Einführung und Überblick über die Predigtreihe
Wir nehmen heute den ersten Teil des zweiten Kapitels bis Vers 13. Morgen besprechen wir dann die zweite Hälfte des zweiten Kapitels. Übermorgen widmen wir uns dem dritten Kapitel, und am letzten Tag, am Samstag, dem vierten Kapitel.
So schaffen wir zumindest einen schnellen Durchmarsch und haben hier und da einen Punkt betrachtet.
Bevor ich jedoch mit dem zweiten Kapitel beginne, möchte ich eine Sache aus dem nur kurz angeschnittenen ersten Kapitel noch einmal in Erinnerung rufen. Mir scheint das nämlich sehr wichtig zu sein.
Die Herausforderung der Enttäuschung an Menschen im Dienst
Die gefährlichste Enttäuschung, die man als Mitarbeiter erleben kann, ist die bittere Enttäuschung an anderen Menschen. Diese ist nur sehr schwer zu verkraften. Deshalb wollen wir einen Moment Paulus betrachten, der dieses Problem kannte und auf schlimme Weise selbst erfahren hat, wie er damit umgeht.
Im ersten Kapitel, Vers 15, heißt es: „Das weißt du, dass sich von mir abgewandt haben alle, die in der Landschaft Asien sind, unter welchen sind Phygelus und Hermogenes.“ Wenn man nun noch einmal im vierten Kapitel, Vers 16, nachschlägt, findet sich ein ähnlicher Hinweis: „Paulus sitzt in Gefangenschaft in Rom. Bei meinem ersten Verhör stand mir niemand bei, sondern sie verließen mich alle. Es sei ihnen nicht zugerechnet.“
Man muss wissen, dass Paulus in der vorderen Türkei, dem Gebiet, das man Kleinasien nennt, besonders intensiv in der Evangelisation gearbeitet hat. Dabei machte er die Erfahrung, dass gerade in dieser Gegend viele Christen, Mitarbeiter und Gemeinden sich von ihm abwandten und sagten: „So geht es nicht! Paulus, das ist nicht mehr unsere Nummer!“
Das bedeutet nicht unbedingt, dass sie keine Christen mehr sein wollten – das war in manchen Fällen auch so. Aber es war ähnlich wie in unseren Gemeinden heute. Dort lässt man schon mal einen Leiter über die Klinge springen. Zum Glück sind wir ja alle ehrenamtlich und freiwillig tätig. Wenn es uns nicht passt, werfen wir die Sache eben hin. Und wenn uns jemand zu quer kommt, dann kann er uns am Kopf blasen. Schließlich sind wir ja nicht auf ihn angewiesen, sondern bestenfalls er auf uns. Er soll sehen, wie er zurechtkommt.
Jahrelange mühselige seelsorgerliche Arbeit wird so zerstört, weil sich alle abwenden. Diese Enttäuschung an Menschen ist sehr schwer zu verarbeiten. Es gibt viele Christen, die der Philosophie der „verbrannten Finger“ frönen. Sie sind so weise geworden, weil sie schon alles durchgemacht haben. Sie haben sich oft die Finger verbrannt, wurden von Menschen enttäuscht und haben vergeblich gearbeitet. Deshalb winken sie heute nur noch müde ab. Sie sind völlig bitter geworden.
Paulus’ Erfahrungen mit Enttäuschungen und seine Stabilität im Dienst
Paulus hat in seinem Dienst als Mitarbeiter viele Rückschläge und Enttäuschungen durch Menschen erlebt. Hier spricht er von Kleinasien, wo viele Gemeinden betroffen waren. Ein ganz anderes Kapitel ist die Situation in Korinth. Wenn man die Korintherbriefe liest – wir haben zwei von insgesamt vier Korintherbriefen, die Paulus geschrieben hat, die anderen werden erwähnt – dann sieht man, dass Paulus in Korinth viel durchmachen musste. Dort ist er regelrecht „mit dem Schlitten gefahren worden“, wie man so sagt. Das war wirklich keine einfache Zeit für ihn.
Was haben die Korinther denn falsch gemacht? Es war ungerecht! Kritik ist grundsätzlich gut, aber wenn man mit Händen greifen kann, wie dumm, unbarmherzig und ungerecht die Kritik ist, dann kann man wütend und bitter werden. Man möchte dann sagen: „Mensch, lauft euch doch warm! Ich bin doch nicht der Eselstreiber von Idioten!“ So war die Situation für Paulus.
Nun frage ich mich, wie er bei diesen vielen Enttäuschungen überhaupt noch in seinem Dienst stabil geblieben ist. Was hat ihn dazu gebracht, durchzuhalten? In den Versen 9 und 10 des ersten Kapitels wird das deutlich. Schaut da mal rein, lest Vers 9 und Vers 10.
Dort heißt es, dass er uns gerettet und berufen hat mit heiligem Ruf. Das möchte ich zum ersten Mal hervorheben. Für Paulus sind „gerettet sein“ und „berufen sein zur Mitarbeiterschaft“ ein und dasselbe. Man wird nicht erst gerettet und liegt dann als „Playboy“ in der Sonne des Glaubens. Wenn man dann lange genug herumgelegen und faul herumvagabundiert ist, stellt sich die Frage, ob man irgendwann vielleicht auch mal Mitarbeiter wird. Aber das wären ja sowieso nur die Zusätze, während der Normalchrist Konsument bleibt.
Nein, sagt Paulus, so geht das nicht. Wir sind gerettet und berufen zugleich. Wenn Jesus uns die Vergebung schenkt, bedeutet das gleichzeitig, dass wir berufen sind als Mitarbeiter. Das ist eine ganz logische Sache. Er beschenkt uns mit seiner Liebe, nicht damit wir davon einen geistlichen „dicken Bauch“ bekommen, sondern damit wir mit anderen teilen, was wir empfangen haben. Und das ist das Mitarbeitersein – nichts anderes.
