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Friede ist für den Apostel Petrus keine Sache, sondern eine Person. Friede, das ist Jesus Christus. Er gibt Frieden, der die Liebe und die Vergebung und die Hoffnung kennt. - Predigt aus der Stiftskirche Stuttgart


Lasst mich in Frieden, sagt die Mutter. Jede Nacht läuft der Fernseher. Dieser Torjubel weckt das ganze Haus. Die Fußballweltmeisterschaft hält noch drei Wochen die Familie in Atem. Die Mutter braucht jetzt ihren Frieden. Lasst mich in Frieden, sagt der Postbeamte. Die Briefflut staut. Die Postberge türmen sich. Der Streik will überhaupt kein Ende nehmen. Der Postbeamte braucht jetzt seinen Frieden. Lasst mich nun endlich in Frieden, sagt der Politiker. Die Europawahl ist noch nicht verdaut. Die Bundes­tagswahl steht bald ins Haus. Das Superwahljahr ist eine Tour der Leiden. Der Politiker braucht jetzt seinen Frieden und der Lehrer und der Schüler und der Hausmeister. Wir alle sind mitgenommen. Wir alle sind stressgeschädigt. Wir alle sind urlaubsreif. Wir alle brauchen jetzt unseren Frieden.

Und der Apostel Petrus gibt uns recht. In einem Rundbrief an die frühen Christen schreibt er: “Seid hinter dem Frieden her. Jagt dem Frieden nach. Sucht Frieden.” Nur, und das ist die große Frage, wo sollen wir den Frieden suchen?

Die einen radeln ins Feriencamp am Bodensee und die andern fahren in die Ferienwohnung ins Graubündner Land und die dritten fliegen auf die Ferieninsel vor der afrikanischen Küste. Aber ich befürchte, dass sie dort wohl Sonne und Hitze, Wind und Wetter, Ruhe und Stille, aber keinen Frieden finden. Zu viele kehren nach schönen Urlaubstagen gestärkt, ausgeschlafen und braungebrannt, aber zutiefst unbefriedigt zurück. Wer Frieden sucht, der muss eine Weite finden, die weiter ist als alles andere, weiter als die Wüste, weiter als das Meer, weiter als das Weltall mit seinen Lichtjahrmillionen. Und wer Frieden sucht, der muss eine Höhe finden, die höher ist als alles andere, höher als die Wolkenkratzer, höher als die Himalajariesen, höher als die Satelliten im Weltraum. Und wer Frieden sucht, der muss eine Tiefe finden, die tiefer ist als alles andere, tiefer als die Quellen, tiefer als die Höhlen, tiefer als die Tiefenbohrungen in der Erdrinde.

Und wenn Sie mich erstaunt fragen, wo denn diese Weite sei, die wir mit unseren Schritten nicht durchmessen können, wo diese Höhe sei, die wir mit unseren Blicken nicht erreichen können, wo denn diese Tiefe sei, die wir mit unseren Gedanken nicht ausloten können, wenn Sie mich das so genau fragen, dann antworte ich Ihnen: Diese unvergleichliche Weite ist ein Stall, ein paar Quadratmeter für das Vieh, ein Stellplatz für den Futter­trog, eine Ecke für die, die keinen Raum hatten in der Herberge: der Stall von Bethlehem. Und jene unvergleichliche Höhe ist ein Hügel, 57 Meter über dem Meer, gleich außerhalb der Stadtmauer, für jedes Kind zu besteigen: der Hügel Golgatha. Und jene unvergleichliche Tiefe ist ein Grab, so lang und so breit, dass man einen Toten hineinlegen kann. Aber der Tote liegt nicht mehr drin. Ein leeres Grab also, das Grab des Josef von Arimathia.

Davon redet der Apostel, wenn er von Frieden redet. Er nimmt diesen so missbrauchten, so stark abgegriffenen, so bunt schillernden Begriff und gibt ihm den eigentlichen Inhalt zurück. Friede ist für ihn keine Sache, keine verschwommene oder gar zweideutige Sache, sondern eine Person. Friede, das ist Jesus Christus. Wenn wir also Frieden suchen, müssen wir den Stall von Bethlehem, den Hügel Golgatha und das Grab von Arimathia finden. Dort beim Kind in der Krippe finden wir den Frieden, der die Liebe kennt. Beim Mann am Kreuz finden wir den Frieden, der die Vergebung kennt. Und beim sieghaft Auferstandenen finden wir den Frieden, der die Hoffnung kennt.

Wenn wir Frieden suchen, müssen wir den Stall von Bethlehem, den Hügel Golgatha und das Grab von Arimathia finden.

