Einführung in das Gleichnis und dessen Charakter
Ich habe heute Morgen für euch ein Gleichnis herausgesucht, ebenfalls aus dem Matthäusevangelium, genauer gesagt aus Kapitel 18.
In Matthäus 18, Vers 23 geht es um einen unangenehmen Charakter, der uns vorgestellt wird. Es ist eine Person, mit der wir wahrscheinlich nichts zu tun haben wollen. Ihr werdet das gleich merken und hoffentlich genauso empfinden wie die Zuhörer Jesu damals. Sie dachten sich: „Dieser schlimme Kerl, so wollen wir nicht handeln.“
Um wen handelt es sich? Es ist der unbarmherzige Knecht, oder auch unbarmherzige Sklave genannt, wie es in Matthäus 18, Vers 23 heißt: „Deshalb ist das Himmelreich einem König ähnlich, der mit seinen Sklaven Abrechnung halten wollte.“
Als er anfing abzurechnen, wurde einer zu ihm geführt, ein Schuldner von zehntausend Talenten. Da er aber zahlungsunfähig war, befahl der Herr, ihn, seine Frau, seine Kinder und alles, was er hatte, zu verkaufen, um die Schulden zu begleichen.
Da fiel nun der Sklave nieder, huldigte ihm und sagte: „Hab Geduld mit mir, ich will dir alles bezahlen.“ Aber der Herr hatte Mitleid mit diesem Sklaven und ließ ihn laufen. Er erließ ihm die gesamte Schuld.
Als jener Sklave jedoch herauskam, fand er einen seiner Mitsklaven, der ihm hundert Denare schuldete. Er packte ihn, würgte ihn und sagte: „Bezahl alles, was du schuldig bist!“
Da fiel nun sein Mitsklave nieder, bat ihn und sagte: „Hab Geduld mit mir, ich will dir alles bezahlen.“ Doch der Sklave wollte nicht nachgeben. Er ging weg und warf den Mitsklaven ins Gefängnis, bis er das Geschuldete bezahlt hätte.
Als nun die anderen Mitsklaven sahen, was geschehen war, empörten sie sich sehr. Sie gingen und meldeten ihrem Herrn alles, was geschehen war.
Da rief ihn sein Herr herbei und sagte zu ihm: „Du böser Sklave, jene ganze Schuld habe ich dir erlassen, weil du mich batest. Hättest nicht auch du dich deines Mitsklaven erbarmen müssen, wie ich mich deiner erbarmt habe?“
Der Herr wurde zornig und überlieferte ihn den Folterern, bis er alles bezahlt hätte, was er schuldete.
So wird auch mein himmlischer Vater euch tun, wenn ihr nicht jedem von ganzem Herzen vergebt, der euch etwas schuldig ist.
Aufbau und Kontext des Gleichnisses
In der Geschichte gibt es eigentlich drei Szenen, die alle sehr ähnlich aufgebaut sind, teilweise sogar bis in den Wortlaut hinein. Es geht immer darum, dass eine Schuld besteht – hier finanzielle Schulden – die eine Person gegenüber einer anderen hat. Die Frage ist, wie diese Person damit umgeht. Die Person, die das Geld schuldet, ist in allen drei Fällen nicht zahlungsfähig.
Im dritten Fall handelt es sich um dieselbe Person wie im ersten Fall, aber es ist eine neue Situation, in der über die Schuld verhandelt wird. Im ersten Fall wird die finanzielle Schuld erlassen, im zweiten Fall nicht, und im dritten Fall ebenfalls nicht. Drei Situationen, die sehr ähnlich sind.
Solche Geschichten, wie wir sie hier haben, finden sich auch im Judentum bei den Rabbinern. Dort gibt es eine ganz ähnliche Erzählung: Ein König erlässt seinen Schuldnern ihre Schulden und verhindert damit auch ihre Schande. Anschließend fordert er sie auf, das Gleiche gegenüber ihrem Nächsten zu tun. Der letzte Teil fehlt allerdings in diesem rabbinischen Gleichnis, aber die Grundidee ist ähnlich.
In einer anderen rabbinischen Quelle wird beschrieben, dass eine Stadt ihre übergroße Schuld gegenüber dem König – also ihre Steuern – nicht bezahlen kann. Daraufhin vergibt der König großzügig. Das zeigt, dass die Idee, anderen aus Gnade etwas zu erlassen, in der Umwelt Israels häufiger vorkommt.
Wenn wir uns den Kontext anschauen, sehen wir zunächst den Hinweis, dass Christen einander ermahnen sollen. Das steht in Kapitel 18, Vers 15: „Wenn dein Bruder sündigt, dann geh hin und ermahne ihn.“ Hier wird zur Ermahnung aufgefordert.
Ab Kapitel 18, Vers 21, geht es dann um Vergebung. Dort wird die Frage behandelt, wie oft man vergeben muss und ob Vergebung überhaupt notwendig ist. Dazwischen, in Kapitel 18, Vers 19, steht: „Gott ist allezeit bei euch.“ Das bedeutet, Gott ist in eurer Mitte.
Generell wird in den vorhergehenden Versen das Zusammenleben der Christen näher beschrieben. Dieses Zusammenleben findet unter der Gegenwart Gottes statt. Weil Gott gegenwärtig ist, müssen einerseits Sünder zurechtgewiesen werden, da Gott heilig ist und Unheiligkeit nicht duldet. Andererseits sind die Christen herausgefordert zu vergeben, weil Gott selbst vergibt. Die Charaktereigenschaften Gottes sollen also das Zusammenleben der Christen bestimmen.
Das ist der Kontext, in dem das Gleichnis steht.
Direkt danach beginnt ein ganz neuer Abschnitt, der nicht mehr direkt mit dem zu tun hat, was Jesus in dem Gleichnis erzählt. Denn nach Vers 35 folgt Kapitel 19, Vers 1: „Und es begab sich, als Jesus diese Reden vollendet hatte, dass er sich aufmachte als Galiläer und in ein anderes Gebiet kam.“ Hier wird also die Rede abgeschlossen und der Ort gewechselt. Es scheint kein direkter Zusammenhang mehr zu bestehen.
Der Zusammenhang liegt vielmehr darin, dass das, was Jesus vorher bespricht, nämlich das Verhalten der Christen untereinander in der Gegenwart Gottes, als Hintergrund für das Gleichnis dient. Diesen Hintergrund können wir nutzen, um das Gleichnis etwas näher zu betrachten.
Die erste Szene: Die Abrechnung mit dem König
Ich gehe jetzt Vers für Vers vor, Vers 23.
Deswegen ist das Himmelreich, also der Herrschaftsbereich Gottes, auch hier auf der Erde schon, einem König gleich, der mit seinen Sklaven Abrechnung halten wollte. Sicherlich ist klar, für damals wie für heute: Der König weckt Assoziationen und Erinnerungen an Gott. Das ist auch nicht ungewollt, sondern durchaus seine Absicht. So wie der König handelt, so handelt Gott – zumindest in gewisser Hinsicht.