In dem Moment, in dem ich Geschenke von Jesus bekommen habe, möchte er, dass ich anfange, diese mit anderen zu teilen, die davon noch keine Ahnung haben. Das heißt Mitarbeitersein, auch wenn es im Einzelnen unterschiedlich aussieht und man an verschiedenen Stellen eingesetzt werden kann.
Die doppelte Verankerung der Berufung als Quelle der Stabilität
Und zum zweiten Teil: Wenn wir heute noch über die Gaben sprechen, möchte ich zunächst deutlich machen, dass Paulus in seiner Mitarbeiterschaft sehr beständig ist.
Das ist bemerkenswert, weil er viele Enttäuschungen erlebt hat, gerade von denen, für die er so unermesslich viel gearbeitet hat. Trotzdem gibt er nicht auf. Er lässt sich nicht entmutigen, weil er nicht von den Menschen abhängig ist, für die er arbeitet. Er lebt nicht vom Erfolg.
Er sagt: Ich bin gerettet und berufen mit einem heiligen Ruf. Das bedeutet, Gott höchstpersönlich hat mich mit einem unverwechselbaren Ruf berufen. Das ist die feste Verankerung.
Nun wird diese doppelte Berufung in ihrer Qualität noch einmal begründet, beschrieben und verankert – wenn man so will – in den Versen 9 und 10.
Die erste Verankerung: Berufung vor Grundlegung der Welt
Die erste Verankerung ist Vers 9. Wir sind berufen, nicht nach unseren Werken. Das bedeutet: Nicht weil Gott gesagt hat, der Bubbi hat Talent, den sollten wir dem Reich Gottes einverleiben. So denken wir oft, wenn wir jemanden als Mitarbeiter gewinnen wollen. "Junge, Junge, da kriegt die Gemeinde Aufwind", so denken wir ja in der Regel von uns. Wir halten uns für großartig, weil Gott uns erwischt hat.
Aber es heißt: Nicht nach unseren Werken, sondern nach seinem eigenen Vorsatz und nach der Gnade, die uns gegeben ist. Wann? Damals, als wir uns bekehrten? Nein, in Christus vor der Zeit der Welt. Das ist ein tolles Ding. Bevor Gott mit seinem Schöpfungswort die Welt, das heißt Raum und Zeit, das gesamte Universum, setzte – bevor das geschah, bevor es überhaupt die Zeit gab – hat Gott einen Entschluss gefasst, einen Vorsatz, sagt er hier.
In diesem Vorsatz hieß es: Den will ich berufen. Das ist eine Perspektive, die fast maßlos ist. Paulus behauptet, dass seine Berufung zur Mitarbeiterschaft verankert ist außerhalb aller Vergänglichkeit der Zeit, in der ewigen Wirklichkeit der Treue Gottes. Bevor die Welt mit all ihren Wechselfällen zur Welt gehörte – Raum und Zeit –, und die Welt in Raum und Zeit eben gekennzeichnet ist durch Vergänglichkeit, Jungsein und Altwerden, durch Veränderung, bevor diese Veränderungsprozesse einsetzen, ist der Entschluss Gottes gefasst: Den will ich zum Mitarbeiter haben.
Das übersteigt weit, weit unsere Vorstellungsmöglichkeiten. Mir ist aufgefallen, wenn wir heute von Erwählung sprechen, dann reden wir eigentlich nur von einem dunklen, schwierigen Problem, das uns Rätsel aufgibt. Bin ich denn erwählt oder nicht? Gibt es das überhaupt? Sind die einen schon vorher erwählt und die anderen verworfen? Hat es da überhaupt noch Sinn, jemanden zum Glauben zu rufen? Wir machen daraus ein riesiges, schwieriges Problem, das uns in Zweifel stürzt.
Wenn ich das Neue Testament lese und feststelle, wo von Erwählung die Rede ist, dann sehe ich durchgehend, dass die Erwählung immer dann vorkommt, wenn die Gewissheit besonders stark untermauert werden soll. Zum Beispiel im Epheserbrief 1,4, vielleicht der wichtigste Satz des Neuen Testaments zur Erwählung: „Er hat uns erwählt vor Grundlegung der Welt in Christus.“
Das heißt, wir müssen nicht spekulieren, was vor Grundlegung der Welt gewesen sein könnte. Das können wir nicht. Sondern das, was Gott da getan hat, zeigt er in Jesus Christus, der jetzt zu uns kommt und offenbart wurde. Am Kreuz und in der Auferstehung wird das sichtbar. Aber das verdeutlicht den Entschluss in der Ewigkeit Gottes.
Die Bedeutung der Erwählung für das stabile Christsein
Warum sagt man sich solche komischen Gedanken? Ist das nicht hirnrissige Spekulation, die man sowieso nicht begreifen kann? Nein, sagt Paulus, es ist wichtig. Sonst wackelt und schwankt das ganze Christsein und die Mitarbeiterschaft hin und her, wie ein Entenpopo – immer abhängig von der jeweiligen Stimmung.
Die Leute machen ihren Glauben ständig abhängig davon, wie sie sich fühlen, ob sie Kraft oder Schwäche haben, wie die Umwelt dazu steht und welche Erlebnisse und Erfahrungen sie gemacht haben. Das ist zwar verständlich, aber auch sehr problematisch. Es ist so, als würde ein Kapitän anordnen, den Anker seines Schiffes in der Kombüse zu versenken. Dort kann der Anker zwar mit dem dicken Ankerbaum viele Kochpötte kaputtmachen, aber dem Schiff keinen festen Halt geben. Der Anker muss immer außerhalb des Schiffes im festen Ankergrund liegen.
