Einführung in das Leben und Wirken von August Hermann Francke
Ja, es gibt wahrscheinlich einige von Ihnen, die ab und zu gerne Biografien lesen oder sich anhören. Heute geht es um das Anhören, und ich möchte Ihnen gerne August Hermann Francke vorstellen. Er ist eine wirklich sehr spannende und herausfordernde Person, muss ich sagen. Deshalb hat es mir große Freude gemacht, mich intensiver mit ihm auseinanderzusetzen.
In den letzten Jahren, oder besser gesagt Jahrzehnten, ist allerdings keine richtige Biografie von ihm erschienen. Die letzte große Biografie kennen vielleicht auch einige von Ihnen. Sie wurde von Erich Bayreuther geschrieben. Das war Ende der 1950er Jahre, also vor über 50 Jahren. Sie wurde einige Male aufgelegt. Dazwischen gab es nur ein paar kleinere Lebensbilder.
Dabei muss man sagen: August Hermann Francke war eine der einflussreichsten und bedeutendsten Personen des Pietismus. Er war wirkungsvoll in ganz Europa. Das möchte ich gleich zu Beginn betonen, um seine Bedeutung hervorzuheben.
Vielleicht kann ich hier eine Frage stellen: Gibt es einige von Ihnen, die Georg Müller, den Waisenhausvater von Bristol, kennen oder schon einmal von ihm gehört haben? Gibt es da ein paar Leute? Ja? Dann wäre meine Frage: Wussten Sie, dass Georg Müller die Waisenhäuser in Bristol nach dem Vorbild von August Hermann Francke gebaut und gegründet hat? Sie müssen jetzt nicht antworten, aber es ist so. Georg Müller war eigentlich Deutscher, kam aus Deutschland und hatte die Ideen von August Hermann Francke mitgenommen.
Man kann sich fragen, warum Georg Müller so bekannt ist. Das liegt daran, dass es gute Biografien über ihn gibt, die wir Christen gerne lesen, weil sie sein Leben sehr nahebringen. Wenn Sie also Georg Müller vor Augen haben, wissen Sie schon einiges über August Hermann Francke, der sein geistiger Vater war und ihn inspiriert hat.
Oder kennen Sie Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf? Sie müssen sich jetzt nicht melden, aber ich gehe davon aus, dass einige von Ihnen ihn kennen. Es gibt viele Christen, die die Losungen lesen. Das ist wahrscheinlich eines der erfolgreichsten Andachtsbücher überhaupt, das schon seit vielen Jahrhunderten erscheint.
Wussten Sie, dass Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf bei August Hermann Francke die Schulbank gedrückt hat und eigentlich sein Mitarbeiter werden wollte? Das möchte ich Ihnen nur sagen. Es gibt zahlreiche Verbindungen von August Hermann Francke, die vielen Menschen, auch Christen, nicht bekannt sind. Das liegt einfach daran, dass sein Name oder die Person ein wenig in Vergessenheit geraten ist, was sehr schade ist.
Mit meiner Biografie möchte ich dazu beitragen, dass Christen ermutigt werden und neue Perspektiven gewinnen. Nicht nur heute Abend, sondern auch durch das Buch, das in diesem Sommer erscheinen wird. Es soll zeigen, dass es Christen gibt, die auf außergewöhnliche Weise von Gott gebraucht wurden.
Die Anfänge in Halle und die Bedeutung der frankischen Anstalten
Das hier war August Hermann Francke in Deutschland. Ich habe im Frühjahr eine Exkursion mit Lehrern verschiedener christlicher Schulen nach Halle an der Saale in Ostdeutschland gemacht. Dort befinden sich die Franckeschen Stiftungen. Diese wurden inzwischen renoviert. Allerdings hat das heute wenig mit dem Glauben zu tun, denn es sind ja auch schon mehrere hundert Jahre vergangen, seit August Hermann Francke gelebt hat. Dennoch gibt es die Stiftungen noch, und es lohnt sich auf jeden Fall, sie zu besichtigen. Dort gibt es ein ausführliches Museum, und die Anlage ist riesig.
Es war eben nicht einfach nur eine Schule, die Francke gegründet hat, sondern viel, viel mehr. Bekannt ist er heute vor allem als Schulgründer. Je nachdem, woher man kommt, gibt es heute August-Hermann-Francke-Schulen. Das sind häufig christliche Bekenntnisschulen, die sich nach ihm benennen. Zu Recht, denn er war einer der einflussreichsten und wichtigsten Pädagogen, die Deutschland in der Vergangenheit hatte.
Francke war aber so christlich geprägt, dass er heute in pädagogischen Vorlesungen oft eher schamhaft beiseitegelassen wird. Er ging davon aus, dass das Ziel der Erziehung nicht der autonome und selbständige Mensch sei. Ziel sei vielmehr der Mensch, der sich Gott unterordnet und Gottes Autorität akzeptiert. Das wird heute natürlich kaum noch gern gesehen. „Nein, das kann doch gar nicht sein, es muss emanzipatorisch sein, der Mensch muss im Mittelpunkt stehen“, hört man oft.
Doch auch bei Francke und seiner Pädagogik sollte Gott im Mittelpunkt stehen. Das Kind sollte lernen, Autorität zu akzeptieren – und zwar zuerst die Autorität Gottes. Das wollte er auch durch die Lehrer vorleben. Ich werde noch darauf zu sprechen kommen. Diese erste Einführung soll nur dazu dienen, Ihnen den Mund wässrig zu machen und Ihre Neugier zu wecken, damit Sie später dabei sind. Ja, jetzt erzähl doch endlich! Sag doch endlich etwas über August Hermann Francke!
Ich hoffe, das ist zumindest ein Stück weit gelungen.
Herkunft und frühe Lebensumstände
Die Vorfahren von August Hermann Francke stammten aus Thüringen. Sein Großvater kam von dort und zog als Bäcker nach Lübeck. Der Vater von August Hermann Francke, also der Sohn dieses Bäckers, war Jurist. Er war an den Verhandlungen am Ende des Dreißigjährigen Krieges beteiligt.
Den Dreißigjährigen Krieg habe ich bereits erwähnt. Wir befinden uns nun etwa in der Zeit, als Isaac Newton in England lebte. In Deutschland war der Dreißigjährige Krieg vorbei. Der Vater von August Hermann Francke, damals Syndikus genannt – eine bestimmte Art von Rechtsanwalt – war an den Verhandlungen des sogenannten Westfälischen Friedens beteiligt. Diese Verhandlungen fanden in den großen freien Handelsstädten im Norden statt.
August Hermann Francke wuchs also in einer wohlhabenden Familie in Lübeck auf, die zu den vornehmeren der Stadt gehörte. Seine Mutter stammte aus der Familie Gloxin, deren Vater Bürgermeister von Lübeck war. Bürgermeister zu sein bedeutete damals schon Ansehen und Reichtum.
Somit entstammte Francke einer vornehm reichen Familie. Sein Vater wurde als bekannter Rechtsanwalt an den Hof des Königs beziehungsweise Fürsten von Gotha berufen.
An dieser Stelle gab es einen Einschnitt in der Familiengeschichte. August Hermann Francke wurde 1663 geboren. Sein Vater starb plötzlich in Gotha, was zu einer prekären finanziellen Situation führte.
August Hermann war es gewohnt, einen Hauslehrer zu haben. Kinder gingen damals nicht in die öffentliche Schule, die man sowieso bezahlen musste. Wenn genug Geld vorhanden war, stellte man einen Lehrer nur für die eigenen Kinder an. Nach dem Tod des Vaters konnte sich die Familie dies nicht mehr leisten.
Die Familie musste sich einschränken, wobei „Einschränkung“ immer noch bedeutete, relativ gut zu leben. Sie stellten gemeinsam mit zwei oder drei anderen Familien einen Lehrer an, der dann auch August Hermann Francke unterrichtete.
Er war sehr lernbegierig. Die Eltern waren zudem eher fromm. Übrigens war auch der Herzog von Gotha fromm und hatte sich später dem sogenannten Pietismus angeschlossen.
Pietismus als geistlicher Hintergrund
Der Begriff Pietismus wird im Folgenden noch mehrfach auftauchen, da August Hermann Francke einer der drei großen Väter des Pietismus war. Pietismus bezeichnet die Erweckungsbewegung innerhalb der deutschen evangelischen Kirche im 17. Jahrhundert, etwa von 1650 bis 1750.
In diesem Zeitraum gab es zwei bis vier Generationen, die stark vom Pietismus geprägt wurden. Die Reformation begann um 1500, genauer gesagt im Jahr 1517, das als Datum der Reformation gilt. Danach entwickelte sich eine Verschulung der Theologie, die man Orthodoxie nennt. Damit ist hier nicht die orthodoxe Kirche des Ostens gemeint, sondern die lutherische Orthodoxie. Man unterscheidet zwischen lutherischer Orthodoxie und reformierter Orthodoxie.
In dieser Zeit wurden viele Lehren intensiv durchdacht, doch die Frömmigkeit blieb eher formal. Es kam nicht mehr darauf an, ob man als Christ richtig lebt, sondern ob man das richtige Glaubensbekenntnis hat und auf jede Frage die richtige Antwort geben kann. Wenn dies der Fall war, galt alles als in Ordnung.