Nun ist es allerdings so, dass Könige damals real existierten und auch wirklich Macht hatten. Heute, in Deutschland, gibt es gar keine Könige. Und auch in anderen europäischen Ländern, wo Könige sind, sind diese eher Schauspieler, die König spielen. Praktisch haben sie fast keine Kompetenz und sind dann nur in der Regenbogenpresse präsent. Damals gab es wirklich Könige, die Macht hatten und über Leben und Tod entscheiden konnten. Daraus ergibt sich eine viel größere Brisanz, die hinter dieser Abrechnung steckt.
Diese Abrechnung – das haben wir ja auch schon in anderen Gleichnissen gesehen – ist so, dass jetzt ein Resümee gezogen wird, ein Schlusspunkt gesetzt wird und das Leben bewertet wird, was vorher gelaufen ist. Das erinnerte die Juden damals und uns heute sicherlich immer an Gericht. Gott übt Gericht, und in diesem Gericht wird beurteilt: Wie sieht dein Leben aus? Was ist in Ordnung und was nicht?
Hier ist ein Sklave, manche Bibelübersetzungen benutzen das Wort Knecht, wobei das, was hier steht, „doulos“ meint, eigentlich Sklave. Das heißt, es besteht eine ganz enge Verbindung zu dem König. Er ist wahrscheinlich jemand, der für ihn handelt und arbeitet. Es war damals durchaus üblich, dass auch Sklaven Geldgeschäfte für den Herrn tätigten. Hier scheint es genauso zu sein. Er hat von dem Herrn Geld bekommen, in der Hoffnung, daraus noch mehr Geld zu machen und das Gut zu verwalten.
Jetzt kommt entweder die Abrechnung zu früh, oder er soll auf jeden Fall Rechenschaft abgeben. Er gibt das Geld zurück, ist aber nicht in der Lage dazu. Er ist also in enger Abhängigkeit zu seinem Herrn dabei.
Die Reaktionen, die später kommen, sind dann nicht unbedingt üblich, wie man es damals erwartet hätte. Als er anfangen musste abzurechnen, wurde einer zu ihm geführt, ein Schuldner von zehntausend Talenten. So scheint das auch nicht der Einzelfall zu sein. Hier wird nicht nur der einzelne Schuldner genannt.
Es ist auch nicht so, dass der König ihn ruft, wie wir es beim anderen Gleichnis gesehen haben, weil er denkt, er sei ungerecht oder ein Betrüger. Nein, vielmehr holte er alle seine Sklaven, die mit Geldgeschäften zu tun hatten, und will von ihnen Rechenschaft sehen. Er will wissen, was dabei herausgekommen ist.
Hier kommt der mit den zehntausend Talenten. Diese zehntausend Talente sind eine riesige Summe. Der, den wir hier vorgestellt bekommen, muss also irgendein besonders wichtiger Sklave gewesen sein – vielleicht ein Haushofmeister oder ein Finanzminister. Solche Positionen hatten manchmal auch Sklaven inne. Das zeigt, wie groß die Summe ist.
Gleichzeitig sagt es uns etwas über den König. Denn das muss ein König sein, der viel Macht und Geld hat, sonst könnte er solche Summen gar nicht verleihen. Und das ist nur eine der Summen, die er einfordert. Was wir im Nachhinein sehen, ist, dass er sogar diese Summe verschenken kann. Also muss es ein sehr mächtiger König sein. Es ist nicht einfach ein Lokalherrscher, sondern ein mächtiger König.
Die Zuhörer damals, wie wir heute wahrscheinlich auch, können sich weder mit dem König noch mit diesem reichen Schuldner voll identifizieren. Denn diese Summe, um die es hier geht, liegt jenseits unserer Maßstäbe. Ich gehe mal davon aus, wenn eure Maßstäbe vergleichbar mit meinen sind – oder selbst wenn ihr zehnmal so viel habt – dann seid ihr immer noch weit entfernt von dem, was hier in allen Größenordnungen vor Augen steht.
Manche Bibelausleger wollen deshalb nicht von 10 Talenten sprechen, sondern von 10 Denaren. Das wäre einige Stufen niedriger, und dann wäre es durchaus möglich, dass ein reicher Kaufmann oder ein reicher Zöllner, der seine Pacht hatte – also die Zolleinnahmen gepachtet und wieder vermietet –, hinterher zu dem kommt, von dem er das Geld fordert und es eintreibt. Das wäre möglich.
Das einzige Problem an dieser Deutung ist, dass wir keine Abschriften haben, die Denare schreiben. Alle Abschriften, die wir von diesem Gleichnis aus früher Zeit haben, sprechen von Talenten. Jesus will hier scheinbar etwas vollkommen absurd Hohes annehmen, etwas, das für den normalen Menschen unerreichbar schien. Wahrscheinlich soll dadurch zum Ausdruck gebracht werden, dass dieser Sklave gar keine Chance hat. Es ist also sinnlos, überhaupt anzufangen zu rechnen, zu verkaufen oder zu hoffen. Egal, was er verkauft, er hat keine Chance. Das soll vor Augen geführt werden.
Diese Summen gab es durchaus. Es gab Könige, die für ihren Staat über solche Summen verfügten, beispielsweise Antiochus Epiphanes. Er hatte vor Christus den jüdischen Tempel erobert, geplündert und an die Schweine geopfert – eine ganz üble Sache, um die Juden zu verspotten. Das lesen wir im Makkabäerbuch, also in den Apokryphen des Alten Testaments. Dort hat er aus dem Tempel 1800 Talente geraubt. Das war der Tempelschatz der damaligen Zeit und schon eine immense Summe. Gegen zehntausend ist das aber immer noch relativ wenig.
Der reichste Mann Griechenlands aus dieser Zeit, ein Alexandros, hatte als Privatmann knapp über zweihundert Talente. Also nicht als König, sondern als Privatmann. Das war damals schon immens viel.
Dann haben wir beispielsweise Kleopatra, die Herrscherin über Ägypten. Sie hatte später ein Liebesverhältnis mit Antonius aus dem römischen Reich. Um ihn zu bestechen, nahm sie alle Reichtümer Ägyptens, die sie zusammenraffen konnte, und brachte sie zu Antonius nach Ephesos. Bei Plutarch wird berichtet, dass das zwanzigtausend Talente waren. Das ist also die Menge an Reichtümern eines reichen Landes.
Hier merken wir: Für einen Privatmann 10 Talente zu bekommen, ist unvorstellbar hoch. Wenn wir das übertragen würden, müssten wir eher an Summen von Milliarden Euro denken. Es geht nicht mehr um Millionen, sondern um Milliarden Euro, die er zahlen müsste.