Seelsorgerlich gesprochen sehe ich darin die Ursache für das viele unbeständige Christsein heute. So viel Auf und Ab, so viel Stimmungsabhängigkeit. Wir schauen immer auf uns selbst, auf unser frommes Innenleben. Wenn wir gut beten und eifrig missionarisch sind, fühlen wir uns als gute Jünger Jesu. Haben wir Schwierigkeiten, Schmerzen im Glauben, sind wir deprimiert und glauben, dass alles nichts bringt. Sind wir geistlich erfolgreich, haben wir Aufwind. Gehen wir durch die Wüste und werden beschimpft, sind wir niedergeschlagen. Wir schauen immer nur auf uns selbst.
Es gibt ein altes Erweckungslied aus dem vergangenen Jahrhundert, das ich sehr tief und wichtig finde – wie viele Lieder dieser Zeit, die oft viel tiefgründiger sind als das, was wir heute singen. Dort heißt es:
„Wenn ich mich selbst betrachte, so wird mir Angst und Weh.
Wenn ich auf Jesum achte, dann steige ich in die Höhe.
Dann freut sich mein erlöster Geist,
der durch das Blut des Lammes gerecht und selig heißt.“
Die Erfahrung ist: Wenn ich mich selbst anschaue, auch mein frommes Leben, dann ist das Ergebnis nichts anderes als Wackelei. Schaue ich aber auf Jesus und erkenne, dass in ihm der ewige Entschluss Gottes liegt, mich zu retten, zu rufen und als Mitarbeiter zu gebrauchen, dann werde ich froh. So fest ist mein Leben verankert.
Die Erwählungsbotschaft des Neuen Testaments unterstreicht eindrücklich die Treue und Liebe Gottes. Wir verstehen Erwählung oft als etwas Unsicheres, als einen Vorbehalt. Natürlich liebt Gott alle, aber man weiß ja nie, vielleicht hat er da noch etwas im Hinterkopf. Man kann ihm nicht in die Karten schauen, er ist unberechenbar.
So redet die Bibel aber nie. Wenn sie von der Erwählung in Christus als Vorgrundlegung der Welt spricht, will sie sagen: In Jesus seht ihr, dass ihr verankert seid, außerhalb aller Welt, ohne Missverständnis.
Wenn ich lebe und die Einladung von Jesus höre, vor der engen Pforte stehe, dann gibt es nur eins: Jetzt entscheide dich und folge ihm nach. Jesus sagt: „Jetzt kehre um!“ Jetzt kann man nicht sagen, es geht alles von selbst. Bin ich erwählt oder nicht? Da brauche ich nichts zu tun, es ist wie auf einer Rolltreppe. Nein, jetzt geht es: „Schaffet eure Seligkeit mit Furcht und Zittern!“ Kehre um, folge mir nach!
Das sind eindeutige Aufrufe an unseren Willen. Und er will, dass wir es tun. Er schenkt auch die Kraft dazu, deshalb will er, dass wir es tun. Aber wenn ich dann durch die enge Pforte gegangen bin und mich umdrehe und frage: „Was bin ich denn nun?“, dann sage ich nicht: „Wann habe ich mich bombig bekehrt? Was hatte ich für ein tiefes Wiedergeburtserlebnis? Welche herrlichen geistlichen Erfahrungen habe ich gemacht?“ Pappelapapp – das ist alles Schrott.
Festen Halt bekommt man nur, wenn man schaut: Er hat mich vor Grundlegung der Welt erwählt. Und in Jesus am Kreuz hat er es festgemacht. Dort gehen die Ankerketten hin. Dort bin ich verankert. So gewiss steht die Sache.
Und jetzt können die Stürme ruhig an meinem Schiff reißen – diese Ankerverankerung hält. Das ist eine.
Die zweite Verankerung: Offenbarung in der Auferstehung Jesu
Paulus nennt noch eine zweite Ankerkette, in die er sich einhakt. In Vers zehn heißt es: Damals, vor der Zeit in Christus, war der Entschluss verborgen. Jetzt aber ist er offenbart durch die Erscheinung unseres Heilandes Jesus Christus.
Und jetzt kommt es: Er hat dem Tod die Macht genommen und das Leben sowie ein unvergängliches Wesen ans Licht gebracht durch das Evangelium. Die zweite Verankerung seiner Berufung liegt in der Auferweckung Jesu, der den Tod entmachtet und seine Gültigkeit genommen hat.
Damit sagt Paulus: Der, der mich berufen hat, ist dem Tod als Sieger überlegen. Alle Unsicherheiten in unseren Entschlüssen und menschlichen Plänen entstehen, weil der Tod alles zerstören kann. Wir sind nicht krisenfest, haben keine Stärke über den Tod. Der Tod verschlingt alles.
Deshalb gibt es letzten Endes kein Stehvermögen und kein Durchhalten. Paulus sagt: Meine Berufung ist so stabil, weil sie mit einer Ankerkette in die Ewigkeit der Liebe Gottes reicht. Mit der zweiten Ankerkette ist sie im Sieg über den Tod verankert. Das heißt, der letzte verunsichernde Faktor der Weltgeschichte, der Tod, hat bei Jesus nichts mehr zu sagen.
Also ist sein Ruf stabil, und er hält durch. Diese Ankerkette reißt nicht, der Ankergrund hält. Das ist es: standhalten durch die doppelte Verankerung.
Manche wissen gar nicht, was sie an Jesus haben. Sie schauen immer nur auf ihr mehr oder weniger schönes oder mickriges christliches Leben, klagen oder jubeln, je nachdem, wie die Großwetterlage gerade ist. Sie haben die großen Reichtümer Gottes noch gar nicht im Blick und besitzen deshalb noch nicht den Weitblick, den Durchblick, die Freude und die Gewissheit, die daraus entstehen, wenn man endlich entdeckt, wer Jesus ist.