Mit der Zeit wuchs jedoch die Unzufriedenheit. Durch den Dreißigjährigen Krieg in Deutschland wurde das Land auch religiös ausgeblutet. Die Menschen wollten von Religion nichts mehr wissen. Wer vorher noch an Glaubensfragen interessiert war, dem wurde danach alles egal. Ob ein Katholik oder ein Protestant jemanden tötete, spielte letztlich keine Rolle mehr.
Die Landsknechte wechselten während des Krieges häufig die Konfession, je nachdem, für wen sie gerade plünderten. Heute plünderten sie für die Katholiken, morgen für die Protestanten. Nach dreißig Jahren Krieg wollte niemand mehr etwas mit Religion zu tun haben.
Deshalb kam es zu einem moralischen Verfall. Die Menschen gingen nicht mehr in die Kirche und wollten nichts mehr von Religion wissen. Manchmal denkt man, eine solche Verrohung der Bevölkerung sei nur ein Phänomen der Gegenwart. Doch auch damals gab es eine solche Zeit.
In diese Zeit wurde August Hermann Francke geboren. Gleichzeitig entstand die Aufbruchbewegung des Pietismus in der evangelischen Kirche. Diese Bewegung führte etwa hundert Jahre später zu einer Krise. Mitte des 19. Jahrhunderts kam es in vielen Teilen Deutschlands zu einer Erweckungsbewegung, die an den Pietismus anknüpfte.
In dieser Erweckungsbewegung entstanden zahlreiche Werke, die wir heute kennen. Es bildeten sich auch viele Gemeindeverbände. Die heutigen Freikirchen in Deutschland gehen auf diese Erweckungszeit zurück und damit letztlich auf den Pietismus.
Auch landeskirchliche Gemeinschaften führen ihre Entstehung unmittelbar auf die Erweckung und den Pietismus zurück. So ist etwa die Frömmigkeit in der württembergischen Landeskirche oder Teilen der sächsischen und nordhessischen Landeskirche mit dem Pietismus verbunden.
In Baden-Württemberg, falls jemand aus Württemberg stammt, hängt dies mit den großen Pietisten Bengel und Oettinger zusammen. Sie waren die bedeutenden Pietisten ihrer Zeit. Später gab es im 19. Jahrhundert Erweckungsprediger, die an diese Tradition anknüpften und heute noch in Erinnerung sind. Der Anfang dieser Bewegung liegt jedoch im Pietismus.
Akademische Laufbahn und persönliche Glaubenskrise
August Hermann Franke wächst in Gotha auf. Er wurde in Lübeck geboren, zog aber mit seinen Eltern nach Gotha, wo er die Schule besucht. Schon bald geht er an die Universität, zunächst nach Leipzig. Leipzig war damals eine bekannte und berühmte Universität. Franke hat das Ziel, seine intellektuellen Begabungen weiterzuentwickeln.
In seiner späteren Lebensgeschichte, die er selbst verfasst, beschreibt er, dass sein Ziel war, ein großer und berühmter Professor zu werden. Er wollte also eine akademische Karriere machen. Er war durchaus fromm, las fromme Erbauungsbücher, betete und lebte seinen Glauben. Hätte man ihn damals gefragt, hätte er sich als Christ verstanden.
Sein Lebensziel war jedoch, ein großer und berühmter Professor zu werden. Er war dazu auch begabt. Das Studium absolvierte er mit Leichtigkeit. Zudem erhielt er ein Familienstipendium von der Familie Gloxin. Diese Familie hatte viel Geld und vergab Stipendien an strebsame junge Familienmitglieder. Man könnte dies mit dem heutigen BAföG vergleichen, allerdings erhielten nur ausgewählte Familienmitglieder diese Unterstützung.
Ein Onkel aus der Familie durfte mitbestimmen, welche Ausbildung Franke machen sollte. Er bestimmte ihn für die theologische Laufbahn. Theologie war damals durchaus eine Möglichkeit, Karriere zu machen. Franke durchlief das gesamte theologische Studium und erzielte Bestleistungen. Besonders zeichnete er sich in den Sprachen aus: Er konnte fließend Griechisch, Hebräisch, Aramäisch und einige weitere Sprachen. Latein beherrschte er selbstverständlich, da dies damals üblich war. Nebenbei eignete er sich auch noch Französisch und Englisch an. Man kann sagen, er war wirklich talentiert.
Am Ende des Studiums sagte ihm sein Onkel, dass er nun auch praktische Erfahrungen in einer Gemeinde sammeln müsse. So kam er zu einem entfernten Verwandten, Pastor Sandhagen, der in Lüneburg Pfarrer war. Dort sollte Franke Praxiserfahrung sammeln und eine Predigt vorbereiten.
In dieser Predigt ging es um eine Stelle Jesu aus dem Johannesevangelium, die den wahren Glauben thematisierte: Wer hat den wahren Glauben und wer nicht? Während der Vorbereitung wurde Franke plötzlich bewusst, dass er selbst diesen festen, wahren Glauben gar nicht besaß. Eine Welle des Zweifelns überkam ihn.
Er berichtet später, dass er zuerst daran zweifelte, ob die Bibel überhaupt wahr sei. Dann fragte er sich, woher er sicher sein könne. Vielleicht sei ja auch der Koran wahr oder eine andere religiöse Überlieferung. Am Ende seiner Zweifel stellte er sogar die Existenz Gottes infrage. Er war sich nicht einmal sicher, ob es überhaupt einen Gott gibt.
Diese Krise war so tiefgreifend, dass er überlegte, sein Studium und das Praktikum in der Kirche aufzugeben. Die Predigt wollte er gar nicht mehr halten. Diese Phase zog sich über mehrere Tage hin. Die Menschen in seiner Umgebung bemerkten wenig davon, doch er selbst konnte nachts kaum schlafen und grübelte intensiv.
Er sagt, dass ihm in diesem ganzen Grübeln nur noch eines einfiel: zu beten. Er betete zu dem Gott, an den er selbst nicht mehr glaubte. In diesem Moment beschreibt er ein Erlebnis, das er mit dem schnellen Umdrehen einer Hand vergleicht. Nach tagelangem Ringen mit dem Zweifel ergriff ihn plötzlich eine tiefe Gewissheit.
Er war sich sicher, dass das, was in der Bibel steht, wahr ist. Er spürte, dass Gott ihn liebt und ihm Vergebung seiner Schuld schenkt. Für ihn war dies der Moment seiner Bekehrung.
Dabei handelte es sich nicht um eine moralische Wende. Franke war vorher schon moralisch und fromm gewesen. Er arbeitete fleißig, glaubte an Gott, besuchte Gottesdienste und lebte ehrlich. Das lockere Studentenleben lehnte er ab und lebte ernsthaft. Doch eine enge, persönliche Beziehung zu Gott hatte er erst in diesem Ringen um den Bibeltext erfahren.
Nach dieser Erfahrung konnte er mit offenem Herzen auf die Kanzel treten. Er bekannte freimütig und mit voller Überzeugung Jesus Christus und setzte sich für den Glauben ein.
Daraufhin veränderte sich auch sein Studium vollkommen. Er kehrte zurück nach Leipzig. Dort hatte er bereits mit einigen strebsamen Studenten einen Bibelkreis gegründet, das sogenannte Kollegium philo biblicum – zu Deutsch: die Gruppe derer, die die Bibel lieben.
Dieser Kreis war jedoch eher akademisch ausgerichtet. Nur Theologiestudenten hatten Zugang. Man las und deutete zunächst einen Text aus dem Alten Testament auf Hebräisch, dann einen Text aus dem Neuen Testament auf Griechisch. Es ging vor allem um die Vertiefung der Sprach- und theologischen Kenntnisse. Der Kreis war nicht für die breite Bevölkerung gedacht.
Nach seiner Rückkehr baute Franke das Kollegium philo biblicum um. Es wurde zu einer Art frommen Bibelkreis und nannte sich nun Collegia Pietatis. „Pietatis“ stammt vom lateinischen „Pietismus“ und bedeutet Frömmigkeit.
Dieser neue Kreis war eine Gruppe der Frömmigkeit. Es ging nicht mehr um akademisches Wissen, sondern um das Leben im Glauben.
Konflikte an der Universität Leipzig und Umzug nach Erfurt
Und schon bald darauf macht er seinen Abschluss an der Universität. Heute würden wir sagen, er promoviert. Er erhält auch das Recht, Vorlesungen an der Universität in Leipzig zu halten. Das tut er und hält fromme Vorlesungen, bei denen die Studenten merken, dass es auch ihr eigenes Leben betrifft. Es ist nicht nur akademisches Wissen, sondern etwas, das sie persönlich angeht.
Es entsteht eine Unruhe in Leipzig. Diese Veranstaltungen werden nicht mehr nur von Studenten besucht, sondern auch von Handwerkern und Hausfrauen – also sogar von Frauen, was damals völlig unvorstellbar war. Sie kommen zu den Veranstaltungen. Natürlich wird der Widerstand laut: Was macht er da? Er bringt Unruhe in die Gemeinden.