Es sind die Einnahmen eines ganzen Staates, die dahinterstehen, als Vergleichsmaßstab. Und dann ist uns vollkommen klar – jeder Zuhörer damals und auch heute: Stell dir vor, du kommst vor Gericht und man sagt dir, du musst fünf Milliarden zurückbezahlen. Welche Chancen hast du da? Ich schätze, die meisten von uns hätten tatsächlich null Chancen. Für mich wäre es ungefähr dasselbe, als wenn man fünf Millionen hätte. Aber fünf Milliarden – da müsste man tausend Jahre leben, um das zusammenzubekommen. So war es auch für die Zuhörer damals.
Der Mann, der das hier geliehen hat, muss erst einmal ein reicher Herrscher sein. Wahrscheinlich hatte er großes Vertrauen und wollte eine große Spekulation machen, die nicht aufgegangen ist. Das Geld ist jetzt weg oder noch nicht eingegangen zum Zeitpunkt der Abrechnung. Es scheint so, als ob er noch Hoffnung hat, das Geld zurückzubekommen. Das lesen wir vielleicht im nächsten Vers. Vielleicht ist das auch bloß ein Vorwand, um nicht ins Gefängnis zu kommen.
Übrigens: Das Wort „Schuld“, das hier erwähnt wird – „du schuldest mir das“ – wurde von Jesus eigentlich auf Aramäisch beziehungsweise Hebräisch gesprochen und nicht auf Griechisch. Dieses Wort, das im Hebräischen benutzt wird, wurde im alten Israel auch für Sünde verwendet. Hier soll bewusst beim Zuhörer die Assoziation geweckt werden: Du bist mir etwas schuldig – finanziell, aber auch als Sünde, als Schuld mir gegenüber.
Als Christen kennen wir das Doppeldeutige von Schuld und Schulden. Jemand, der nicht Christ ist, denkt bei Schulden in erster Linie an Geld. Aber hier ist im hebräischen Kontext „Schulden“ auch moralische Schuld vor Gott gemeint.
Die Zahlungsunfähigkeit und die Konsequenzen
Vers 25: Da er aber zahlungsunfähig war, befahl der Herr, ihn, seine Frau, seine Kinder und alles, was er hatte, zu verkaufen, um sich bezahlen zu lassen.
Der Schuldner kann sein Geld nicht zurückzahlen, ist aber nicht völlig mittellos. Er ist ein hochgestellter Sklave am Hof, besitzt ein Haus, weitere Besitztümer und hat eine Familie. Nun sagt der Herrscher: Wenn ich schon wenig bekomme, dann wird hier Insolvenz angemeldet. Es wird alles verkauft, was noch vorhanden ist.
Damals war es durchaus üblich, Menschen zu verkaufen. Nach römischem Recht und auch nach hellenistischem Recht – also dem Griechenland jener Zeit, zu der Israel zum Römischen Reich gehörte – war es möglich, Menschen wegen ihrer Schulden in die Sklaverei zu verkaufen.
Die Sklavenpreise lagen damals zwischen 500 Denaren und 2 Denaren. Es handelt sich um Denare, nicht um Talente. Talente werde ich später noch erklären, um das Verhältnis deutlich zu machen. Das bedeutet, man konnte durch den Verkauf des Schuldners nur eine kleine Summe eintreiben, die jedoch minimal im Vergleich zu den Schulden war. Die Summe hing davon ab, wie groß die Familie war und wie kräftig die Mitglieder waren.
Im römischen Zivilprozessrecht war das vorgesehen. Um die Zeit des Neuen Testaments nahm diese Praxis im Römischen Reich große Ausmaße an, weil sich viele Menschen verschuldeten. Sie wurden entweder versklavt oder in ein Gefängnis eingesperrt. Dort blieben sie, bis die Schulden bezahlt waren, was die Gefangenen selbst meist nicht leisten konnten. Man hoffte, dass die Angehörigen das Geld aufbringen würden, um die Haft zu beenden. Auch diese Form der Schulthaft gab es.
In Israel war es ebenfalls möglich, Menschen wegen Schulden zu verkaufen. Das lesen wir beispielsweise in 2. Könige 4,1 oder Jesaja 50,1. Dieses Recht war also bekannt. Es gab jedoch Einschränkungen: Frauen wurden normalerweise nicht verkauft, ebenso wenig die ältesten Söhne, damit die Familie erhalten blieb. Außerdem durfte man die Schuldner nicht an Heiden verkaufen. Es war schlecht, wenn ein Heide Herr über einen Juden wurde. Den Verkauf an andere Juden als Sklaven gab es jedoch durchaus.
In Israel war der Verkauf von Schuldnern häufiger als die Schulthaft. Das Einsperren von Schuldnern bis zur Zahlung war in Israel eher unüblich. Es gab kaum Gefängnisse. Stattdessen wurden Geldstrafen oder Körperstrafen verhängt, die möglichst sofort vollzogen wurden. Lange Gefängnisstrafen gab es nicht, im Gegensatz zum Römischen Reich.
Seit dem dritten Jahrhundert vor Christus gab es in Ägypten Gesetze, die die Schulthaft einschränkten. Viele Menschen landeten sonst im Gefängnis, was für den Staat teuer war, da er die Gefangenen bewachen und versorgen musste, bevor das Geld eingetrieben werden konnte. Deshalb versuchte man, die Haft einzuschränken.
Später, im Jahr 68 nach Christus, erließ Tiberius, der Jerusalem eroberte, ein Gesetz, wonach nur noch Schuldner, die dem Staat Geld schuldeten, in Haft genommen werden durften. Wer Privatschulden hatte, durfte nicht mehr ins Gefängnis gebracht werden. Der Staat wollte so die Kosten für die Haft vermeiden.
Diese juristischen Hintergründe verdeutlichen die damalige Situation. Die Zuhörer dürften in diesem Zusammenhang an einen heidnischen König gedacht haben, weil das Prinzip der Schulthaft – „Ich sperre dich ein, bis du bezahlst“ – eher an einen heidnischen Herrscher erinnerte als an einen jüdischen.
Das war jedoch nicht unbedingt problematisch, denn die jüdischen Herrscher waren zu Zeiten Jesu eher schwach. Es gab nur vier Fürsten, die über kleine Gebiete herrschten. Wenn man an einen mächtigen Herrscher dachte, kam eher der römische Kaiser in den Sinn. Wahrscheinlich war hier also ein großer Herrscher gemeint.
Die Bitte um Geduld und die überraschende Vergebung
Im nächsten Vers, Vers 26, fällt der Sklave nieder, huldigt dem Herrn und sagt: „Hab Geduld mit mir, so will ich dir alles bezahlen.“ Wenn hier steht „huldigen“, bedeutet das, dass er sich flach auf den Bauch legte. Das griechische Wort dafür ist proskynio, was „fußfällig verehren“ heißt. Damals war es üblich, sich vor Göttern flach auf den Bauch zu legen, um zu zeigen, dass man ihr Volk und machtlos ist. Man signalisiert damit: „Du kannst über mich hinweggehen.“ Das galt auch gegenüber sehr mächtigen Herrschern.