Das ist das Erste. So wird bittere Enttäuschung an Menschen überwunden, weil die Mitarbeiterschaft fest und doppelt verankert ist.
Schwierigkeiten in der Mitarbeiterschaft und die Gefahr der Resignation
Allerdings wäre es vielleicht interessant, Klammern einzufügen. So könnten wir verschiedene Statements sammeln und hören, wo sich der Einzelne hier herumtreibt, in welchem Mitarbeiterkreis er aktiv ist, wie die Situation in der Gemeinde aussieht und wo der Knatsch gerade hängt.
Vielleicht gibt es ja auch eine ganze Reihe von Menschen, die inzwischen schon von einem Kreis zum anderen tingeln. Das kommt vor: Man fühlt sich in einem Mitarbeiterkreis nicht wohl, also geht man zum nächsten. Man bleibt immer so lange, wie man sich dort gut fühlt. Wenn einem das Unternehmen nicht mehr zusagt, findet man sicher auch noch eine fromme Clique, in der es wieder gemütlich ist.
Immer dann, wenn es kritisch wird, wenn jemand von einem erwartet, etwas zu sagen, das einem querliegt, steigt man aus. Man hat klare eigene Vorstellungen und braucht niemanden sonst. Das ist schwierig. Das ist ein schwieriges Christsein.
Vielleicht sind manche unter uns in der Gefahr, vor Enttäuschung an Menschen bitter zu werden und zu resignieren. Lasst euer Leben verankert sein, wie Paulus es hier beschreibt, damit wir Stabilität und Stehvermögen gewinnen.
Eine überraschende Quelle der Stärke
Zweitens schließt sich daran eine überraschende Quelle der Stärke an, Kapitel 2, Vers 1: eine überraschende Quelle der Stärke.
Der Vers gilt auch für die Töchter, obwohl er an Timotheus geschrieben ist und deshalb heißt es hier „Mein Sohn“. Dort steht: „So sei nun stark, mein Sohn, durch die Gnade in Christus Jesus.“
Es fällt mir auf, dass dies der letzte Brief des Paulus an Timotheus ist, geschrieben sehr spät, in einer Zeit, in der es in der christlichen Gemeinde, besonders in den griechischsprachigen Teilen, langsam üblich wurde, den Ausdruck „Jesus Christus“ fast wie einen Doppelnamen zu gebrauchen. Paulus, der sonst diese Reihenfolge durchaus verwenden kann – „Jesus Christus“ –, steuert hier nochmal dagegen. Immer erscheint in diesem Zusammenhang „Christus Jesus“, der Messias Jesus. Wenn man heute in Israel ist, hat man das ganz frisch im Ohr: „Jeshua Hamashiach“, sagen die Juden, der Messias Jesus. Es ist ein Titel, der König. So heißt es: „Sei nun stark, mein Sohn, durch die Gnade in Christus Jesus.“
Wollen wir mal darüber nachdenken, wie man stark wird? Mich wundert, dass Paulus einfach so auffordern kann: „Sei stark!“ Auf den ersten Blick klingt das, als würde er sagen: „Reiß dich mal zusammen, lass dich nicht so schlapp hängen! Sitz mal ein bisschen gerade, nicht immer so!“ So hört sich das auch hier an: „Sei stark, mein Sohn.“ Manchmal denke ich, dass es schon etwas bringt, wenn man jemanden, der sich hängen lässt und das als Lebenshaltung gemacht hat, in der Seele anstupst und sagt: „Mach mal Butter bei die Fische!“ Aber das ist es ja nicht.
Hier ist nicht ein Appell an die Willensstärke und ein „Reiß dich zusammen“, sondern Paulus sagt: „Sei stark durch die Gnade in Christus Jesus.“ Eigentlich ist das ein Gegensatz. Gnade ist ein Geschenk für Bettler. Gnade bekommen Leute, die kein Recht mehr haben. Solange ich Recht habe, brauche ich keine Gnade, ich kann mein Recht beanspruchen. Heute ist das anders. In der ganzen Gesellschaft, im sozialen Bereich, wird darauf hingearbeitet, dass eine Almosenmentalität entsteht. Menschen, die in Schwierigkeiten sind, sollen nicht den Eindruck haben, von Gönnern von oben herab gnädige Almosen zu erhalten, sondern Rechte. Menschenwürde bedeutet, zu wissen, dass man Recht hat.
Wenn man sich also wie ein Bettler fühlen muss, weil man beschenkt wird, macht das den Menschen schwach. Es untergräbt seine Ich-Stärke. Deshalb empfinden wir das unangenehm und schlecht, wenn so etwas kommt. Paulus sagt: „Sei stark durch die Gnade.“ Diese Stärke, dieses Starkwerden ist kein Klimmzug, mit dem ich sage: „Raff dich mal auf!“ Stattdessen bedeutet es, dass ich die Geschenke, die Jesus macht, bitte häufiger, regelmäßiger und dankbarer in Anspruch nehme. Paulus sagt nicht: „Markiert doch immer den Starken!“, sondern „Werdet doch mal stark!“
Dort, wo wir zu stolz sind, die Begnadigung, die Geschenke der Vergebung täglich anzunehmen, dort markieren wir die Starken und enden als Verkrampfte. Bestenfalls bekommen sie Muskelkater, aber stark werden sie dabei nicht. Manche sehen die Vergebung der Schuld so, dass sie sie als Startkapital für ihr Leben in Anspruch nehmen. Klar, wir sind verloren, da ist noch viel Mist, Jesus liebt uns, nimmt uns an und vergibt uns. Das ist klar, daran können wir nichts ändern. Er schenkt es uns, und das macht uns fröhlich. Das ist das Startkapital.