1. Ein Friede, der die Liebe kennt

… wird in jenem unvergleichlichen Stall sichtbar. Gott liebt den Menschen, der in der Eiseskälte seiner Umgebung zu erfrieren droht, Gott liebt diesen armen Menschen. Aber nun nicht so, dass er ihn aus der Ferne seine Anteilnahme versichert. Im Himmel wird keine Solidaritätserklärung für die Erde abgegeben. Auch nicht so, dass er über Funk die herzlichsten Grüße übermittelt. Ein Nachrichtennetz zwischen sichtbarer und unsichtbarer Wirklichkeit besteht nicht. Gott schreibt erst recht keinen Liebesbrief, den man unterm Kopfkissen versteckt. In Jesus Christus kommt er persönlich. Den Königsmantel hat er abgelegt. Die Richterrobe trägt er nicht überm Arm. Der Marschallstab blitzt nicht aus der Tasche. Die Windeln weisen ihn als einen der Unsrigen aus. Auf dem Stroh liegt einer, der sich demütig herunterhält und bei uns aushält. Inmitten einer morschen Welt strahlt die “familia dei” eine Atmosphäre der Wärme aus. Bethlehem ist der Raum des liebenden Friedens.

Aber dieser Raum darf doch kein Museum bleiben. Gott will keine Krippenausstellung, die einmal im Jahr abgestaubt, beguckt und dann wieder in Pappschachteln verstaut wird. Gott kam nicht deshalb auf die Erde, um sich in Holz oder Ton verewigen zu lassen. Jesus als Schnitzfigur aus Oberammergau oder Annaberg ist zu wenig. Dieser Raum will zu unserem Lebensraum werden. Dieser Friede soll durch uns zu andern kommen.

Es genügt nicht, wenn wir nur aus der Ferne, am Fernsehschirm, Anteil nehmen am Leid der Leidenden. Es genügt nicht, wenn Erklärungen abgegeben, Schlussakten unterzeichnet und Magna Chartas entworfen werden. Leserbriefe und Resolutionen und Überweisungen sind nicht genug. Gott will, dass wir im Umgang mit Untergebenen nicht den Chef heraushängen. Gott will, dass wir nicht möglichst darauf bedacht sind, möglichst groß herauszukommen. Wir müssen doch nicht immer den Meister zeigen. Seid demütig, barmherzig, mitleidig, auch mit denen, die euch nicht liegen und oft genug auf den Geist gehen. Wo sind die Kreise, die nicht im eigenen Saft schmoren? Wo sind die Räume, die Platz auch für andere bieten? Wo sind die Familien, die nicht dicht machen? In einer Welt, wo die zwischenmenschlichen Atmosphären auf Minusgrade absinken, sollen wir das milde Klima seiner Friedens verbreiten, in dem sich wieder leben lässt.

Ein Friede, der die Liebe kennt.

2. Ein Friede, der die Vergebung kennt

… wird auf jenem unvergleichlichen Hügel sichtbar. Gott liebt den Menschen, der an den Kreislauf der Vergeltung gekettet ist und alles auf die Regel abstellt “wie du mir, so ich dir”. Gott liebt diesen bösen Menschen. Aber nun nicht so, dass er ihm neue Spielregeln in die Hand gibt. Gott ist kein Guru, der Kniffe zur Lebensbewältigung verkauft. Auch nicht so, dass er dem Menschen ein dickes Fell und drahtseilschwere Nerven verpasst. Gott lehrt erst recht keine Philosophie, nach der sich alles Böse schon einmal rächen wird. In Jesus Christus kommt er persönlich. Kaum geboren, befindet er sich auf der Flucht. Kaum ausgelernt, lernt er den beißenden Spott kennen. Kaum erwachsen gerben sie ihm die Haut. Aber angesichts des blutrünstigen Mobs ruft er: “Vater, vergib ihnen”. Den Schlagstöcken setzt er seinen Frieden entgegen. Die Liebe Gottes zu den Menschen ist keine glückliche, sondern eine leidende Liebe, aber genau darin erweist sie sich als echt und hat nichts mit parfümierter Herzlichkeit oder gespielter Höflichkeit zu tun. Golgatha ist die Höhe vergebenden Friedens.

Aber, liebe Freunde, dieser Hügel darf kein Monument bleiben. Am Mount Rushmore in den USA kann man stehen und die Präsidialköpfe bestaunen. Am Hermannsdenkmal im Teutoburg­er Wald kann man angesichts der Etruskerfürsten in Ehrfurcht erstarren. Aber Golgatha ist kein Feldherrnhügel. Diese Höhe will zum Richtmaß unseres Handelns werden: “Vergeltet nicht Böses mit Bösem. Vergeltet nicht Scheltwort mit Scheltwort. Segnet, weil ihr dazu berufen seid.” Und Segnen heißt wörtlich: Gutes über den andern reden, Gutes von andern sagen.