Der Sklave hat also nichts mehr zu verlieren. Er legt sich flach auf den Boden in der Hoffnung, irgendwie doch noch durch Geschäfte das Geld aufbringen zu können – obwohl das für Menschen unmöglich ist. Die Versicherung, dass er alles bezahlen könne, ließ die Zuhörer Jesu wahrscheinlich lächeln. Sie dachten wohl: „Verrückt! Der ist jetzt frei, weil er irgendetwas vorgemacht hat. Das geht ja gar nicht. Was der jetzt vorhat, der kriegt ja nie das Geld zusammen.“
Vielleicht dachten sie auch, der Sklave würde irgendeine Gaunerei aushecken – Bank überfallen oder so etwas –, um das Geld heranzubekommen. Denn unter normalen, menschlichen Umständen war das völlig unsinnig. Das heißt, es war keine ernsthafte Verhandlung mit dem Herrn, dem König. Von vornherein war klar: Das geht nicht mit rechten Mitteln.
Deshalb folgt in Vers 27 keine Antwort des Herrschers wie „Okay, ich stunde dir das, du bezahlst mir später.“ Das war dem König sowieso klar, dass das nicht funktionieren konnte. Seine Antwort lautet vielmehr: „Da aber hatte der Herr Mitleid mit dem Sklaven, ließ ihn laufen und erließ ihm das Darlehen, das Geld.“
Diese Reaktion überraschte die Zuhörer damals und wird auch uns heute wahrscheinlich überraschen. Viele von uns kennen dieses Gleichnis und sind daran gewöhnt, sodass es nicht mehr ganz erstaunt. Aber wenn ich euch so ein Gleichnis aus dem Alltag erzählen würde – zum Beispiel, ihr hättet Bill Gates eine Milliarde geliehen, was immerhin ein großer Teil seines gesamten Vermögens ist – und dann kommt ihr zu ihm und sagt: „Alles weg, leider nicht?“ Würde er dann auch so großzügig sagen: „Macht nichts, ich erfinde Microsoft noch einmal neu, dann habe ich das Geld wieder“?
Im täglichen Leben gibt es so etwas kaum, selbst bei kleineren Summen nicht. Stellt euch vor, ihr hättet all euer Hab und Gut verpfändet – euer Haus, Auto, alles – und der sagt: „Leider habe ich es nicht mehr.“ Wäre es dann leicht, so großzügig zu sagen: „Macht nichts, Schwamm drüber, ich schenke es dir“?
Wir merken, das ist ganz schön ungewöhnlich und nicht normal. Normale Menschen würden so nicht reagieren. Zumindest würden wir erwarten, dass der Herr aus der Haut fährt, den Sklaven erst richtig zusammenstaucht: „Du Verschwender, was fällt dir überhaupt ein?“ Vielleicht würde er nach ein paar Monaten, wenn er merkt, dass das Geld nicht kommt, sagen: „Na gut, dann verkaufe ich dich wenigstens als Sklaven, um wenigstens etwas zurückzubekommen.“
Doch hier geschieht das Gegenteil, und das soll bewusst die Zuhörer aufmerksam machen. Denn jetzt folgt eine Verhaltensweise, die ein Mensch normalerweise nicht zeigt. Diese deutet darauf hin, dass der König nicht einfach irgendein Mensch ist. Vielmehr steht hier ein Verhalten, das unvorstellbar großherzig und unmenschlich ist – und das letztendlich auf Gottes Verhalten hinweisen soll, besonders auf Gottes Verhalten in der Predigt Jesu.
Plötzlich wird ein Brückenschlag gemacht zwischen irdisch-materiellen Schulden und moralischer Schuld vor Gott. Diese Schuld ist ebenso immens groß, unbezahlbar, egal was wir tun.
Wir könnten jetzt zu Gott kommen und sagen: „Okay, ich werde mein Leben ändern, ich lese jeden Tag in der Bibel.“ Das ist sicher gut, aber die riesigen Schulden, die wir Gott gegenüber haben, werden dadurch bestenfalls minimal gemindert. Oder wir sagen: „Ich spende alles, was ich habe.“ Auch das hilft nur ein bisschen.
Das wäre, als wenn der Mann im Gleichnis sagt: „Gut, ich verkaufe mein Auto, mein Fahrrad, mein Haus.“ Vielleicht hat er dann, wenn er alles zusammengespart hat, ein Talent. Aber was ist mit den anderen 999 Talenten?
Jeder, der damals zuhörte, sollte genau das vor Augen geführt bekommen: Egal, was du Gott anbietest, um vor ihm gerecht dazustehen – das ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Es bringt nichts, denn deine Schulden Gott gegenüber sind viel, viel größer als das kleine bisschen, das du tun kannst. Das Wenige, das wir tun, reicht gerade einmal, um die Zinsen zu zahlen, nicht einmal die eigentliche Schuld.
Das ist unmöglich, vollkommen unmöglich! Die einzige Chance, der Sklave hat, um der Sklaverei und der ewigen Strafe zu entgehen, ist, dass ihm jemand die Schuld erlässt. Aber warum sollte das jemand tun? Das ist unvorstellbar!
Hier werden die Zuhörer sich sicherlich erst einmal zugeflüstert haben: „Was ist das? Wie macht er das? Warum tut er das? Das kann doch gar nicht geschehen.“
Es geht nicht darum, dass der König einfach denkt: „Das Geld bekomme ich sowieso nicht.“ Sonst hätte er sagen können: „Okay, dann verkaufe ich ihn als Sklaven, aber wenigstens ein bisschen bekomme ich zurück.“
Es geht hier um einen Gnadenakt, der unverdient ist – und trotzdem macht ihn der König. Das zeigt, dass es sich nicht um einen gewöhnlichen König handelt. Es ist ein ungewöhnlicher Fall, überhaupt eine solche Summe auszuhandeln.
Ist das nicht schon vorher ein ungewöhnlicher König? Ja und nein. Es gab durchaus Fälle, in denen in großen Staatsgeschäften Leuten, denen man sehr viel Vertrauen schenkte, solche Summen anvertraut wurden. Das war schon sehr ungewöhnlich. Deshalb müssen wir davon ausgehen, dass dieser Sklave kein normaler Sklave war. Er war ein ganz außergewöhnlicher, der großes Vertrauen vom Herrn genoss. Umso tiefer war dann die Enttäuschung, dass alles scheinbar nicht geklappt hatte. Aber das war noch im Bereich des Möglichen.