Aber jetzt kommt das neue Leben mit Jesus. Er möchte uns verändern, und wir möchten neu leben, ihm gehorsam sein und seinen Willen tun. Statt Habgier sollen Gerechtigkeit, Dienstbereitschaft, Feindesliebe und Reinheit sein. Dann entdeckt man, dass man auf die Nase fällt, dass es nicht so geht, wie man dachte. „Na ja, das sind Kinderkrankheiten, Anfangsschwierigkeiten, da braucht man Vergebung.“ Also sagt man: „Herr, ich wollte dir gehorsam sein, aber es hat nicht geklappt. Du hast es gesehen, ich habe wieder gelogen, bin eitel und empfindlich und spiele mich in die Mitte. Ich bitte dich um Vergebung. Und jetzt machen wir weiter.“
Dann wacht man ein Jahr später auf und stellt fest: „Mensch, ich bin überhaupt nicht weitergekommen.“ Jeden Tag, wenn die Mutter etwas sagt, geht man hoch. Man wollte den Jähzorn unter die Füße kriegen, aber es klappt nicht. Man wollte die Habgier überwinden, aber es gelingt nicht. Man wollte in Phantasie und Sexualität Ordnung bringen, aber es wird schlimmer als je zuvor. So geht das nicht weiter. Wie sagt man sich: „Ich kann ja nicht jeden Tag kommen und sagen, es ist immer noch dasselbe. Jesus ist schließlich für mich gestorben und hat mich mit seiner Gnade beschenkt, damit mein Leben gelingt. Ich kann doch nicht jeden Tag kommen und sagen, es ist immer noch dasselbe, sogar schlimmer.“
Ich erinnere mich genau: Als ich ein Jahr Christ war, dachte ich, ich müsste doch schon erheblich etwas gebessert haben. Als ich Bilanz zog, stellte ich fest, dass mein Leben unter moralischen Gesichtspunkten fast schlimmer war als vorher. Schlimmer! Bis mir plötzlich klar wurde, dass es gar nicht schlimmer war, sondern mein Gewissen wacher. Stück für Stück zeigte Jesus mir mehr, was nicht in Ordnung war, was ich am Anfang meines Christseins noch gar nicht gesehen hatte. Anfangs erkannte ich nur zwei, drei Dinge, die nicht in Ordnung waren. Jesus zeigte mir nicht alles auf einmal, er ist ein guter Seelsorger und überfordert uns nicht.
Je länger ich mit ihm lebte, desto mehr gab er mir einen Blick für das, was in meinem Leben nicht stimmte. Dann hatte ich nicht das stolze Gefühl: „Mensch, was bist du gewachsen, stehst stramm im Gehorsam, herrlich, geistliche Muskeln angesetzt, schon ganz schön heilig!“ So wie manche, die tatsächlich, wenn sie in den Spiegel schauen, feststellen, dass sie schon ganz schön heiliger geworden sind. Die sollen vorsichtig sein, ob der Spiegel nicht blind war oder sie selbst nicht blind sind.
Wenn noch eine Spur der Wirksamkeit des Heiligen Geistes in dir tätig ist, wird er dir zeigen, wo noch Sünde ist, dein Gewissen empfindsamer machen und du wirst in dir selbst zerbrechen. Unsere ostafrikanischen Freunde sind in einer Bewegung, die wenig sensationell ist. Es geht nicht mit großem Feuerwerk los, das schnell endet. Es geht still und im Kleinen. Sie haben zwei wichtige Dinge erkannt, die das persönliche Leben prägen. Das spürt man, wenn man diesen Menschen begegnet. Es steckt an: „Walking in the light“, sagen sie, im Licht wandeln, Sünde aufdecken, sofort vor Gott und den Geschwistern Ordnung schaffen.
Das zweite Kennzeichen der Erweckung ist nicht strahlende Siegeskraft, sondern das, was sie „Brokenness“ nennen – zerbrochen sein. Jesus zerbricht den selbstherrlichen Menschen, indem er ihm zeigt, wie falsch er ist. „Mit Christus gekreuzigt, ja Herr, da gehöre ich hin.“ Ein Vater des schwäbischen Pietismus sagte einmal: „Ein Christ wächst wie ein Kuhschwanz – immer nach unten.“ Das war markig, nicht?
Die Quelle der Kraft ist nicht, dass man damals Vergebung brauchte, das waren Kinderschuhe im Christsein. Jetzt bin ich geistlich stark geworden, fit, und gehe als geistlicher Drahtseilartist konzentriert meinen Lebensweg. Nein, sagt Paulus: „Sei stark durch die Gnade in Christus.“ Es gibt keinen Tag, den wir leben könnten, ohne Vergebung der Schuld durch den Gekreuzigten in Anspruch zu nehmen. Wer das nicht tut, wird schwach.
Das Geheimnis unserer Stärke ist, dass der gekreuzigte und auferstandene Christus in uns ist und seine Stärke in unserer Schwäche zur Entfaltung bringt, wie Paulus in 2. Korinther 12 sagt: „Seine Kraft ist in den Schwachen wirksam.“ Dass Christus in mir ist, kommt allein dadurch, dass ich im Licht wandle, Vergebung in Anspruch nehme und Tag für Tag schöpfe aus der Vergebung, mir die Füße waschen lasse.
Es ist nicht umsonst, dass Jesus als Letztes vor seiner Hinrichtung den Jüngern die Füße gewaschen hat, um ihnen das einzubläuen. Davon lebt es, dass Petrus dann so widerspenstig sagt: „Herr, wenn schon, denn schon!“ und all diesen Radikalinskikokolores. Jesus antwortet: „Das haben wir schon gehabt, mach mal halblang, jetzt sind nur noch die Quanten dran.“ Und das brauchen wir jeden Tag.
