0:00:00
0:18:00

Die Grenze zwischen Zeit und Ewigkeit ist nicht offen wie ein Scheunentor. Kennen wir die wichtigste Tür, auf die wir alle direkt zumarschieren, das Tor zum Himmelreich? Der Text von der verschlossenen Tür will helfen, dass wir nicht eines Tages draußen vor der Tür stehen. - Predigt zum Buß- und Bettag aus der Stiftskirche Stuttgart


Es wird nicht bei jedem dasselbe sein, liebe Gemeinde, aber in meiner Erinnerung spielt das Bild einer Tür eine wichtige Rolle. Ich sehe sie vor mir mit ihrer durchbrochenen Glasfüllung und einem weißen Spanner dahinter, die Tür zum Elternhaus. Wie oft habe ich sie als Kind geöffnet und trotz elterlicher Ermahnung selten wieder geschlossen. Unter dieser Tür verabschiedete die Mutter den ABC-Schützen, gab ihm einen Kuss und fragte, ob er denn das Taschentuch nicht vergessen habe. Viel guter Rat und viel herzliche Liebe ist mir an dieser Schwelle mit auf den Weg gegeben worden. Gar nie wurde mir diese Tür vor der Nase zugeschlagen. Die Tür zum Elternhaus stand für mich immer offen.

Dann sehe ich sie vor mir mit ihrem kupfernen Beschlag und den massiven Griffen, die Tür zum Schulhaus. Wenn die Glocke ertönte, war es wie der Sturm auf die Bastille. Jeder drückte und drängelte und verschaffte sich mit dem Schulranzen eine günstige Spitzenposition. Leider ging manche Schiefertafel in die Brüche und beim Lehrer gab es ein Scherben­gericht. Anfangs erschien mir die Schulhaustür wie das Freiheitstor hinaus in die große, weite Erwachsenenwelt, aber bald genug wurde sie zur Gefängnispforte, die mich einsperrte und manche Strafe abbrummen ließ. Die Tür zum Schulhaus habe ich gerne hinter mir gelassen.

Dann sehe ich sie vor mir mit ihrem Rundbogen und dem mittelalterlichen Seilzugöffner, die Tür zum Pfarrhaus. Über einen sogenannten Spion, einen Spiegel, konnte jeder Besucher vom Hausgang aus beobachtet werden. Strahlende Pärchen standen vor dieser Tür, die zum Traugespräch kamen, dann glückliche Eltern, die ihre Kinder zur Taufe anmelden wollten, dann schwarzgekleidete Angehörige, die wegen eines Todesfalls die Klingel drückten, auch muntere Konfirmanden, die im Pfarrbüro ihren Unterricht absitzen mussten. Der Spion zeigte fröhliche und traurige, offene und verschlossene, fragende und zweifelnde Gesichter. Die Tür zum Pfarrhaus war wie eine Schleuse, durch die das Leben in seiner ganzen Breite hindurchflutete.

Dann sehe ich noch viele andere Türen, so wie Sie sie alle auch kennen, die Haustüren, auf denen Messingschildchen den Namen verraten, die Gartentore, hinter denen ein wütender Hund den Zugang versperrt, die Kirchenportale, an denen Generationen von Künstlern gearbeitet haben. Jeder hat seine Erfahrungen mit Türen, Toren, Portalen gemacht, aber kennen wir auch die letzte Tür, mit der wir es alle zu tun haben werden?

Die Grenze zwischen Zeit und Ewigkeit ist nicht offen wie ein Scheunentor, durch das jeder Grenzgänger problemlos hindurchspazieren könnte. Kennen wir auch die wichtigste Tür, auf die wir alle direkt zumarschieren? Von einer Massenhimmelfahrt hinauf ins Elysium habe ich nichts in der Bibel gelesen. Kennen wir auch die Tür zum Gottesreich, das Tor zum Himmelreich, das Portal zum letzten König­reich? Dieser Text will helfen, dass wir sie näher kennenlernen und nicht eines Tages draußen vor der Tür stehen. Drei klare und einfache Aussagen werden hier gemacht.