Wir wissen zum Beispiel, dass die Einkünfte einer ganzen Provinz – wie etwa Asien – über mehrere Jahre verpachtet wurden. Meistens wurden die Steuern an Privatleute verpachtet. Wenn man für fünf Jahre verpachtet hatte, konnten schon mal zehn Talente zusammenkommen. Das heißt, die Steuereinnahmen eines ganzen Landes über mehrere Jahre wurden an Angestellte oder Geschäftsleute verpachtet, und solche Summen konnten so entstehen.
Das ist dann aber nicht mehr der normale private Bereich, sondern Staatshaushalt. Manchmal waren auch Sklaven in großen Reichen wie im Römischen Reich für Staatsaufgaben zuständig. Von daher ist das zwar schon ziemlich extrem, aber noch im Bereich des Möglichen.
Das, was jetzt geschieht, war jedoch undenkbar. So etwas gab es damals nicht.
Ein Beispiel aus der Bibel ist Josef, der Sklave war und nach dem Pharao über riesige Summen verfügte.
Die zweite Szene: Die harte Reaktion des Schuldners
Vers 28: Als jener Sklave jedoch herauskam, fand er seinen Mitsklaven, der ihm hundert Denare schuldete. Er packte ihn, würgte ihn und sagte: „Bezahl alles, was du schuldig bist!“
Hier staunten die Zuhörer wieder. Das war etwas vollkommen Ungewöhnliches. Normalerweise sind es die Geldgeber, die auf jemanden zugehen, der ihnen Geld schuldet, und ihn am Hals packen oder würgen. Heute ist das ungewöhnlich; heutzutage kommen die Leute im Nadelstreifen und versuchen eher mit Papieren Druck auszuüben. Damals war man handgreiflicher. Wenn du das Geld nicht zurückgegeben hast, hast du es zurückgeben müssen – sozusagen, um den Druck zu erhöhen und zu sagen: „Jetzt mach es wirklich!“ Das war damals durchaus üblich.
Die Leute, die damals diese Reaktion sahen, dachten: „Ja, das ist mir vielleicht auch schon passiert.“ Das Ungewöhnliche ist hier nicht unbedingt, was dieser Sklave tut. Das Besondere liegt an einer anderen Stelle: Gerade war ihm sein Leben wieder geschenkt worden, ihm war eine immens hohe Summe erlassen worden. Und trotzdem reagiert er so kleinlich, fast so, wie ein geldgieriger Geldverleiher damals reagiert hätte.
Hätte Jesus nur diesen Teil des Gleichnisses erzählt, hätten die Leute genickt und gesagt: „Ja, das haben wir auch schon erlebt, von den reichen Leuten, die uns so auspressen.“ Aber hier geht es um eine so geringe Summe, und er überreagiert total. Dieser Mann verfügte über solche Summen, dass er selbst hingeht und den anderen so fertig macht. Was soll denn dieser Quatsch? Er überreagiert total.
Warum gibt er nicht einmal ein kleines Geschenk an die Bettler weiter, obwohl ihm so viel vergeben wurde? Das ist unvorstellbar für jemanden, der zuhört.
Um einen Vergleich zu geben: Ein Talent entsprach ungefähr sechstausend Drachmen. Der Sklave war dem König zehntausend Talente schuldig. Kurze Kopfrechnung: Zehntausend mal sechstausend sind sechzig Millionen Drachmen.
Jetzt schauen wir die Schuld an: Was ist er seinem Mitsklaven schuldig? Hundert Drachmen! Ihm wurden gerade sechzig Millionen Drachmen erlassen, und jetzt geht es um hundert. Hundert Drachmen waren für einen Normalbürger keine geringe Summe. Man ging davon aus, dass ein normaler Bauer, wenn er fleißig sparte, vielleicht in einem Jahr hundert Drachmen zurücklegen konnte.
Das heißt, wenn er dem Mitsklaven die Daumenschrauben angelegt hätte und gesagt hätte: „Du musst jetzt arbeiten und das bezahlen“, wäre das unmöglich gewesen. Aber er reagiert total übertrieben, würgt ihn und will ihn einsperren – wegen hundert Drachmen im Vergleich zu sechzig Millionen Drachmen, die ihm gerade erlassen wurden.
Hier zeigt sich vollkommene Brutalität und mangelndes Mitgefühl. Das ist die Reaktion.
Vers 29: Da fiel sein Mitsklave nieder, bat ihn und sagte: „Hab Geduld mit mir! Ich will dir alles bezahlen.“ Im Gegensatz zu dem, was er selbst dem König gegenüber getan hat, ist diese Ankündigung seines Mitsklaven durchaus realistisch. Wie gesagt, in etwa einem Jahr konnte er hundert Drachmen zusammensparen, wenn er fleißig war.
Dem König jedoch konnte er das nie zurückzahlen. Das heißt: Wo er dem König nicht zahlen konnte und der König gnädig reagierte, ist die Reaktion des Sklaven gegenüber seinem Mitsklaven noch viel extremer.
Hier gibt es eine realistische Aussicht, dass er später zahlt. Es geht nicht darum, dass er das Geld verschenken müsste. Er müsste einfach nur Gnade bekommen, um später zu zahlen. Das Verhalten des Sklaven geht gar nicht darum, das Geld einzufordern, sondern darum, dass er so brutal vorgeht und sich dabei vollkommen ins Unrecht setzt.
Vers 30: „Der aber wollte nicht, sondern ging weg und warf ihn ins Gefängnis, bis er das Geschuldete bezahlt hätte.“
Diese Schulden waren zu gering, um den Mitsklaven als Sklaven zu verkaufen. Wie gesagt, ein Sklave kostete zwischen 500 und 2000 Denaren, und hier war er nur hundert schuldig. Das heißt, er durfte ihn nicht kaufen, aber er konnte ihn einsperren und so lange festhalten, bis die Angehörigen genug Geld zusammengebracht hatten, um die Schuld zu begleichen. Das war sein Vergehen – diese Brutalität des Alltags.
Johannes Chrysostomus, ein bekannter Prediger aus der Kirchengeschichte, deutete dieses Gleichnis so: Es soll uns vor Augen führen, wie groß die Schuld ist, die Gott uns vergeben hat, im Vergleich zu der Schuld, die andere uns schuldig sind. Es soll uns zeigen, dass wir, wenn uns jemand wirklich etwas Böses getan hat, nicht einfach alles unter den Tisch kehren sollen. Es ist schon eine Schuld da.
Aber im Vergleich dazu, was uns alles erlassen wurde, sollten wir großzügiger mit anderen umgehen und eher bereit sein zu vergeben.
Vergebung heißt nicht, zu sagen, es gab keine Schuld. Doch es gibt echte Schuld, nicht eingebildete. Echte Schuld meint, wenn jemand böse und schlecht zu uns war, uns belogen, bestohlen oder verletzt hat.