Du brauchst gar nicht eingebildet daherkommen, deinen geistlichen Sonntagschristen kannst du ruhig im Schrank hängen lassen. Jesus sagt: „Ich bin der Herr, der dir täglich die Dreharbeit tun will.“ So ist seine Herrschaft, und so allein ist seine Kraft in mir. In dem Augenblick, wo du es nicht mehr tust, wo du zu stolz bist, täglich neu Vergebung in Anspruch zu nehmen, unterminierst du deine Stärke.
Leiden als notwendiger Bestandteil des Dienstes
Das Zweite, das Überraschende, ist eine Quelle der Stärke. Das Dritte: Leiden ist keine Panne. Leiden ist keine Panne.
Im Vers 3 heißt es: „Leide mit als guter Soldat des Christus Jesus.“ Solche Texte sind für mich als Kriegsdienstverweigerer immer sehr schwer zu lernen und zu lesen. Doch im Neuen Testament wird vom Kampf gesprochen, und es wird wirklich gekämpft. Christsein ist keine Dusselei oder ein Geschwätz, sondern es ist Kampf.
Wir spielen immer Soldat, wenn es um Krieg und Zerstörung geht. Im Reich Gottes wird ebenfalls Soldat gespielt. Dort geht es um Disziplin, um Kampf und um Vorwärtsmarschieren – wenn es um Leben und Hilfe geht.
Wir machen das oft umgekehrt: Wenn es um soziale Dienste geht, kann jeder herumhampeln, wie er will. Da braucht man weder fleißig noch anstrengend zu arbeiten. Dann reicht schon der gute Vorsatz für die vollbrachte Tat.
Aber wenn es um Zerstörung und Krieg geht, werden Hunderttausende zusammengebracht. Dann werden 500 Milliarden Dollar in einem Jahr eingesetzt – für den Aufbau, für Hungerhilfe und für Missionen und so weiter. Da reicht es, wenn jeder ein bisschen trottet und durch die Gegend stolpert? Da beschweren sich schon alle Hauptamtlichen und Ehrenamtlichen, wenn ihre Arbeit in Stress ausartet.
Aber im Krieg darf sich keiner beklagen, dass es Stress gäbe. Das ist doch ein Wahnsinn. Das ist die ganze Perversion unserer Welt. Das Kämpfen um Gerechtigkeit, das Ringen um Versöhnung und Frieden ist sehr viel anstrengender als die Welt kaputtzumachen.
Die Welt kaputtzumachen kann man, indem man mit dem Hintern wackelt und Bodycheck macht, dann ist alles kaputt. Die schwächste Oma und das jüngste Kind können eine Familie zur Hölle machen. Aber die vitalsten Menschen können diese kaputte Familie nicht wieder versöhnen.
Ich möchte euch eine Perspektive vermitteln: Der Dienst für die Versöhnung, der Dienst für Frieden, der Dienst im Reich Gottes ist Soldatendienst, Kampf. Er erfordert die ganze Einsatzbereitschaft und die ganze Disziplin, die nötig ist. Wir sollten nicht immer so tun, als wäre das der Tummelplatz für geistliche Playboys, die Phrasendreschen und immer dann aufhören, wenn sie keine Lust mehr haben.
Deshalb sagt Paulus hier: „Leide mit, leide mit!“ Und dann in den Versen 9 bis 12: „Wer hat vom Evangelium gesprochen, für welches ich leide bis zu den Fesseln wie ein Verbrecher? Aber Gottes Wort ist nicht gefesselt. Darum dulde ich alles um der Auserwählten willen, auf dass auch sie die Rettung erlangen in Christus Jesus mit ewiger Herrlichkeit, dass es gewiss war. Sind wir mitgestorben, so werden wir mitleben; dulden wir, so werden wir mitherrschen; verleugnen wir, so wird er uns auch verleugnen; sind wir untreu, so bleibt er doch treu.“
Zunächst einmal geht es hier darum, dass Paulus Leiden nicht für eine Panne im Christsein hält. In einer Zeit, in der das Ziel heißt, schmerzfrei und angstfrei zu leben, haben sich Christen anstecken lassen und behaupten, dass Jesus die Garantie für ein bequemes und glückliches Leben sei. Dass er den Weg des geringsten Widerstands führte – das ist eine Lüge. Das stimmt nicht. Wer das behauptet, redet gegen die Bibel.
Wer sagt, Teilhabe an Jesus sei Teilhabe an seinem Sieg, und dass es wegen unguter Umstände manchmal negative Erfahrungen gibt, der irrt. Das wäre nicht programmgemäß. Das stimmt nicht.
Paulus sagt uns, dass beides dazugehört: Teilhabe an seinem Sieg und die Bereitschaft, mit Christus ins Leiden zu gehen.
Warum? Dafür sehe ich drei Gründe. Einmal ganz schlicht und vordergründig: Es ist das Leiden, weil ich in dankbarer Treue bei Jesus festhalte, auch wenn es schwierig wird. Die Verbindung zu Jesus ist kein flüchtiger Flirt, der zerbricht, wenn die Stimmung kippt. Was er für mich getan hat, ist so tief und so kostbar, dass ich ihm treu sein möchte, auch wenn es Schwierigkeiten gibt – so wie er für mich gelitten hat.
Ich werde es in keiner entsprechenden Weise erwidern können, aber ich will ihm treu sein, auch unter Druck.
Doch das ist nur das Äußerlichste. Was hier genannt wird, ist, dass Leidendienst für die Gemeinde ist. Ich möchte das Zweite und Dritte zusammenfassen: Leiden ist die Arbeitsform der Liebe.