Tatsächlich ist es dadurch etwas unruhig geworden, und manche Professoren sind neidisch auf ihn. Ich habe heute Nachmittag schon erwähnt, dass die Professoren zum größten Teil von den Kollegiengeldern lebten. Diese Gelder bekam man nur, wenn ein Student zum Kolleg des Professors kam. Nun konnten die Studenten aber selbst auswählen, wo sie die Vorlesungen hören wollten. Bei August Hermann Francke war das Zimmer voll. Natürlich kam dadurch auch das Geld. Francke selbst ging es nicht um das Geld, aber die anderen Professoren sahen ihre Einnahmen schwinden.
So richtete man eine Untersuchungskommission ein, um festzustellen, ob er zweifelhafte Glaubenslehren vertritt. Hier gilt: Wer sucht, der findet. Man fand schließlich etwas, womit man ihm etwas anhängen konnte, und verbot ihm, weitere Vorlesungen zu halten. Er verteidigte sich, doch manches lief unrechtmäßig ab. Er bekam nicht einmal die Möglichkeit zur Stellungnahme. Vielen seiner Studenten war klar, dass es nur darum ging, einen unliebsamen Konkurrenten loszuwerden.
Schließlich verwies man ihn aus der Stadt. Das war eine tragische Sache, denn die Karriere, die so gut angelaufen war, schien damit im Sand zu verlaufen.
August Hermann Francke hatte zu diesem Zeitpunkt auch Kontakt zu Philipp Jakobs Behner, einem bekannten Theologen der damaligen Zeit. Behner war Propst in Berlin und stand in engem Kontakt zum Kurfürsten. Er gehörte ebenfalls der pietistischen Richtung an. Behner war einige Jahre älter, war vorher Pfarrer in Frankfurt und Dresden gewesen und hatte zu dieser Zeit eine einflussreiche Stellung in Berlin.
Die beiden hatten Kontakt, Behner besuchte Francke und ermutigte ihn, seinen Weg weiterzugehen. So kam es, dass Francke nach Erfurt ging. Erfurt war damals ebenfalls eine relativ bekannte Universität. Dort erhielt er ein Pfarramt und gleichzeitig das Recht, Vorlesungen an der Universität zu halten.
Bereits am ersten Tag hielt er dort etwas, was wir heute als Predigtnachbesprechungen bezeichnen würden. Nach der Predigt lud er die Gemeindemitglieder ins Pfarrhaus ein, um über die Predigt zu sprechen und sie zu vertiefen. Auch das wurde von anderen Pfarrern kritisch beobachtet: Was will er hier Neues einführen?
Mit der Zeit kamen immer mehr Gemeindeglieder aus den Nachbargemeinden zu den Gottesdiensten bei August Hermann Francke. Das löste Neid bei den anderen Pfarrern aus. Sie beharrten darauf, dass es Pfarrgrenzen gebe. In der evangelischen Kirche war es üblich, dass man zu der Gemeinde geht, in deren Gebiet man wohnt. Nun wollten sie ihm verbieten, Gemeindeglieder aus anderen Gemeinden zu seinen Gottesdiensten aufzunehmen.
Man versuchte sogar, ihm zu verbieten, Bibelarbeiten bei Handwerkern aus anderen Gemeinden abzuhalten. Diese hatten ihn persönlich eingeladen und er hielt dort Bibelarbeiten. Auch das wollte man ihm untersagen, weil er in fremde Gemeinden eingreife.
Es gab außerdem eine Mädchenschule, deren Schülerinnen Francke ebenfalls einluden, Bibelarbeiten zu halten. Als ich das gelesen habe, dachte ich mir, so etwas würde ich mir heute auch wünschen: eine ganz normale weltliche Schule, deren Schülerinnen zum Pfarrer gehen und sagen: Bitte, halt uns Bibelarbeiten! Offenbar gab es das damals wirklich. Francke hatte eine Art, die Kinder anzusprechen. Er ging hin und hielt Bibelarbeiten.
Das Ganze bauschte sich auf. Einige kritische Pfarrer schrieben nach Leipzig und berichteten negativ über August Hermann Francke. Sie sagten, er habe bei ihnen alles durcheinandergebracht und Unfrieden gestiftet. Daraufhin musste er innerhalb von 48 Stunden die Stadt verlassen. Damals ging das manchmal sehr schnell und drastisch.
Man hatte ihm vorher allerdings noch eine goldene Brücke gebaut. Um Aufsehen zu vermeiden, bot man ihm an, freiwillig zurückzutreten. Doch Francke sagte von Anfang an: Gott hat mich hierher gerufen, ich habe Verantwortung für meine Gemeinde. Ich will die Gemeinde nicht im Stich lassen. Entweder setzt ihr mich ab, oder ich bleibe hier und mache meinen Dienst weiter.
Hier zeigt sich, dass August Hermann Francke durchaus keine Scheu hatte, auch in Konfrontation mit kirchlichen Stellen zu treten, wenn es nötig war. Er wollte keine Rückschritte bei dem machen, was er verkündete und tat, wenn er es für vor Gott notwendig hielt.
Stationen in Berlin und Halle
Direkt danach geht er nach Gotha und besucht seine Mutter. Dort erhält er auch eine Anfrage vom Herzog von Gotha, Pfarrer im Herzogtum Gotha zu werden. Doch er hat keinen inneren Frieden darüber. Er meint, das sei jetzt nicht das, was Gott von ihm verlangt.
Zu diesem Zeitpunkt bekommt er von Philipp Jakob Spener einen Brief aus Berlin, in dem er eingeladen wird, nach Berlin zu kommen. Er verbringt mehrere Monate in Berlin und predigt in verschiedenen Kirchen, zu denen er eingeladen wird. Es sind sogar Vertreter des Königs anwesend. Der König ist zu dieser Zeit noch Kurfürst von Brandenburg, nicht König von Preußen. Aus der kurfürstlichen Familie sind hohe Vertreter dabei, zum Beispiel Herr Dankelmann aus dem Ministerium, das damals für Erziehungsfragen zuständig war.
Dankelmann und weitere Verantwortliche, darunter auch Leute aus der Familie des Kurfürsten, sind beeindruckt von Hermann Francke. Sie sagen, dass er so talentiert predigen kann, dass man ihm einen Job geben müsse. Philipp Jakob Spener setzt sich ebenfalls für ihn ein, doch es gelingt nicht, sich zu einigen.
Schließlich erhält er eine Anfrage aus Coburg, wo man ihn als Hofprediger haben möchte. Er ist kurz davor, zuzusagen. Doch dann melden sich die Brandenburger und bieten ihm eine Stelle als Pfarrer in Glaucha an. Glaucha war ein Vorort von Halle an der Saale. Gleichzeitig bekommt er das Angebot, dort eine Professorenstelle zu übernehmen.
Mit der Universität in Halle verbindet sich allerdings eine besondere Situation. Man muss verstehen, wie die Lage damals in Brandenburg war. Die meisten Gegenden in Deutschland waren nach der Reformation entweder katholisch oder lutherisch. So ist auch Brandenburg überwiegend lutherisch. Der Kurfürst hat sich jedoch für die reformierte Kirche entschieden, ist also reformiert.
Innerhalb Brandenburgs gibt es dadurch große Spannungen. Die Pfarrerschaft kritisiert den reformierten Kurfürsten, doch dieser ist nicht einverstanden mit seinen Pfarrern. Die Universität, von der die meisten Pfarrer stammen, ist Wittenberg, wo Luther wirkte – also völlig lutherisch.
Der Kurfürst will nun eine andere Universität gründen. So wird in Halle eine Universität ins Leben gerufen, die eine Vermittlungsfunktion zwischen den Parteien übernehmen soll – zwischen Reformierten und Lutheranern. Hier liegt eine gewisse Klugheit, denn die Pietisten, zu denen sich auch Francke zählt, wollen eine Erweckung in der Kirche. Für sie ist es nicht so entscheidend, welcher Konfession man angehört. Wichtig ist die lebendige Beziehung zu Jesus Christus. Ob man reformiert oder lutherisch ist, spielt keine große Rolle.
So kommt Francke an diese Gemeinde.
Herausforderungen in Glaucher und Beginn der Schulgründung
In der Gemeinde Glaucher, einem Vorort von Halle, der außerhalb der Stadt liegt und eher als Vergnügungszentrum von Halle bezeichnet werden kann, berichtet Franke bei seiner Ankunft, dass jedes fünfte Haus entweder eine Schnapsbrennerei oder eine Kneipe ist. So kann man sich die Situation vorstellen. Viele Kinder lagen schon vormittags betrunken auf der Straße, da es keine Schulpflicht gab.
Der Pfarrer vor ihm wurde wegen unsittlicher Annäherung an seine Beichtkinder aus dem Amt entfernt. Der Pfarrer davor wurde wegen fortgesetzter Trunkenheit im Dienst entlassen. Man kann sich vorstellen, in welchem Zustand die Gemeinde war, wenn schon der Pfarrer auf diesem Niveau war. Zur Kirche kam so gut wie niemand. Das war also nicht so, wie man sich heute vielleicht vorstellt: Früher war alles besser, die Leute glaubten alle und gingen zur Kirche. In Glaucher war das ganz anders.