Es heißt auch nicht, dass wir alles verschenken sollen. Aber wenn wir dann auftreten und sagen: „Jetzt kommst du vor Gericht, ich werde dich auspressen, und du musst alles verkaufen“, dann sind wir wie der Sklave im Gleichnis. Das ist nicht rechtens.
Juristisch hatte er zwar Recht, das Geld war schuldig. Aber hier soll der Blick darauf gerichtet werden, wie viel dir vergeben wurde. Vergiss das nicht: Du bist vor der ewigen Verdammnis gerettet. Du hättest keine Chance, durch alles, was du tust, ewig vor Gott gerettet zu werden.
Das hat Gott dir geschenkt. Sei doch nicht so kleinlich gegenüber anderen. Es gibt Schuld, aber vergib sie doch oder gib dem anderen zumindest eine Chance, sie abzuarbeiten oder wiedergutzumachen – statt ihn gleich auf eine brutale Art fertigzumachen.
Die Reaktion des Königs und die Konsequenzen für den unbarmherzigen Sklaven
Vers 31: Als nun seine Mitsklaven sahen, was geschehen war, empörten sie sich sehr. Sie gingen und meldeten alles ihrem Herrn, was vorgefallen war. Ihre Empörung ist ähnlich groß wie die unsere als Zuhörer.
Der Ärger entsteht nicht einfach daraus, dass jemand Geld verliehen hat und dieses zurückfordert. Wäre die Vorgeschichte nicht, wäre die ganze Angelegenheit eine ganz andere. Doch gerade diese Vorgeschichte setzt das Geschehen in ein vollkommen anderes Licht.
Die Sklaven gehen zum Herrn und sind empört. Hier können wir uns auch ein Stück weit identifizieren – selbst wenn wir keine superreichen Könige sind oder nicht riesige Summen verliehen haben. Der Herr hört die Meldung.
Vers 32: Da rief der Herr den Sklaven herbei und sagte: „Du böser Sklave, jene ganze Schuld habe ich dir erlassen, weil du mich batest.“
Hier wird mit dem Sklaven nicht mehr diskutiert. Es wird nicht mehr gefragt, warum er so gehandelt hat. Zuvor durfte er noch um Vergebung bitten und versprechen, alles zu tun. Doch diese Chance ist vorbei. Er hat die Vergebung erhalten, und jetzt ist Schluss. Sein Verhalten war vollkommen unangemessen. Es gibt keine Gnade mehr.
Das ist das Ergebnis. Es gibt eine Zeit, in der Gnade möglich ist – hier war diese Zeit. Doch jetzt ist sie vorbei. Der König will keine Verhaltensänderung mehr. Er sagt: „Jetzt hast du deine Chance gehabt, es ist Ende.“
Hier stellt sich die Frage, ob das auch in unserem Alltag so sein kann. Es gibt Menschen – Nachbarn, Arbeitskollegen, vielleicht unsere Kinder oder Ehepartner, aber auch wir selbst –, die sich falsch verhalten. Wie gehen wir damit um?
Eifern wir so sehr, dass wir nur darauf fixiert sind, den anderen verbal fertigzumachen, durch üble Nachrede oder anderes? Oder sind wir auch zur Vergebung bereit, selbst wenn wir im Recht sind?
Es geht hier nicht darum, wie in der Bergpredigt Jesu (vgl. Matthäus 7,3-5), dass man den Balken im eigenen Auge sieht, während man den Splitter im Auge des anderen bemängelt. Nein, es geht darum, dass jemand schuldig ist und etwas falsch gemacht hat. Aber wie gehen wir damit um?
Das ist der entscheidende Punkt: Verzichte ich auf Genugtuung? Verzichte ich auf einen eigenen Vorteil im Vergleich zu dem, was Gott mir gegeben hat?
Das ist kein normales menschliches Verhalten, sondern ein geistliches. Menschen könnten es als ungewöhnlich oder sogar falsch ansehen. Aber Christen können das zumindest tun.
Vers 33: „Hättest du dich nicht auch deines Mitsklaven erbarmen müssen, wie ich mich deiner erbarmt habe?“
Vers 34: Sein Herr wurde zornig und überlieferte ihn den Folterern, bis er alles bezahlt hatte, was er schuldete.
Nun wird alles wieder eingefordert. Die Zuhörer denken wahrscheinlich damals wie heute: „Dem herzlosen Kerl geschieht das Recht.“ Er hätte anders reagieren müssen. Vielleicht denken wir auch: „Der arme Mann.“ Aber so ist die Geschichte aufgebaut.
Der große Sklave wird so behandelt, wie er seinem Untergebenen gegenüber gehandelt hat. Dass Könige Folterungen anordnen, gibt es heute zum Glück nicht mehr. Damals war das jedoch verbreitet. Wir wissen auch von Herodes, der Johannes den Täufer foltern ließ, und von Pilatus, der Jesus auspeitschen ließ.
Folterungen hatten damals einen Zweck. Wir müssen uns fragen: Wozu dienten sie? Die Schulden entstanden ja nicht durch die Folterung. Die Absicht war nicht, Grausamkeit zu befriedigen. Es ging darum, dass der Schuldner leiden und schreien musste, damit seine Angehörigen motiviert wurden, das Geld schnell zusammenzubringen.
Wenn zum Beispiel die Frau des Gefangenen seinen Schmerz sieht, soll sie sich mobilisieren, um ihn schnell zu befreien. Die Folterung war ein systematisches Mittel, um die Angehörigen unter Druck zu setzen. Heute ist das natürlich illegal.
Wir wissen, dass der reiche Sklave keine Chance hatte, seine Schulden zu bezahlen. Diese Chance hatte er vorher nicht und jetzt auch nicht. Er wird also im Gleichnis ewig im Gefängnis schmoren.
Hier wird das Gleichnis religiös: Das ewige Leiden steht als Bild für die Hölle, den Ort, an dem Menschen ewig von Gott getrennt sind. Sie kommen nicht mehr heraus, weil sie die Chance, ihre Schuld vergeben zu bekommen, vertan haben.
Der Mann hätte Barmherzigkeit erfahren können, aber durch sein Verhalten hat er sie verspielt.
Ähnliche Aussagen finden wir zum Beispiel in Matthäus 5,48 nach dem Vaterunser oder bei den Seligpreisungen in Matthäus 5,7, wo es heißt: „Wenn ihr nicht vergebt, wird euch auch nicht vergeben werden.“
Das scheint hier der Zusammenhang zu sein: Die unerwartete Vergebung soll der Vergebung entsprechen, die Jesus den Menschen anbietet – ohne dass sie etwas dafür tun können. Diese Vergebung ist vollkommen gratis.
Das ethische Problem und theologische Deutungen
Hier haben wir natürlich ein ethisches Problem bei dieser Wendung der Geschichte. Das ethische Problem besteht darin, dass dieser König nicht in allen Eigenschaften wie Gott ist.
