann geht er noch einmal um den Wagen, schaut nach den Bremsen und blickt wieder die Straße hinunter. Warum fährt er nicht ab? Plötzlich kommt einer mit eiligen Schritten, auf den er noch gewartet hat. Der Schlag fällt ins Schloss. Die Peitsche knallt. Die Fahrt beginnt.
Es ist nicht ewig möglich, einzusteigen. Gottes Geduld hat ein Ende. "Zwölf, das ist das Ziel der Zelt, Mensch bedenk die Ewigkeit!" Wir warten auf des Herrn Stunde.
3. Christen warten nicht auf ihre letzte Welt, sondern auf des Herrn Welt
Gott hat nämlich ein eigenes Buch. Wir haben ein Philosophiebuch, das uns Theorien vermittelt. Eine stammt von Laplace, der im Gegensatz von Galilei behauptete: "Die Natur ist mit sich allein." Der Schöpfer hat keinerlei Einfluss auf den Gang der Dinge. Oder wir haben ein Physikbuch, das uns Formeln präsentiert. Eine spricht von der Erhaltung der Materie und der Energie. Eine Veränderung dieses Gesetzes sei ausgeschlossen.
Aber Gott hat ein eigenes Buch, und darin heißt es: "Die Himmel werden vergehen mit großem Krachen, die Elemente vor Hitze verschmelzen und die Erde und die Werke verbrennen." Diese Welt vergeht, nicht durch einen atomaren Erstschlag, nicht durch einen klimatischen Hitzetod, nicht durch ein Zusammenrauschen mit schweifenden Kometen, sondern allein durch Gottes Wort. Der, der den Anfang gemacht hat, macht auch das Ende. Der Herr über Materie und Energie schafft aus einer vergehenden Welt einen neuen Himmel und eine neue Erde, in der Gerechtigkeit wohnt. Also die ungerechten Regime werden nicht mehr sein. Die ungerechten Kriege werden nicht mehr sein. Die ungerechten Lasten werden nicht mehr sein. Sogar die Ungerechtigkeit in Person, der Teufel mitsamt Sünde und Tod, wird nicht mehr sein. Doch, eine Erde wird sein ohne Leichenfelder, eine Stadt ohne Friedhöfe, eine Familie ohne Gräber. Siehe, ich mache alles, alles, alles neu. Kierkegaard hatte christliche Hoffnung zutiefst verstanden, wenn er auf seinen Grabstein meißeln ließ: "Noch eine kleine Zeit, dann ist’s gewonnen, dann ist der ganze Streit in Nichts zerronnen. Dann werd ich laben mich an Lebensbächen und ewig, ewiglich mit Jesus sprechen."
Warum verschreiben wir uns an das Alltägliche? Warum verketten wir uns mit der Trauer? Warum halten wir uns an jedem Plunder fest? Der Apostel mahnt: "Wachet und eilet", so wie die Kinder auf Weihnachten, die jetzt schon Wunschzettel schreiben. "Wachet und eilet", so wie die Verlobten auf die Ehe, die jetzt schon die Wohnung einrichten. "Wachet und eilet", so wie die Eheleute auf ihr Kind, die jetzt schon die Wiege in die Stube stellen. "Wachet und eilet", freudig, lebendig, gespannt.
Liebe Freunde, vielleicht gehen Sie heute auf den Friedhof. Sie besuchen das Grab, an dem Sie schon viel gestanden sind. Jedesmal wird Ihnen das Herz schwer. Aber denken Sie diesmal nicht zurück an die schönen Tage, die man früher erlebte, nicht an die frohen Stunden, die einem geschenkt waren, nicht an die ganze Welt, die man an dieser Stelle mitbegraben hat. Denken Sie heute vorwärts an des Herrn Tag, an des Herrn Stunde und an des Herrn Welt und dann beten Sie: "Dein Reich komme. Dein Friede komme. Dein Trost komme. Komm, ja komm, Herr Jesu!"
Amen
[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]