Trotzdem nahm Franke die Herausforderung an und blieb bis zum Ende seines Lebens Pfarrer dieser Gemeinde. Es veränderte sich allmählich. Er machte viele Hausbesuche und hielt ganze Predigtreihen. Es gibt interessante Details, von denen ich nur einige am Rande erwähne: Zum Beispiel wurde im Gottesdienst eine Kollekte eingesammelt. Die Presbyter wollten das Geld nach dem Gottesdienst unter sich aufteilen. Da musste August Hermann Franke eingreifen und klarstellen, dass das Geld für die Kirche gesammelt wurde und für die Armen eingesetzt werden sollte.
Viele Dinge wurden also völlig neu überdacht. Franke schrieb ein Büchlein, das er in jeden Haushalt brachte. Es richtete sich an die Familienväter und erklärte, wie sie Hausandachten abhalten sollten. So wollte er zumindest die frommen Väter oder diejenigen, die ein schlechtes Gewissen hatten, zu Hausandachten animieren. Er führte ein neues Armenwesen ein, das Obdachlose und andere Bedürftige versorgte. Gleichzeitig ging er gegen Leute vor, die falsche Obdachlosenhilfe in Anspruch nahmen, obwohl sie diese gar nicht brauchten. Auch damals gab es schon Sozialhilfe-Missbrauch.
Das Epochemachende an Frankes Wirken war jedoch nicht primär sein Amt als Pfarrer, sondern eine Art Nebentätigkeit, die auf Dauer gesehen die Hauptwirkung hatte. Das waren die vielen Jugendlichen auf den Straßen von Glaucher, die keine Perspektive hatten. Wie gesagt, es gab keine Schulpflicht, viele Eltern waren selbst Trinker oder arbeitslos und kümmerten sich nicht um ihre Kinder. Franke sah vor Augen, dass diese Kinder dieselbe Zukunft wie ihre Eltern erwarten würde, wenn man nicht eingreift.
1695 empfand er von Gott den Auftrag, diesen Kindern eine Schulausbildung zu geben. Da es staatlich keine gab, begann er damit im Pfarrhaus. Er betete darum, dass Gott ihm das nötige Geld schenkt. Er stellte eine Büchse mit einem Bibelfest in seiner Pfarrwohnung auf, die jeder Gast sehen konnte und in die jeder etwas hineinlegen konnte. Schließlich fand er 1695 vier Taler und sechzehn Groschen darin. Das war keine große Summe, aber genug, um sie für arme Schüler einzusetzen, die sich keine Ausbildung leisten konnten.
So begann er, in seinem Pfarrhaus Unterricht zu geben. Allerdings musste er auch enttäuschende Erfahrungen machen: Die ersten Kinder, für die er Schulbücher kaufte, nahmen diese mit nach Hause, kamen aber einige Tage nicht mehr zur Schule. Später stellte er fest, dass sie die Schulbücher verkauft und das Geld in Alkohol investiert hatten. Sobald der Alkohol und die Bücher weg waren, kamen sie zurück und wollten neue Schulbücher.
Mit der Zeit erkannte Franke, dass man diesen Kindern nicht einfach nur Unterricht geben kann, um sie danach wieder auf die Straße oder in kaputte Elternhäuser zu schicken. Stattdessen müssten sie ganztägig betreut werden, so wie in einem Internat, einer Ganztagsschule oder einem Waisenhaus. Das war der Anfang des hallischen Waisenhauses, auch bekannt als die frankischen Anstalten. Zu dieser Zeit war das in Halle genau das, was gebraucht wurde.
Die Entwicklung ging schnell voran: Anfangs wollte Franke nur fünf Kinder aufnehmen, da im Pfarrhaus nicht mehr Platz war. Doch die Nachfrage war viel größer. Als die Leute von seiner Arbeit hörten, begannen sie, Geld zu spenden. Damals war es üblich, wirtschaftlich zu denken: Man legte eine Summe Geld als Kapital an, von dessen Zinsen der Betrieb leben sollte. Auch Franke wollte sich daran halten.
Ein Spender gab eine Summe, von deren Zinsen ein Kind versorgt werden konnte. Doch dann kamen drei Geschwister ohne Eltern, und Franke musste entscheiden, welches der drei er aufnehmen sollte. Vor Gott konnte er nicht anders handeln und nahm alle drei auf. Diese Entscheidung war grundlegend. Die meisten Glaubenswerke arbeiten heute so: Sie leben nicht von einem großen Kapital, sondern geben das Geld direkt aus, wie man es später die Glaubensmission nannte.
Die frankischen Anstalten waren die erste Glaubensmission in Deutschland. Franke sagte: Das Geld, das ich bekomme, gebe ich auch direkt aus. Viele lachten ihn aus und sagten, sein Werk werde pleitegehen. Wie wolle er morgen, übermorgen oder in einem Jahr leben, wenn er das Geld sofort ausgibt? Das war ein echter Glaubensschritt.
Die Kinder, die aufgenommen wurden, waren arm und in Not. Sie einfach wegzuschicken, nur weil man das Geld sparen wollte, war für Franke keine Option. Er mietet in einem Nachbarhaus, das früher eine Kneipe war, Zimmer, damit die Kinder dort untergebracht werden konnten. Innerhalb eines Jahres wurde das Nachbarhaus komplett gemietet und ein weiteres Haus gekauft. Die Kneipe wurde zu einer Schule umfunktioniert.
Zunächst gab es nur eine Klasse, doch bald mussten zwei weitere Klassen eingerichtet werden, da immer mehr Kinder kamen. Innerhalb der nächsten zehn Jahre wuchs die Zahl der Kinder in den frankischen Anstalten auf mehrere Hundert an. Verschiedene Häuser in der Umgebung wurden gekauft. Schließlich kam der Gedanke auf, dass die Kinder nicht mehr in verschiedenen Häusern verteilt sein sollten.
Franke unterrichtete nicht mehr alleine, sondern war gleichzeitig Professor an der Universität. Er gewann einige fromme Theologiestudenten, die bei ihm umsonst wohnen und essen konnten, wenn sie eine bestimmte Anzahl Stunden Unterricht für die Kinder übernahmen. Das war eine Art Praktikum. So hatten die armen Studenten Unterkunft und Verpflegung, und gleichzeitig gab es Lehrer für die Kinder – eine sehr gute Ergänzung.
Der nächste große Schritt kam fünf Jahre später: Es sollte ein eigenes Gebäude für die Anstalten gebaut werden. Doch das Geld dafür fehlte. Das Gebäude wollte Franke optimal für die Schüler gestalten. Es steht bis heute noch und sieht mit seinen vier Stockwerken im Giebel sehr großzügig aus. Zur damaligen Zeit gab es ringsum nur zweistöckige Häuser.
Im Giebel steht ein Bibelvers, der lautet: "Denn sie fahren auf wie Adler, sie wandern ohne matt zu werden und laufen ohne ermüden." (Jesaja 40,31). Damit machte Franke deutlich, dass Gott ermutigt, selbst wenn man nicht mehr weiterweiß.
Die Baugeschichte ist eine Geschichte göttlicher Ermutigung. Obwohl kein Geld da war, begann man zu bauen. Viele lachten und sagten, Franke werde es nicht schaffen. Zuerst wurde nur der Keller gebaut, und man zweifelte daran, dass das ganze Gebäude fertig werde.
Franke berichtet in seinem Tagebuch von verschiedenen Beispielen, bei denen das Geld genau dann kam, wenn es gebraucht wurde. Eine Begebenheit war, dass Handwerker ihren Wochenlohn forderten, aber kein Geld vorhanden war. Franke bat den ganzen Nachmittag um Hilfe. Genau zu diesem Zeitpunkt kam ein Student aus einer entfernten Stadt mit einer Spende eines reichen Kaufmanns, die genau die benötigte Summe für die Handwerker enthielt.
Neugierig geworden durch das Wachstum der Anstalten, besuchte der brandenburgische Kurfürst die Einrichtung. Er war so beeindruckt von der Frömmigkeit der Menschen dort, dass er 50 Siegelsteine spendete, mit denen weitergebaut werden konnte.
So entstand das Haupthaus, in das die Schüler und Mitarbeiter einzogen. Franke selbst blieb in einem kleineren Haus, da er keinen Palast wollte. Innerhalb kurzer Zeit wurde das Haus jedoch zu klein und es wurde weitergebaut.
Beim nächsten Haus fehlte wieder das Geld. Franke entschied, das Haus ohne Fundament zu bauen, obwohl der Boden sandig war. Viele warnten, das Haus werde einstürzen. Dieses Haus, das längste Fachwerkhaus Europas, steht heute noch, 300 Jahre später, trotz des sandigen Bodens.
Man muss sagen, dass auch hier Gottes Segen und Eingreifen zu spüren sind. Die Anstalt wuchs beständig. Gegen Ende von August Hermann Franckes Leben waren etwa zweieinhalbtausend Schüler dort untergebracht und wurden unterrichtet.
Doch das war noch nicht alles: Franke entwickelte gleichzeitig ein ganz neues Schulsystem, das später in Preußen zur allgemeinen Schulpflicht übernommen und dann in ganz Deutschland eingeführt wurde.