Jesus hat das einmal ganz klar ausgesprochen für sich und die Jünger. In Johannes 12, etwa Vers 24, sagt er: „Es ist wie beim Weizenkorn: Wenn das nicht beerdigt wird, bringt es keine Frucht. Dann bleibt es immer nur eines. Es muss in die Erde gelegt, beerdigt werden, sozusagen sterben, unsichtbar sein. Dann bringt es vielfache Frucht.“
Das bezieht er zunächst auf sich selbst und seinen Leidens- und Sterbensweg. Dann bezieht er es auf den Weg seiner Jünger und sagt: Der Erfolg, die Wirkung in der Jüngerschaft erfolgt nicht nach der Methode des Senkrechtstatus und der vordergründigen Erfolgsbestätigung. Vielmehr vollziehen sich die langfristigen und tiefsten Wirkungen im Sterbensprozess.
Tertullian, ein alter Kirchenvater Nordafrikas, hat den Satz gesagt: „Sanguis est semen Christianorum.“ Das Blut ist das Samenkorn der Christen.
Nun wollen wir gar nicht dramatisch werden, obwohl die große Zahl der Christen in unserer Welt, die heute hier Christ sind, nicht in der Freiheit leben kann wie wir. Die Mehrheit der Christen muss ihre Nachfolge im Leiden praktizieren, unter Verboten oder Bedrohung durch Gefängnis in allen Abstufungen.
Wir sind in einer Ausnahmesituation. Manche halten das für normal. Wir wissen oft gar nicht, dass das eine Ausnahmesituation ist, die wir genießen – von Jesus her gesehen.
Er hat uns nicht versprochen, dass es immer so gut geht. Er hat ganz nüchtern gesagt, dass Druck und Schwierigkeiten der Normalfall sind.
Doch wir reden jetzt im Augenblick gar nicht von Verfolgung, sondern von den Formen des Sterbens und Leidens in der Mitarbeiterschaft. Denn es gibt kein fruchtbares Mitarbeiten, das nicht von der Weizenkornmethode gekennzeichnet ist.
Und das fällt uns schwer: Sterben ist kein Spaziergang. Ich mag nicht sterben. Sterben heißt, dass ich loslassen muss, was ich doch so liebe.
Ich liebe meine Ehre. Es verletzt mich, wenn mein Ansehen beschmutzt wird. Ich ertrage nur schwer, wenn ich ausgegrenzt werde. Bittere Feindschaft ertrage ich mit Leichtigkeit; das baut mich auf und fordert mich heraus.
Aber wenn man mich nicht ernst nimmt und spöttisch belächelt, dann verletzt mich das. Da möchte ich ausweichen, da möchte ich sagen: Hier mache ich nicht mehr weiter, das habe ich doch nicht nötig.
Doch, sagt Jesus, das hast du nötig. Ich hatte es auch nötig, mich anspucken zu lassen. Es war nötig, um dich zu retten.
Und wenn du mit mir gehen willst und auch nur ein Stückchen meine Liebe anderen Leuten verdeutlichen willst, wenn du nur ein Stückchen das auch tun willst, dann hast du es nötig, mitzusterben – eigenes Recht, eigene Ehre aufzugeben, wenn es dazu kommt, Lebenskraft aufzugeben.
Wenn Jesus uns das zumutet, müssen wir es nicht suchen. Wenn er uns ins Sterben führt, merkt ihr, wie wahnsinnig anders das ist als das, was rings um uns in unserer Gesellschaft als Klima gelebt wird?
Das große Motto heißt: Selbstverwirklichung, Selbstverwirklichung. Und Christen, die sich an jeden Zug dranhängen, um aktuell zu bleiben, haben entdeckt, dass der christliche Bereich natürlich eine hervorragende Möglichkeit zur Selbstverwirklichung ist.
Nun gut, man kann das auch anders sehen und durchaus positive Dinge dazu sagen. Das wollen wir übermorgen auch tun, abends im Thema. Aber als Leitwert ist das eine gefährliche Weichenstellung.
Es geht nicht um Selbstverwirklichung, sondern darum, dass die Liebe Christi in uns Gestalt gewinnt. Dass die Wirklichkeit des suchenden Jesus in unserem Leben spürbar wird, damit durch uns zu vielen, vielen Menschen in dieser Welt diese Liebe Jesu kommt.
Und dies ist der sterbende Jesus, der um die Menschen leidende Jesus. Wenn ich hineingezogen werde in die Gemeinschaft mit ihm, wie meint ihr, wie unser Leben aussehen wird?
Er ist noch immer dabei, die Füße zu waschen, die Dreckarbeit zu tun. Und da sollten wir etwas anderes tun wollen und dürfen, wenn wir zu ihm gehören wollen?
Die Arbeitsform der Liebe ist das Leiden.
Die Bedeutung der Weitergabe und Multiplikation im Dienst
Ich muss jetzt abbrechen und möchte deshalb nur noch kurz auf die Deutung dessen eingehen, was wir in diesen Tagen hier machen. Dafür eignet sich hervorragend der Vers 2. Ich denke, dass ihr über diesen Vers oft schon in den Mitarbeiterkreisen gesprochen habt, weil er sozusagen das Grundprogramm aller Mitarbeiterschulungen ist.
Lehre einen anderen, damit er einen weiteren lehrt, damit dieser wiederum einen anderen lehrt – so funktioniert ein Schneeballsystem oder eine Kettenreaktion. Was du von mir vor vielen Zeugen gehört hast, das gib anderen treuen Menschen weiter. Das bedeutet: Gib treuen Menschen den Auftrag, die imstande sind – oder wörtlich im griechischen Text: „imstande sein werden“ – andere zu lehren.