Zum Beispiel merkt er nicht von vornherein, dass dieser Knecht etwas Schlechtes macht. Andere müssen ihm das erst erzählen. Er ist also scheinbar nicht allwissend. Vor allem könnten wir sagen: Wenn er Gott wäre, würde er ja im Herzen der Menschen sehen und erkennen, dass dieser Knecht so böse ist. Dann bräuchte er es erst gar nicht, ihm zu vergeben.
Das ist hier nicht der Fall. Wir müssen sehen, dass das Gleichnis nur in bestimmter Hinsicht das Verhalten Gottes trifft. Trotzdem haben wir ja das ethische Ärgernis, dass scheinbar Gott die Vergebung, die er gibt, wieder zurücknimmt. Das ist das Ärgernis dabei, nicht?
Denn am Anfang sagt er, die Schuld ist vergeben, und wir denken, super, das ist ja ein Bild für Gott. Aber wie ist das zweite Verhalten? Jesus sagt am Ende doch, so handelt Gott auch. Und am Ende des Vaterunsers, wo wir bitten: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“, steht direkt im Anschluss: „Und wenn ihr nicht vergebt, wird euch auch nicht vergeben.“
Für uns stellt sich nun die Frage: Wie sieht das aus? Hier ist auch die Frage nach der Verlierbarkeit unseres Heils. Ist es möglich, dass wir unsere Rettung, die wir einmal bekommen haben, durch falsches Verhalten aufs Spiel setzen? Und dann sagen: Jetzt ist alles vorbei, jetzt werden wir ewig von Gott getrennt sein?
Zuerst ein paar wichtige Personen aus der Kirchengeschichte, was sie dazu gesagt haben. Augustinus sagte, die vergebenen Schulden können zurückkehren, wenn keine Bruderliebe da ist. Er nahm das also wörtlich: Keine Bruderliebe, dann kann die Schuld von Gott wieder zugerechnet werden.
Albertus Magnus, ein bekannter deutscher Theologe aus dem Mittelalter, sagte, das widerspricht der Liebe Gottes. Denn Gott bestraft nicht über die Gebühr für einmal vergebene Sünde. Aber er sagt, es ist möglich, dass man, nachdem man die Sündenvergebung empfangen hat, dauerhaft in der Sünde bleibt und sich so viel Schuld ansammelt, dass man doch verloren geht.
Thomas von Aquin, etwa zur selben Zeit, etwas früher lebend, sagte, dass es durch eine Todsünde möglich ist, dass all die Sünden, die man vorher getan hat, einem wieder angerechnet werden – aus Undankbarkeit, sagt er zu diesem Gleichnis.
Luther sagt, die Vergebung der Sünde kann verloren werden, wenn der Christ sündigt und sich nicht mehr Gott zuwendet, um Vergebung zu bekommen. Solange der Christ sündigt und dann wieder Gott um Vergebung bittet, ist kein Problem. Aber wenn er nicht um Vergebung bittet, dann wird ihm diese Sünde aus dem früheren Leben wieder zugerechnet, also derjenige, der nicht bereit ist, umzukehren und seine Sünde anzunehmen.
Luther sagt auch, Gott sei so frei, wie er Gnade gibt, hätte auch die Freiheit, Gnade wiederzunehmen. Sie ist nicht der Besitz des Gläubigen, sondern Besitz Gottes.
Ich habe diesen Eindruck nicht. Wir haben jetzt gesehen, einige große Kirchenväter haben versucht, das irgendwie zu deuten. Ich würde das hier anders interpretieren, vor allem vor dem Hintergrund, wenn zum Beispiel im Römerbrief steht, dass Gott gegenüber Israel sagt: Selbst wenn ihr untreu seid, bin ich treu.
Betrachten wir die Geschichte Israels: Israel wurde von Gott erwählt. Doch Israel hat so viel Unsinn gemacht, so häufig Götzen angebetet und von Gott nichts mehr wissen wollen. Sagt Gott jetzt irgendwann: Schlussstrich, ich habe euch zwar erwählt, aber jetzt ist alles vorbei? Nein.
Wir wissen sogar aus der Offenbarung, dass Israel bis zum Ende eine besondere Rolle spielen wird. Sogar im tausendjährigen Reich wird es eine große Rolle spielen. Dort steht, dass alle Heiden nach Jerusalem kommen werden, und Jesus wird darauf reagieren.
Ich glaube, hier dürfen wir das nicht vergessen: Wenn Gott vergeben hat, dann hält er an seiner Vergebung fest. Gott ist in dieser Hinsicht treu. Wenn er vergeben hat, dann rechnet er diese Schuld nicht mehr zu. Das müssen wir vor Augen haben.
Ich habe den Eindruck, dass das, was hier steht, einerseits die pädagogische Absicht hat, zu sagen: Du bist verpflichtet, aufgrund dessen, was du erfahren hast, so zu handeln. Und es soll uns vor Augen führen, dass wir auch Gericht erleben werden, wenn wir es nicht tun.
Das, glaube ich, sagen diese Verse schon. Wir können das nicht einfach unter den Tisch fallen lassen.
Die entscheidende Frage ist nun: Geht es in dem Gleichnis darum, wie man das Heil verliert? Oder geht es einfach darum, welche Auswirkungen und Konsequenzen meine Vergebung bei Gott haben sollte?
Ich glaube eher das Erste.
Ich habe euch ja gesagt, Gleichnisse dürfen wir nicht auf jedes Detail des geistlichen Lebens deuten. Zum Beispiel: Gott ist ja nicht allmächtig. Ziehen wir daraus, dass Gott nicht allmächtig ist? Das wäre vollkommen unsinnig.
Oder wir müssten dann sagen: Warum ist der zweite Sklave nur so wenig schuldig? Ist er weniger sündig vor Gott? Kann er seine Sünde selbst bezahlen? Das passt alles vorne und hinten nicht.
Das Gleichnis will nicht jedes Detail zwischen Gott und Menschen illustrieren, sondern dieses Detail im Mittelpunkt: Wir sollen entsprechend handeln, so wie Gott an uns gehandelt hat. Das soll Auswirkungen in unserem Alltag haben.
Auswirkungen hat es, das sagt uns auch Matthäus 5. Die Frage ist: Welche?
Wenn jetzt die Gläubigen beten: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“, dann heißt das nicht, dass der Gläubige, wenn er nicht vergibt, ewig verloren geht. Aber es heißt, dass er unter dem Gericht Gottes steht.
Und das Gericht Gottes ist nicht nur: Du wirst ewig verloren gehen oder gerettet werden. Wir haben ja gerade das Preisgericht, bei dem es darum geht, dass manche wie Heu oder Stroh sind. Ihr Werk wird verbrennen, und sie werden nackt vor Jesus stehen – und zwar nicht nur körperlich nackt, sondern sie werden nichts mitnehmen.