Pädagogische Innovationen und Lehrerbildung
Das ist nämlich das, was man später unter dem dreigliedrigen Schulsystem kennt. Das dreigliedrige Schulsystem umfasst die Grundschule und danach drei verschiedene Schulformen: früher die Volksschule, heute Hauptschule, Realschule und Gymnasium.
Diese Idee stammt von August Hermann Francke. Er meinte, die Schüler sollten keine beliebige Ausbildung erhalten, sondern eine, die sie möglichst gut auf ihre spätere Tätigkeit vorbereitet. Das heißt, wer Landwirt, Dienerknecht oder ähnliches wird, soll zumindest lesen und schreiben können – also eine einfache Ausbildung erhalten. Wer einen technischen Beruf ergreift, soll Realien lernen, also praktische und reale Inhalte, wie es für Techniker oder Ingenieure notwendig ist. Wer studiert, musste damals als Ingenieur noch nicht studieren, aber es sollte eben verschiedene Schultypen geben.
Darüber hinaus hatte Francke Probleme mit den Lehrern. Damals konnte eigentlich jeder Lehrer werden. Es war nicht erforderlich, ein Studium absolviert zu haben, um Lehrer zu werden – das können wir uns heute kaum vorstellen. An vielen Orten, wo es überhaupt Schulen gab, setzte man oft ausrangierte Soldaten als Lehrer ein. Der Fürst, der bestimmte, wer Lehrer wurde, wollte diesen alten Soldaten noch ein Gnadenbrot geben. So kam es, dass ein alter Soldat, der nicht mehr richtig kämpfen konnte, in die Schule geschickt wurde.
Man kann sich vorstellen, wie der Unterricht ablief: wie auf dem Kasernenhof. Die Schüler mussten antreten, es gab Schläge, wenn etwas nicht funktionierte, und auswendig lernen war Pflicht. Das war die Normalschule damals. Pädagogen, so wie wir sie heute kennen, gab es nicht. Eine pädagogische Ausbildung für Lehrer existierte nicht.
Wenn ein Fürst es gut meinte, stellte er einen Studenten als Lehrer ein. Dieser Student hatte aber nicht Lehramt studiert – das gab es ja noch nicht –, sondern beispielsweise Jura oder Theologie. Diese waren schon die besseren Lehrer, da sie zumindest studiert hatten. Eine richtige Lehrerausbildung gab es dennoch nicht.
Francke war der Erste in Deutschland, der eine Lehrerausbildung initiierte, das sogenannte Lehrerseminar. Studenten, die an der Universität waren, begannen zunächst mit Hospitationen, das heißt, sie setzten sich in den Unterricht und beobachteten. In der nächsten Phase mussten sie selbst Unterrichtsstunden halten, während andere zusahen. Danach wurde der Unterricht ausgewertet und es gab Rückmeldungen.
Francke schrieb pädagogische Bücher, nach denen die Ausbildung ablief. Die Ausbildung in Halle war so gut, dass die Leute ihm schon vor Abschluss der Ausbildung abgeworben wurden. Die Fürstenhöfe in ganz Deutschland und bald auch in ganz Europa warben diese Lehrer ab. Deshalb musste Francke festlegen, dass die Lehrer mindestens eine bestimmte Zeit als Lehrer bleiben mussten.
Das ist für uns heute kaum vorstellbar: Es gab viele Schulen, nicht nur in Deutschland. Zum Beispiel gab es in Istanbul eine christliche Schule von August Hermann Francke. Auch in Moskau gab es eine solche Schule. Allein in Russland gab es zahlreiche Schulen, ganz zu schweigen von Deutschland, die alle Lehrer von Francke haben wollten.
Später komme ich noch auf Indien zu sprechen. Das indische Schulsystem, damals britisches Protektorat, wurde nach dem Vorbild August Hermann Frankes aufgebaut. Dazu komme ich gleich noch, denn es gibt noch etwas anderes, womit das zu tun hatte.
Man merkt hier, dass Francke auch in Sachen Schule sehr innovativ war.
Weitere Initiativen und Verlagsarbeit
Wenn ich jetzt mehr Zeit hätte, was ich leider nicht habe, würde ich euch die Pädagogik August Hermann Franckes vorstellen. Ich glaube, dass sie bis heute sehr herausfordernd ist – sowohl für Eltern als auch für Schulen.
Ich werde das jedoch etwas zurückstellen, weil ich sonst alle anderen Dinge, die er noch gemacht hat, nicht mehr erwähnen könnte.
So war er zum Beispiel derjenige, der die erste deutschsprachige theologische Zeitschrift herausgegeben hat. Sie hieß "Observatores Biblici". Wie kam es dazu? Ein Freund schrieb ihm, dass er in großer Not sei. Er hatte seine Arbeitsstelle verloren und konnte seine Familie nicht mehr ernähren. Nun müsse er sogar seine Bibel verkaufen.
Daraufhin sagte August Hermann Francke: Das geht nicht. Er überlegte, was er tun könne. Zwar hatte er kein Geld, aber er konnte theologische Aufsätze schreiben. Er entschied sich, diese in einer Zeitschrift zu veröffentlichen. Damit auch Geld hereinkam, sollte die Zeitschrift deutschsprachig sein, damit viele Leute sie lesen konnten.
So entstand eine Zeitschrift, die über Jahrzehnte hinweg existierte. Die ersten Ausgaben beschäftigten sich mit Exegese, also der Auslegung von Bibelversen.
Diese Zeitschrift war die erste theologische deutschsprachige Zeitschrift. Zuvor gab es solche Publikationen nur auf Latein, was sie ausschließlich für Gelehrte zugänglich machte. Mit dieser Zeitschrift richtete er sich an die breite Bevölkerung.
Außerdem war er Gründer der Halleschen Zeitung, die es bis heute gibt. Sie ist eine Tageszeitung und war über Jahrzehnte hinweg die bedeutendste Tageszeitung in ganz Mitteldeutschland.
Sein Ansatz war: Man wollte nicht nur die Gemeinde verändern, sondern möglichst die ganze Welt. Wie sollte das auch mit Nichtgläubigen funktionieren? Indem man ihnen Nachrichten gab, aber bewusst viele davon aus christlichem Hintergrund.
Dafür kontaktierte er seine Freunde und ehemaligen Schüler, die über ganz Deutschland verteilt waren. Sie wurden als Berichterstatter engagiert und schickten ihm Berichte über das, was in den jeweiligen Regionen geschah. Diese Berichte wurden verarbeitet und als Zeitung gedruckt – so entstand die Hallesche Zeitung.
Dann bemerkte er, dass viele der Kinder, die bei ihm ausgebildet wurden, Waisenkinder waren. Manche davon waren unehelich geboren.
Damals konnten solche Kinder keinen Beruf lernen, da kein Handwerker ein uneheliches Kind aufnahm – das galt als nicht standesgemäß.
Er wollte jedoch, dass sie eine Ausbildung erhielten. Also gründete er Handwerksbetriebe. In diesen wurden Meister angestellt, und die Kinder konnten dort gleichzeitig eine praktische Ausbildung machen.
Nebenbei wurden die Handwerksbetriebe genutzt, um die ständigen Bauvorhaben umzusetzen. Er war ständig am Bauen.
Dafür kaufte er einen eigenen Steinbruch in der Nähe, von dem das Baumaterial stammte. Weil Material benötigt wurde, gründete er außerdem eine Schifffahrtsgesellschaft über die Saale.
Diese war so erfolgreich, dass es später einen Aufstand der Saaleschiffer gab. Sie fürchteten die Konkurrenz und verboten ihm, weiter zu expandieren. Deshalb musste er seine Aktivitäten einschränken.
Schließlich begann er mit einem Viehhandel. Warum? Das Waisenhaus mit seinen zweieinhalbtausend Kindern musste ja versorgt werden. Auch die Mitarbeiter brauchten Essen, vor allem Fleisch.
Das Fleisch in der Umgebung von Halle war teuer, also ließ er es aus Pommern und Schlesien bringen – ländliche Gegenden, wo es günstiger war. Hunderte Tiere wurden hergebracht.
Er konnte das Fleisch in Halle und Umgebung teurer verkaufen, weil es dort teurer war. So wurde das Fleisch für das Waisenhaus praktisch kostenlos. Ein Teil des Viehs wurde kostenlos genutzt, der andere Teil wurde teurer verkauft, sodass er genau den Einkaufspreis wieder hereinbekam.
Er war außerdem einer der Ersten, der eine Wasserleitung baute. Er bemerkte, dass Infektionskrankheiten ausbrachen, weil das Wasser direkt neben Fäkaliengruben abgegraben wurde.
Deshalb suchte er eine Quelle etwa eineinhalb Kilometer entfernt und ließ dort eine Wasserleitung bauen. Aus dieser konnten auch die Menschen in Glaucha Wasser schöpfen.
Diese Wasserleitung wurde über Jahrzehnte genutzt. Man stellte fest, dass dort, wo in Halle Seuchen ausbrachen, die Menschen in Glaucha gesund blieben – dank des frischen, sauberen Wassers.