Wir müssen strategisch denken. Im Reich Gottes darf man nicht nur in der Form der Addition denken, sondern mindestens in der Form der Multiplikation. Addition heißt, ich möchte versuchen, den einen zu gewinnen und den anderen zu gewinnen. Jeder tut das dann nach der Hühnerhofmethode und pickt einzelne Körnchen auf.
Multiplikation heißt, dass wir Menschen für Jesus gewinnen möchten. Aber jetzt geht es darum, denen, die zu Jesus gekommen sind, anzuvertrauen, was Jesus zu sagen hat. So werden sie befähigt, andere zu lehren und das weiterzugeben.
Paulus sagt hier, wen man dafür aussuchen soll: Das, was du von mir gelernt hast – vom Evangelium her, aber auch für die Praxis des Dienstes – das vertraue treuen Menschen an. Nicht alle Christen sind treu, es gibt auch viele schlampige Christen. Treue ist keine angeborene Eigenschaft, sondern eine, die gelernt wird.
Wir haben unterschiedliche Gaben, darüber reden wir gleich. Aber was Jesus von uns erwartet, ist, dass wir treu werden. Treue wird trainiert.
Einmal im Jahr gibt es bei uns in der Jugendarbeit ein großes Sportfest, und da mache ich immer mit. Dort muss ich einen Dreikampf absolvieren. Da ich nicht ganz so schlecht darin bin, kann ich das immer noch riskieren. Mein Trainingsrezept ist aber so: Wenn ich mich schon vorher müde mache, indem ich jeden Tag Waldlauf mache und dauernd Runden drehe, dann kann ich beim Sportfest nichts mehr leisten.
Deshalb tue ich das ganze Jahr nichts, komme bestens ausgeruht auf den Sportplatz, laufe einmal 100 Meter, mache zwei oder drei Sprünge, stoße die Kugel wild in die Gegend und schneide dabei ganz gut ab.
Der Ärger ist immer, dass ich einen Freund, einen Verwandten habe, der jeden Tag und jede Woche trainiert. Er ist ein unheimlich zäher Knochen, schafft im Dreikampf aber immer etwas weniger als ich und ärgert sich natürlich wahnsinnig.
Das ist ja mein Prinzip: Du musst es anders machen. Du machst dich das ganze Jahr über kaputt und...
Allerdings dürfte er mich an dem Abend nach dem Sportfest nicht mehr ansprechen. Da stehe ich verzweifelt unter der Dusche und versuche, durch heißes Wasser den Muskelkater zu lindern. Eine ganze Woche lang brauche ich zum ersten Stock am besten noch einen Fahrstuhl, weil ich die Knie vom Muskelkater nicht mehr heben kann.
Aber ich weiß, das dauert zwei Wochen, dann geht es weg. Und der nächste Sportfest kommt ja erst im nächsten Jahr.
Das möchte ich euch als abschreckendes Beispiel vor Augen stellen: Wenn man in der Mitarbeit, zum Beispiel bei einer Besuchsdienstaktion, eine riesige Kraftanstrengung untrainiert aus dem Stand macht, dann ist man am Ende zwar erschöpft, weiß aber, dass es wichtig war. Man weiß auch, was zu tun ist. Aber man ist so geschafft, dass man sich nicht vorstellen kann, dass das weitergehen kann. Also sagt man: „Nächstes Jahr wieder.“
In unserer Jugendarbeit haben wir gelernt: So etwas kann man nur machen, wenn man es regelmäßig trainiert – in kleinen Schritten.
Wir machen jeden Sonntagvormittag in unserer Stadt Essen etwa 1500 bis 1800 Hausbesuche. Die Mitarbeiter gehen zu zweit. Das ist das Einfachste von der ganzen Welt. Jeder, der zum Glauben kommt, auch wenn er 14 oder 15 Jahre alt ist, kann sofort bei den Hausbesuchen mitmachen.
Sie gehen zu zweit. Dabei ist ein älterer Mitarbeiter von 16, 17 oder 18 Jahren dabei, der das schon zwei Jahre lang Sonntag für Sonntag macht und weiß, wie es geht. Der Jüngere geht einfach mit, braucht keinen Ton zu sagen, sondern nur seine Beine zu bewegen – das kann er ja schon.
Wenn er das ein halbes Jahr gemacht hat, weiß er, wie es geht. Außerdem hat er sich daran gewöhnt, sonntags morgens zwischen elf und zwölf Uhr Hausbesuche zu machen, während der Gottesdienst läuft.
Wer sich nicht daran gewöhnt, der hat Schwierigkeiten, in die Regelmäßigkeit reinzukommen. Wer erst zweieinhalb Jahre Christ ist, etwa anderthalb Jahre ohne Mitarbeit, und dann plötzlich einen mordsmäßigen Entschluss fasst: „Jetzt will ich aber Mitarbeiter werden“, der hat Schwierigkeiten.
Bei ihm wird die Mitarbeit zu einem Kraftakt, und er fühlt sich immer wieder überfordert.
Das ist das kleine Geheimnis: Man lernt durch Trainieren. Lehre den anderen, was du selbst gelernt hast. Sag es ihm, damit er befähigt wird, einen anderen zu lehren. So entsteht Multiplikation.
Herr, wir danken dir, dass du mit uns in dieser Welt etwas vorhast. Wir bitten dich, dass du uns befähigst, andere Menschen zu dir zu holen und ihnen eine Brücke zu deiner Liebe zu sein.
Gib uns auch die Kraft, andere zu lehren und weiterzugeben, damit andere zur Mitarbeit ermutigt werden.
Gib, dass diese Tage wirklich diesen Multiplikationseffekt haben! Amen.