Vielleicht so, dass der Mann zur Frau sagt: “Du, ich habe im Wandkalender geblättert und dabei jene Verse wieder gefunden, die Matthias Claudius im Wandsbecker Boten seiner Frau zur Silberhochzeit gereimt hat: ‘Ich war wohl klug, dass ich dich fand, doch ich fand nicht, Gott hat dich mir gegeben, so segnet keine andere Hand.’ Claudius hat mir aus der Seele gesprochen. Du bist mir von Gott geschenkt. Lass uns doch neu anfangen.” Oder vielleicht so, dass sich die Mutter vornimmt, ab sofort nicht mehr hintenherum über ihre Schwiegertochter zu lamentieren, die ihren guten Sohn so schlecht versorgt, sondern nur das Gute weiterzählt und das andere für sich behält. Oder vielleicht so, und so hat es mir einer erzählt, dass er alle bösen Briefe aus dem Ordner herausgenommen und in die grüne Tonne geworfen habe.

Wieviel krank gewordene Ehen, wieviel zerstrittene Familien, wieviel gebrochene Gemeinschaften könnten wieder zum Frieden kommen, wenn der Segen Gottes nicht nur konsumiert, sondern auch transportiert würde!

Ein Friede, der die Vergebung kennt.

3. Ein Friede, der die Hoffnung kennt

… wird in jener unvergleichlichen Tiefe sichtbar. Gott liebt diesen Menschen, der auf dem Friedhof Erde lebt und selbst dem Grab entgegengeht. Gott liebt diesen traurigen Menschen. Aber nicht so, dass er vom fröhlichen Alter spricht. Er weiß, wie schwer Altersgebrechen und Alterslasten sind. Gott gibt auch keine Sterbehilfe, die einen sanften Tod garantiert. Der letzte Kampf ist nie sanft. In Jesus kommt er persönlich. Den ganzen Todesweg nimmt er selbst auf sich. Den ganzen Todeskampf erleidet er in seiner ganzen Schrecklichkeit. Im Felsengrab findet er seine letzte Ruhe. Aber dort ist der Weg nicht zu Ende. Am dritten Tag wird das Grab aufgesprengt. “Er reißet durch die Höll, ich bin stets sein Gesell.” Jesus ist kein Sterbehelfer, sondern ein Lebensbringer. Er will mich durch den Tod in ein neues Leben mitnehmen. Das Grab ist die Tiefe hoffender Liebe.

Aber diese Tiefe darf kein Engpass bleiben. Wenn Sie die Enge anficht, in die Sie eine schwere Krankheit getrieben hat, wenn Sie die Enge eines Grabes anficht, in der ein geliebter Mensch ruht, dann soll Sie diese Tiefe und Weite seines Friedens bestimmen, die jene Engpässe zu Durchpässen zur Ewigkeit gemacht hat.

Wie war das noch einmal bei dem Lappen Jon, der auf Regierungsbefehl mit einigen Begleitern 3000 Rentiere über 1000 Kilometer durch die Polarnacht treiben musste? Vier Monate Dunkelheit waren kaum zu ertragen. Mensch und Tier litt unter der Finsternis. Und eines Tages geschah es: Ein Mann kam gelaufen und schrie “Ich habe sie gesehen.” Das Leben um die Schneehütten verwandelte sich mit einem Schlag. Alle rannten zum nächst­en Hügel und starrten nach Südosten. Dort fing es an zu glühen. Rote Strahlen schossen empor, Lanzen gegen die Nacht. Und dann kam die Sonne wie eine Messerklinge aus Feuer. Sie hob sich und wurde breiter und höher. Die Leute jubelten, winkten und hielten die bellenden Hunde fest. Sicher, rasch sank die Scheibe wieder, aber sie wussten: Sie wird wiederkommen, stärker werden, wärmer strahlen.

Da mögen Stürme blasen und Winde, brausen, der Sieg des Lichtes ist nicht mehr aufzuhalten. “Seid bereit zur Verantwortung über die Hoffnung, die in euch ist” meint nun nichts anderes, als so wie jener Mann zu schreien: “Ich habe sie gesehen. Die Sonne kommt.” Dieses Licht wird unseren ganzen Jammer in den gleißenden Schein seiner Herrlichkeit tauchen, denn “Kreuz und Elende, das nimmt ein Ende, nach Meeresbrausen und Windessausen, leuchtet der Sonne erwünschtes Gesicht.”

Liebe Freunde, ob Sie auch zu denen gehören, die sich nach Frieden sehnen? Wer Jesus sucht, findet Frieden.

Amen


[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]