Bibelgesellschaft und Mission
Naja, das sind jetzt so Nebensachen, mit denen er sich noch beschäftigt, weil sie gerade anliegen. Das, was dann noch stärker theologisch ins Gewicht fällt, ist ihm ein Anliegen: Die Leute sollen eine Bibel lesen. Aber Bibeln sind trotz der Übersetzung Martin Luthers relativ teuer.
Da hat er die Idee und kann schließlich den Baron von Cannstein gewinnen, einen frommen Adligen aus Berlin, der sich für die Bibelherstellung einsetzt. Hier ist er innovativ: Er schickt einige Mitarbeiter nach England, denn dort hat man damals eine neue Drucktechnik entwickelt, die sogenannte Drucktechnik des stehenden Satzes.
Heute druckt man ja vollkommen anders. Damals musste man jede einzelne Bleiletter einzeln auf einem großen Drucksatz festmachen, dann wurde gedruckt, und anschließend wurden alle Lettern wieder abgenommen und neu zusammengesetzt. Jetzt wäre es natürlich viel einfacher: Man lässt jede einzelne Seite der Bibel stehen. Wenn man sie erneut druckt, hat man sie schon fertig und spart unheimlich Zeit und dadurch auch Geld. Allerdings braucht man dafür viel mehr Drucklettern, was teuer ist.
Der Baron von Cannstein hat große Verbindungen zum Adel und sucht nach Sponsoren. Schließlich gibt es Unterstützer, darunter der Kurfürst und einige andere, die Geld spenden, sodass man genug Mittel hat, den stehenden Satz zu realisieren. Ab diesem Zeitpunkt – das ist das erste Mal in Deutschland – wird die Bibel so günstig hergestellt, dass sich jeder sie leisten kann. Damals kostete sie drei Groschen, was wirklich sehr günstig war.
Das war die erste Bibelgesellschaft in Deutschland, die von Cannstein’sche Bibelgesellschaft, noch lange bevor es in Stuttgart oder anderswo Bibelgesellschaften gab. Diese Gesellschaft war die erste deutsche Bibelgesellschaft und brachte die ersten deutschen Bibeln heraus.
Er lässt dann Bibeln übersetzen, zum Beispiel in einige baltische Sprachen. Das sind die ersten Bibelübersetzungen in diesen Sprachen, weil es ihr missionarisches Anliegen ist. Er druckt evangelistische Schriften für Russland und ist selbst in Russland unterwegs.
Unter den schon damals ausgewanderten Deutschen nach Russland entsteht durch den Pietismus von August Hermann Francke eine Entwicklung. Einige seiner Schüler sind motiviert für die Mission. Von August Hermann Francke aus wird die sogenannte dänisch-hallische Mission gegründet. Als Erster wird Bartolomäus Ziegenbalg nach Trankebar in Indien ausgesandt.
Ich habe Indien vorhin schon erwähnt. Diese Arbeit wächst schließlich stark und wird in erster Linie von Halle aus unterstützt. Zahlreiche Schüler von Francke gehen später in die Mission. Es wird normal, dass systematische Mission in der evangelischen Kirche ausgeübt wird – das ist ja privat, aber er ist ja Mitglied der evangelischen Kirche.
Vorher gab es das nicht. Luther hatte so viel zu kämpfen, dass die Kirche überlebte, da konnte man nicht noch an Missionen denken. Seine Nachfolger wollten die Lehre festigen. Jetzt beginnt der Aufbruch evangelischer Missionen.
Es bleibt nicht bei Indien. Zahlreiche andere Missionsgesellschaften entstehen, und gerade in dieser Zeit macht die Ausbildung in Halle den Nikolaus und Ludwig Graf von Zinzendorf, die hier das Herz für die Mission bekommen. Er führt später auch Missionen von den Herrnhuter Brüdergemeinden durch.
In Indien verändert das vieles. Es entsteht eine eigene Kirche, die bis heute existiert. Bis heute hat die damals gegründete Kirche in Indien etwa 150.000 Mitglieder, also ist es eine große Kirche, die unter Einheimischen entstanden ist.
Ziegenbalg ist auch der Erste, der in der heimischen Sprache predigt. Das heißt: Die Katholiken, die vorher dort waren, predigten auf Spanisch oder Latein, was natürlich niemand verstand. Er hat als Erster die einheimischen Sprachen kennengelernt und darin eine eigene Bibelübersetzung angefertigt.
Bis heute gilt er in dieser Region Indiens als einer der Ersten, der die Sprache für die Leute verschriftlicht hat. Er gründet außerdem die erste Mädchenschule in Indien und auch eine Schule für Jungen.
Der britische Gouverneur von Indien ist so davon angetan, dass er sagt: Nach diesem Muster müssen in ganz Indien Schulen gebaut und Lehrer ausgebildet werden. Insofern kommen Frankes Ideen über Ziegenbalg nach Indien und prägen dort das Schulwesen.
Darüber hinaus legt Ziegenbalg in der Schule viel Wert auf einen neuen Lehrplan. Er setzt stark auf sogenannte Realia, also praktische Fächer. Die Schüler sollen nicht mehr nur Latein lernen, sondern vor allem Englisch und Französisch, weil er sagt, das brauchen sie viel mehr. Latein, eine tote Sprache, brauche man nur für Theologie, Jura und Ähnliches, aber die anderen Sprachen seien wichtiger.
Er legt großen Wert auf das Alltagsleben. Dabei sollen die Lehrer nicht nur Lehrer sein, sondern auch Vorbilder. Deshalb werden sie geschult und begleitet. Auch bei den Schülern verfolgt er eine strenge Haltung. Er ist skeptisch und nach dem Motto: Müßiggang ist aller Laster Anfang.
Deshalb gibt es an den hallischen Schulen keine Ferien. Er befürchtet, wenn die Schüler zu den Eltern nach Hause gehen, ist wieder alles kaputt, was aufgebaut wurde. Die Eltern waren oft Alkoholiker oder arbeitslos. Darum gibt es keine Ferien.
Auch die Freizeit ist streng geregelt. Der Tag ist genau ausgeplant. Allerdings erkennt er, dass die Schüler auch mal etwas Freizeit brauchen. Deshalb gibt es sogenannte Rekreationsstunden, die aber sinnvoll genutzt werden sollen: Gartenarbeit, Botanik beim Spazierengehen oder das Sternobservatorium, das extra auf dem Schulgebäude errichtet wurde, um Sterne zu beobachten.
Die Zeit muss immer gut genutzt werden. Die Kinder sind meist in Gruppen. Er meint es wirklich gut mit den Kindern, doch manche Regeln wirken aus heutiger Sicht übertrieben. So wurden in allen Türen des jungen Internats Gucklöcher eingebaut, damit zwischendurch kontrolliert werden konnte, ob sich die Schüler ordentlich verhalten oder Unsinn machen.
Das wirkt heute vielleicht übertrieben, aber alle, die in Halle ihre Ausbildung gemacht haben, äußern sich positiv. Niemand sagt, er sei unterdrückt oder gezwungen worden. Das sind lebendige Leute, die Karriere gemacht haben und besonders positiv auf diese Zeit zurückblicken.
In der nächsten Generation führt das sogar dazu, dass der brandenburgische Kurfürst sagt: Ich nehme nur Leute, die in Halle ausgebildet wurden, für höhere Regierungsämter. Das trägt natürlich auch zur Ausbreitung des Pietismus bei.
In Potsdam, später auch in Berlin und an anderen Orten werden Militärwaisenhäuser gebaut. Das heißt, dort, wo Soldaten sterben und die Kinder allein bleiben, werden sie nach den Regeln von August Hermann Francke betreut.
Diese Waisenhäuser werden von Leuten geleitet, die bei Francke ausgebildet wurden. So verbreitet sich diese Reform schließlich in ganz Preußen.
Francke ist auch mitverantwortlich, dass im preußischen Generalschulreglement – so nennt man das – zum ersten Mal in Deutschland Schulpflicht eingeführt wird. Diese Schulpflicht ist nach den Ideen von August Hermann Francke gestaltet.
Er ist Berater des brandenburgischen Kurfürsten und später des preußischen Königs und engagiert sich dabei.
Nebenher gründet er eine Buchhandlung, einen Verlag. Die Idee ist: Er predigt gut, und die Leute wollen seine Predigten hören. Einer seiner Mitarbeiter, Ehlers, sagt: Die will ich drucken. So entsteht eine eigene Druckerei und Buchhandlung.
Die Buchhandlung hat Niederlassungen in verschiedenen deutschen Städten. Es werden fromme Erbauungsbücher und Schulbücher verbreitet. Daneben entsteht eine eigene Apotheke.
Bis dahin mussten die Leute ihre Medikamente immer kaufen. Als viele Krankheiten unter den Kindern ausbrachen, sagte man: Das können wir uns nicht mehr leisten, wir machen eine eigene Apotheke.
Diese Apotheke wird so bekannt, dass in ganz Deutschland und darüber hinaus die dort hergestellten Medikamente verkauft werden. Die Apotheke bringt sogar Gewinn, den man wieder für das Waisenhaus einsetzt.
Es gibt die sogenannte Waisenhaus-Apotheke, die damals sehr bekannt ist. Ein Doktor Richter, der Leiter, entwickelt neue Medikamente, die relativ positiv wirken und weiterhelfen sollen.