Andere aber, wie Paulus sagt, werden die Krone des Lebens empfangen und von Gott beschenkt.
Das heißt: Wenn du Christ geworden bist und Vergebung deiner Schuld hast, wirst du so gerade noch ins Himmelreich kommen. Das ist schon mal gesichert. Aber alles andere hängt davon ab, was du hier tust – nicht nur im Himmel, sondern auch schon auf Erden.
Denn das Gericht Gottes fängt ja nicht erst im Himmel an, sondern auch hier auf Erden. Denken wir an die, die das Abendmahl nehmen und es nicht unterscheiden. Da steht, manche werden krank und andere entschlafen, weil sie im Abendmahl falsch gehandelt haben.
Oder denken wir an Ananias und Saphira, die falsch gehandelt und den Heiligen Geist belogen haben – und plötzlich tot waren. Das ist auch Strafe, auch Gericht.
Hier soll uns vor Augen geführt werden: Auch für uns als Christen gilt, nimm es nicht auf die leichte Schulter, wenn du nicht so handelst, wie du handeln solltest. Gott wird an dir Gericht üben.
Aber ich glaube nicht, dass hier die Frage beantwortet wird: Ist das Heil verlierbar?
Denn da haben wir relativ deutliche Aussagen, die sagen: Selbst wenn ihr untreu seid, ich bin treu. Ich halte daran fest. Ich habe dich erwählt und dir die Sünden vergeben. Gott nimmt das nicht mehr zurück.
Das würde ich hier schon deutlich machen wollen.
Diese Schärfe sollten wir trotzdem beibehalten, denn unser Verhalten hier auf der Erde hat Auswirkungen – auch in der Ewigkeit.
Die abschließende Aufforderung zur Vergebung unter Christen
Ich nehme noch den letzten Vers: „So wird nun mein himmlischer Vater euch tun, wenn ihr nicht jedem seiner Brüder von ganzem Herzen vergebt.“
Hier sollten wir auch daran denken, dass die Sache der Vergebung direkt in den Versen davor angesprochen wird. Dort steht: „Da trat Petrus auf Jesus zu und sagte: Herr, wie oft soll ich meinem Bruder vergeben?“ Und Jesus antwortete: „Siebenmal siebzigmal.“ Dann folgt der gleiche Gedanke.
Das heißt, hier geht es darum, wie wir uns in erster Linie anderen Christen gegenüber verhalten. Interessanterweise steht hier ausdrücklich „jedem seiner Brüder“. Es ist also nicht gemeint, dass wir Betrügern einfach unser Geld anvertrauen und sagen: „Jetzt hast du es halt.“ Wir sollen nicht naiv sein. Wenn ein Anlagebetrüger kommt, müssen wir nicht auf Gerichtswege verzichten. Das ist hier nicht gemeint.
Vielmehr geht es um Brüder, also um Christen. Erstens fragt Petrus, wie oft wir unseren Bruder vergeben sollen. Und hier steht wieder: „Wenn du nicht jedem seinen Bruder vergibst.“ Die erste Aufforderung betrifft also unser Verhalten unter Christen.
Die nächste betrifft natürlich auch unser Verhalten gegenüber Ungläubigen. Das heißt nicht, dass wir dort nachtragend sein sollen. Aber wir müssen manchmal vorsichtiger sein, weil dort die Gefahr größer ist, betrogen oder belogen zu werden.
Vergebung ist nötig, und es wird uns deutlich gesagt, dass zwischenmenschliche Lieblosigkeit unter Christen kein Kavaliersdelikt ist, sondern unser Verhältnis zu Gott betrifft. Nicht umsonst finden sich deshalb im ersten Johannesbrief und im Jakobusbrief entsprechende Aussagen.
Dort heißt es: Wenn dein Bruder zu dir kommt, Not leidet und dich um Hilfe bittet, und du sagst nur: „Sei gesegnet, geh hinweg“, ohne ihm zu geben, dann steht da: „Die Liebe Gottes ist nicht in dir.“ Denn wenn du den, den du siehst, also deinen Bruder, nicht liebst, wie kannst du dann Gott lieben, den du nicht siehst?
Das ist ein Widerspruch. Mein Verhältnis zu Gott muss sich in meinem Verhältnis zu meinem Bruder, zu meinem Nächsten widerspiegeln. Das ist natürlich eine immense Herausforderung, gerade heute in der Gemeinde. Denn in Gemeinden, egal welcher, entstehen Spannungen, es entsteht auch Sünde, und die Frage ist, wie wir damit umgehen.
Hier liegt die große Herausforderung: Denk daran, was Jesus dir vergeben hat. Reagiere auch so deinem Bruder oder deiner Schwester gegenüber, selbst wenn du im Recht bist. Das ist etwas, wo wir anders handeln sollten als Ungläubige in ihrem Hühnerzüchterverein, Fußballverein oder sonstigen Gemeinschaften.
Wir sollten darüber hinausgehen, weil Gott uns so reich beschenkt hat. Das ist, glaube ich, eine ungemeine Herausforderung, die Jesus daran bindet: Denk daran, du wirst von Gott beurteilt und Strafe empfangen, wenn du, obwohl du so reich beschenkt und so viel vergeben bekommen hast, nicht bereit bist, selbst zu vergeben.
An dieser Herausforderung möchte ich euch belassen und an dieser Stelle noch beten, denn leider, aus meiner Sicht, ist unsere Zeit schon vorbei.
Schlussgebet
Ich bete, Vater im Himmel, und danke dir dafür, dass du uns vergeben hast. Du bietest auch denen von uns, die noch nicht Christen sind, an, dass du die ganze Schuld, die sie dir gegenüber haben, vergeben willst.
Ich möchte dich bitten: Wenn jemand unter uns ist, der diese Schuld trägt, mach dieser Person deutlich, dass diese Schuld da ist und dass sie keine Chance hat, sie allein loszuwerden. Lass sie jetzt die Vergebung in Anspruch nehmen, die du anbietest.
Ich bitte dich auch für all diejenigen von uns, die deine Kinder geworden sind und Vergebung erhalten haben. Ich danke dir dafür, dass du uns vergeben hast. Erinnere uns immer wieder daran. Lass es nicht zur Gewohnheit werden, dass wir lieblos gegenüber unseren Geschwistern werden, Schulden einfordern und vergessen, wie du mit uns gehandelt hast.
Stattdessen lass uns dich zum Vorbild nehmen. Gib uns die Kraft, selbst in Situationen, in denen es menschlich schwerfällt, unsere Schulden einzufordern oder lieblos mit anderen umzugehen, deine Liebe und Weisheit zu empfangen. Schenke uns die Kraft, uns selbst zu überwinden und unsere Emotionen zu beherrschen, damit wir echte Vergebung aussprechen können – so, wie du es an uns getan hast.
Amen.