Es wird ein eigenes Krankenhaus gegründet, das nach modernen Vorstellungen arbeitet. Francke will, dass medizinische Betreuung mit seelsorgerlicher Betreuung verbunden wird. Das heißt, man ist nicht nur Mediziner, sondern übt auch Seelsorge am Krankenbett.
Viele Arme in der Umgebung werden kostenlos behandelt und bekommen auch Medikamente gratis. Jedes Jahr werden Medikamente im Wert von mehreren Tausend Talern für Arme und Obdachlose ausgegeben, was relativ viel Geld ist.
Allerdings muss man Listen führen, denn je häufiger man das macht, desto mehr kommen Leute aus der Nachbarschaft, nehmen die Medikamente und verkaufen sie im Nachbarort weiter. Wo etwas Positives ist, gibt es auch Missbrauch.
Deshalb werden die Patienten untersucht, um sicherzugehen, dass sie wirklich krank sind. Man sieht auch, wie oft sie kommen und welche Medikamente sie erhalten.
In manchen Jahren wird die Apotheke sogar zum Zuschussgeschäft, weil viele kostenlos behandelt werden. So gibt es hier einen sozialen Einsatz.
Mit der Zeit wächst eine ganze Schulstadt vor den Toren von Halle. Einer seiner engen Mitarbeiter ist Freilinghaus, später auch sein Schwiegersohn, da er eine seiner Töchter heiratet.
Francke selbst heiratet zwischendurch und hat mehrere Kinder. Er wird langsam älter, aber Urlaub ist damals noch eine neumodische Erfindung. Als Professor gab es keinen tariflichen Urlaub; man arbeitete so lange, bis man starb.
Ende seines Lebens hat er sich viel eingesetzt und viel gearbeitet – von morgens bis abends, und das mit guter Atmosphäre. Er bat seinen Kurfürsten um ein paar Wochen frei, doch richtig frei kann sich August Hermann Francke nicht vorstellen.
Stattdessen plant er eine Reise durch Deutschland, um Freunde und Bekannte zu besuchen und zu predigen. So reist er über drei Monate durch ganz Deutschland und besucht verschiedene Orte. Das kann man fast als Triumphzug gegen Ende seines Lebens bezeichnen.
Er kommt an einige Fürstenhöfe und darf dort predigen. Er besucht Städte, unter anderem Stuttgart und Umgebung. Beim württembergischen Herzog ist man zunächst beleidigt, weil die Pfarrer in Stuttgart Francke zugesagt hatten, er dürfe in der Kirche predigen, ohne beim Herzog nachzufragen.
Der Herzog sagt zunächst Nein, doch dann bekommt er Bedenken: Dieser in ganz Deutschland bekannte Professor, wenn ich ihm das nicht erlaube, bekommt das einen schlechten Ruf für mich. Also entschuldigt er sich und erlaubt ihm doch zu predigen.
Francke kommt auch nach Tübingen, wo er in der Stiftskirche predigen darf. Seine Reise führt schließlich nach Ulm, das damals die größte evangelische Kirche in Deutschland hat – das Ulmer Münster. Bis heute ist es eine riesige Kirche mit etwa 5.000 Plätzen.
Als August Hermann Francke dort predigt, ist die Kirche voll. Die Leute stehen in den Gängen und draußen vor der Kirche, um ihm zuzuhören. Das ist sozusagen der Höhepunkt seines Bekanntheitsgrades in Deutschland.
Zwischenzeitlich, was ich noch nicht erwähnt habe, gründet er unter anderem ein englisches Haus in Halle. Wofür? Für alle Schüler aus England. Sein Ruf verbreitet sich auch in England, und viele englische Adlige und Reiche schicken ihre Kinder nach Halle, um sie ausbilden zu lassen.
Gleichzeitig nutzen einige deutsche Schüler das englische Haus, um besser Englisch zu lernen. Francke überlegt also, wie man das nutzen kann.
Schließlich stirbt er irgendwann, obwohl es noch einiges zu erklären gäbe, aber die Zeit ist abgelaufen. Er stirbt im Jahr 1727. Sein Werk ist auf dem Höhepunkt angelangt.
Sein Nachfolger wird Freilinghaus, der damals auch bekannt war und ein eigenes pietistisches Liederbuch herausgegeben hat, das über Jahrzehnte immer wieder aufgelegt wurde.
Freilinghaus und Franckes Tochter führen das Werk weiter. So wird die Franckeschen Anstalten über viele Generationen zu einem Mittelpunkt des Pietismus und der Erweckung in Deutschland.
Wirkung des Pietismus über Deutschland hinaus
Übrigens habe ich zwischendurch vergessen zu erwähnen, dass der Pietismus in Deutschland auch Auswirkungen auf die Erweckung in England hatte. Manche kennen sicherlich John Wesley. Er ist derjenige, der für die Erweckung in England verantwortlich ist.
Nun könnte man fragen: Wie ist John Wesley eigentlich zum Glauben gekommen? Das kann man nicht genau sagen. Er ist durch den deutschen Pietismus zum Glauben gekommen. Wesley reiste nach Deutschland, besuchte Zinzendorf und Franke und wollte eigentlich solche pietistischen Gemeinschaften in England gründen.
Das hat er dann aber nicht gemacht. Denn wie so oft, wenn starke Persönlichkeiten zusammenkommen – egal wie fromm sie sind – gibt es auch Reibungen und Spannungen. Nach einer gewissen Zeit verstanden sie sich nicht mehr so gut.
Trotzdem übernahm Wesley die Idee. Daraus entstand die Erweckung in England und später die methodistische Kirche, die eine Erweckungskirche war und evangelistisch wirkte. So breitete sich diese Bewegung aus.
Insofern sehen wir auch eine Ausbreitung über die Grenzen Deutschlands hinaus. Ich habe bereits erwähnt, dass es auch eine Erweckung in Skandinavien gab. Diese werde ich jetzt nicht näher ausführen. Aber auch dort gab es eine Erneuerung in der Kirche, bis hin zu der Einladung durch den König, um die Kirche zu erneuern. Somit zeigt sich eine Ausbreitung des Pietismus über Deutschland hinaus.
Charakter und geistliche Haltung von August Hermann Francke
Besonders beeindruckend an dieser Persönlichkeit finde ich zunächst die vielfältigen Gaben, mit denen Gott ihn ausgestattet hat. Dabei ist er während seines gesamten Lebens fromm und echtgläubig geblieben. So begann er jeden Morgen mit seinen engsten Mitarbeitern zunächst mit Bibelarbeit und Gebet.
Ein Beispiel dafür ist die Glaubensmission. Sie gingen davon aus, dass Gott ihr Werk versorgen würde. Sie verließen sich nicht nur auf menschliche Planung, sondern vertrauten darauf, dass Gott für die Versorgung sorgt. Außerdem war er immer wieder bereit, neue Ideen anzunehmen, wenn Gott sie ihm zeigte. Er achtete nicht nur darauf, was Menschen möglich ist, sondern handelte auch nach dem, was Gott ihm aufs Herz legte.
Dabei wurde er jedoch nicht zum Enthusiasten oder Schwärmer, sondern blieb relativ realistisch. Die Planungen, die er machte, hatten Hand und Fuß. Sie waren nicht einfach aus dem Ärmel geschüttelt oder bloße Hirngespinste, sondern alles war aufeinander abgestimmt. Gott gebrauchte ihn auf besondere Weise zur Erneuerung in ganz Deutschland, ausgehend von diesen Anstalten.
Deshalb ist es durchaus verständlich, dass sich heute manche Formelschulen, also Bekenntnisschulen, nach ihm benennen. Das hat einen guten Grund.
Was ich bisher noch gar nicht erwähnt habe, weil es sonst zu viel geworden wäre, ist seine Pädagogik. Ich glaube, dass einige seiner Ansätze bis heute hilfreich sind oder wertvolle Anregungen für die Schule von heute geben können. Das wäre jedoch ein ganz eigenes Thema.
Dazu lade ich gerne zu einem speziellen Seminar ein: Christliche Pädagogik nach August Hermann Francke. Dort werde ich noch mehr dazu sagen können. Oder, wie gesagt, man kann die Biografie kaufen, wenn sie erschienen ist. Dort steht auch mehr zur Pädagogik drin.
Für heute ist eine Stunde vorgesehen, und ich möchte euch nicht den ganzen Abend rauben. Deshalb setze ich hier einen Punkt und gebe die Möglichkeit für Rückfragen oder Ergänzungen.
Gibt es jemanden, der gerne noch etwas genauer wissen möchte? Auf dem Weg dahin frage ich schon mal: Wie viele Seiten hatte das Buch, der Mann hat ja hier...
Diskussion zur Pädagogik Franckes
Der Verlag hatte ursprünglich geplant, das Werk auf zweihundert Seiten zu begrenzen, aber es ist etwas umfangreicher geworden. Vielleicht könnten Sie noch einmal ein paar Sätze zur Pädagogik sagen. Immer wieder wird betont, dass August Hermann Francke das Willensbrechen in den Mittelpunkt gestellt hat. Das ist auch der Grund, warum er sich so sehr für Pädagogik interessiert hat. Das ist ein Kritikpunkt, der oft genannt wird.
Es stimmt, in der Pädagogik taucht der Begriff auf, dass der Eigenwille des Kindes gebrochen werden muss. Aus Sicht der modernen, emanzipatorischen Pädagogik gilt das als die Ursünde der Pädagogik. Aber Francke hat das eigentlich aus dem biblischen Menschenbild heraus formuliert. Denn was lesen wir in der Bibel? Der Mensch ist von Jugend an böse. Das heißt, wenn nur das Böse entwickelt wird, dann entsteht ein böser, aber gebildeter Mensch.
Deshalb sagt Francke, das Wichtigste für den Menschen ist, dass er erst einmal seine eigene Schlechtigkeit anerkennt und dann bereit ist, sich Gott zu unterstellen. Das meint er mit Willensbrechen. Willensbrechen bedeutet nicht, dass das Kind ein herrenloser Sklave werden soll – ganz im Gegenteil. Er ging sogar sehr individuell auf die Kinder ein.
Wenn ich das näher erläutern würde: Er führte zum Beispiel ein Kurssystem ein, in dem Kinder sehr individuell ausgebildet wurden – etwas, das man in den folgenden Jahrhunderten kaum noch so hatte. Ihm ging es nicht darum, das Kind kaputtzumachen. Vielmehr sollte das Kind erkennen, dass es von Natur aus nicht gut ist, sondern Egoismus und Eigenwille besitzt. Wenn man diesen nur fördert, kommt etwas Schlechtes heraus.
Das war gerade das, was die späteren Aufklärer störte. Sie gingen davon aus, wenn nur der Verstand entwickelt wird, dann entsteht der gute Mensch. Francke hingegen sagte: Nein, der Verstand kann entwickelt werden, und dann gibt es eben kluge Verbrecher. Aber allein der Verstand macht noch keinen guten Menschen aus.
Er wollte natürlich gute und ausgebildete Menschen. Das hatte er auch erreicht, denn seine Schüler fanden alle eine Anstellung, weil die Schule so gut war. Aber das Wesentliche ist: Das Kind muss erst einmal selbst erkennen, dass es sich Gott unterordnen und Gottes Maßstäbe akzeptieren muss. Das ist der Hintergrund des Willensbrechens.
Das ist auch einer der Gründe, warum heute Frankes Pädagogik von nichtgläubigen Pädagogen oft sehr negativ bewertet wird, weil sie nicht in ihr Weltbild passt. Für sie ist Gott weit entfernt, und die Individualität des Kindes steht ganz oben. Aber eine Individualität, die nicht korrigiert und nicht in einen Rahmen gesetzt wird, kann nicht gut funktionieren.
Der Mensch braucht einen äußeren Maßstab. Er muss erkennen, dass er nicht der letzte Maßstab ist, sondern dass es einen Maßstab außerhalb von ihm gibt. Das wollte Francke mit dem Willensbrechen ausdrücken. Willensbrechen bedeutet nicht, das Kind mit Gewalt kaputtzumachen, sondern zu erkennen, dass es einen Maßstab außerhalb von mir gibt, den ich akzeptieren muss. Das heißt, sich als Kind zu relativieren und das Kind nicht absolut zu setzen.
Man könnte sagen: Entfaltung unter Gottes Oberherrschaft.
Ja, weitere Fragen, Anregungen oder Nachfragen? Der Mann hat auch so viel gemacht, oder? Ich könnte euch noch ein paar Fragen stellen und sie dann selbst beantworten. Aber das muss nicht sein.
Wenn ihr hier etwas als Ermutigung mitgenommen habt, dann lasst euch von Gott gebrauchen in eurem Umfeld. Denkt daran, dass Gott immer wieder auch in der Gesellschaft Kehrtwendungen bewirkt hat. Deshalb habe ich bewusst erwähnt, wie kaputt die Gesellschaft in der Umgebung von Glaucha war und wie Gott in einer moralisch und geistlich schwierigen Welt durch Leute wie August Hermann Francke eine Wende vollzogen hat, die niemand erwartet hätte.
Das kann motivierend sein. Es kann nicht sein, dass wir in einer Situation leben, in der der Großteil der Menschen um uns herum nicht fromm oder christlich sein will. Aber auch dort, wo Christen sich von Gott gebrauchen lassen, können sie in der Gesellschaft Veränderungen bewirken, die vielen Menschen zum Segen werden.
Ich glaube, das kann uns alle motivieren, auch wenn nicht jeder von uns August Hermann Francke werden muss. Das muss auch gar nicht sein, wir sind ja nicht alle Paulus oder Luther.
Jetzt gibt es noch eine Frage oder Bemerkung, ich weiß es nicht. Michael, da du selbst viel über August Hermann Francke gelesen hast, färbt das ja auch ab. Gibt es etwas, das du für deinen Ereignisunterricht übernommen hast? Du bist ja an der Bibelschule und machst viel in dieser Hinsicht.
Ja, das stimmt durchaus. Es gibt verschiedene Dinge, bei denen ich mich von seiner Pädagogik habe anregen lassen. Es gibt viele Beispiele. Ein Beispiel ist, Dinge anschaulich zu machen. Das war für ihn ein ganz wichtiges Anliegen. Natürlich kommt es darauf an, um welches Fach es geht. In manchen Fächern ist das relativ einfach, in anderen nicht so sehr.
Aber die Überlegung, wie man einen Sachverhalt, der vielleicht kompliziert ist, anschaulich machen kann, war für ihn sehr wichtig. Man spricht auch vom Pietismus, speziell bei Francke, als der Zeit der Entdeckung der Kindheit. Denn in der Erziehung davor wurden Kinder wie kleine Erwachsene behandelt. Kindgerechte Erklärungen gab es nicht, das wurde erst im Pietismus entdeckt.
Und genau das braucht es heute auch: Dass ich versuche, mich in die Situation meiner Schüler hineinzuversetzen, in ihre Lebenswelt. Es geht nicht nur um abstraktes Wissen, sondern darum, darauf ausgerichtet zu sein.
Ein weiteres Thema ist die Disziplin, die in der Schule immer eine Rolle spielt. Bei jüngeren Kindern vielleicht stärker als bei Bibelschülern, die ja meist älter und erwachsener sind. Aber auch dort braucht es Ermahnungen.
Ich habe versucht, von August Hermann Francke zu lernen, wie er seine Schüler ermahnt hat. Grundlage seiner Ermahnung war immer die Liebe – aber eine Liebe, die nicht sentimental ist und alles einfach durchgehen lässt. Es geht nicht nur darum, zu sagen, was falsch und richtig ist, sondern so zu ermahnen, dass der andere es akzeptieren kann und es ihm weiterhilft.
Das sind nur einige Beispiele. Es gibt noch viele weitere Dinge, die ich anregend für die eigene Arbeit finde.
Abschluss und Gebet
Welche Arbeit! Herzlichen Dank! Ich würde sagen, dann schließen wir hier ab.
Darf ich Sie bitten, noch mit uns zu beten? Gerne!
Vater im Himmel, vielen Dank dafür, dass du immer wieder in der Kirchengeschichte Menschen berufen hast, die sich für dich einsetzen ließen. Du hast sie geformt, gebraucht und dadurch Großes erreicht. Danke für Menschen wie August Hermann Francke, die uns Mut machen können. Sie zeigen uns, dass du die Weltgeschichte in deiner Hand hältst, dass du Dinge erneuerst und uns als Menschen gebrauchen kannst.
Ich möchte dich bitten, dass er uns in Erinnerung bleibt als jemand, der sich von dir gebrauchen ließ und der vieles in der Welt, in der wir heute leben, mit beeinflusst hat. Bitte zeige uns unseren Platz, an dem du uns gebrauchen willst – auch wenn dieser vielleicht nicht so groß ist wie der von August Hermann Francke. Gib uns Mut, die richtigen Entscheidungen zu treffen und dran zu bleiben, auch wenn es mühsam ist.
Hilf uns, Entscheidungen zu treffen, die vielleicht auch mal unpopulär sind, weil sie nicht mit dem Mainstream unserer Zeit übereinstimmen. Lass uns nicht nur auf die Menschen schauen, sondern so wie August Hermann Francke darauf achten, was du daraus machen kannst. Selbst wenn es nur wenig Geld ist, kannst du eine große Sache daraus machen. Selbst wenn unsere eigenen Fähigkeiten begrenzt sind, kannst du sie in großer Weise gebrauchen.
Ich bitte dich, dass du jedem von uns den Platz zeigst, an dem wir gebraucht werden, und uns ermutigst. Führe uns weiter, damit wir ein Stück weit in dieser Welt Zeugen für dich sein können. Lass uns mithelfen, Menschen zu motivieren und zu dir zu führen, sodass sich die Welt in unserer Umgebung durch das, was du durch uns machst, verändert.
Danke, dass wir da nicht alleine sind, sondern dass du uns dafür vorbereitest, an unserer Seite stehst und uns den Heiligen Geist gegeben hast. Er gibt uns die richtigen Worte und Gedanken und auch die Kraft, die wir im Alltag brauchen.
Amen.