1. Diese Tür ist erkennbar

So wie diese Stiftskirche ein Brauttor oder ein Aposteltor oder eine Chortür oder eine Sakristeitür hat, so hat das Himmelreich ein Christus-Tor, eine Jesus-Tür. Vor ihm gab es nur einen Todesstreifen, eine unüberwindliche Mauer, einen eisernen Vorhang zwischen sichtbarer und unsichtbarer Welt. Der Engel mit dem bloßen, hauenden Schwert als unerbittlicher Grenzwächter stellte keinem ein Visum aus. Eingesperrt wie der Vogel im Käfig, das war unsere aussichtslose Lage. Dann nahm Jesus seinen Weg nach Jerusalem. Dort blieb er nicht vor der Stadtmauer stehen. Dort hielt er nicht an der Klagemauer inne. Dort versteckte er sich nicht hinter der Tempelmauer. Direkt vor der Schandmauer des Todes kam er mit seinem Kreuzesbalken an und schrie: Es ist vollbracht. Die Sonne verschwand, die Erde bebte, der eiserne Vor­hang bekam einen Riss. Mitten durch die Mauer war ein Loch geschlagen, ein Ausgang, ein Durchgang, ein Übergang. Jesus hat seine Verheißung wahrgemacht: “Ich bin die Tür” und gleichzeitig klargemacht: “Ich bin die einzige Tür”.

Wir denken so wie die Berliner in diesen Tagen: Wenn eine Tür am Potsdamer Platz aufgeht, dann gehen andere an der Bernauer Straße und am Checkpoint Charly und am Brandenburger Tor auch auf. Wenn Jesus die Haupttür aufgestoßen hat, dann gibt es sicher auch eine Nebentür der guten Werke. Die Spende für die dritte Welt und die Steuer für die Kirche kann doch nicht zum Fenster hinausgeworfen sein. Die Besuche beim kranken Nachbarn und die Aufwendungen für die Kinder können doch nicht für die Katz’ gewesen sein. Unsere Pluspunkte sind doch ein Sesam-öffne-dich für diese Nebentür. Wenn Jesus die Haupttür aufgestoßen hat, dann gibt es sicher auch eine Seitentür der billigen Gnade. Weil es ihn das Leben gekostet hat, besitze ich ein Freibillet. Die Lehre Luthers vom “völlig umsonst” selig werden kann doch nicht plötzlich außer Kraft gesetzt sein. Auch ohne meine Liebe, meinen Glauben, mein Leben steht diese Tür sperrangelweit offen. Wenn Jesus die Haupttür geöffnet hat, dann gibt es doch eine Kellertür für Spätheimkehrer. Die Lebenstage waren randvoll mit Arbeit und Aufgaben, dass einfach keine Zeit blieb für Gebet und Gottesdienst und Gemeinde. Aber jetzt ist man alt geworden und kurz vor dem Ende eines gottlosen Lebens, der Wunsch, selig zu werden, selig zu sterben. Der Liebe Gott wird immer noch ein Türchen offen halten.

Aber täuschen wir uns nicht! Die Todeswand hat keine Nebeneingänge. “Viele werden danach trachten, wie sie hineinkommen und werden’s nicht können.” Die Todeswand hat keine Schlupflöcher. “Wie oft habe ich euch geruf­en und ihr habt nicht gewollt.” Die Todeswand hat keine Hintertüren. Niemand kann damit rechnen, dass dieser Gott ein korrupter Beamter ist, der für eine Stange Zigaretten und ein paar Westmark einen Sondereingang verschafft. Er hat durch seinen Sohn einen Haupteingang geschaffen ohne Schild “Zutritt verboten!”, ohne Aufschrift: “Nur für Weiße!”, ohne Aufkleber: “Privat!” Er hat einen Haupteingang offen für alle, an dem Jesus steht, einlädt und sagt: “Es gibt die Tür. Ich bin die Tür. Das ist die Tür.” Diese Tür ist erkennbar.

2. Diese Tür ist begehbar

Vor einiger Zeit bekam ich einen Bild­band mit dem Titel “Portale” geschenkt. Auf 95 Seiten sind weltbe­kannte Eingänge der Baugeschichte abgebildet und beschrieben. Das ottonische Bronzeportal am Augsburger Dom, das gotische Nordportal der Abteikirche von St.-Benoît-sur-Loire, das mittelalterliche Westportal an der Kathedrale von Reims, lauter weltberühmte Kunstwerke zum Bestaunen. Menschen aus aller Herren Länder strömen herbei, bleiben stehen und schauen sie ehrfürchtig an.

Die Tür zum Gottesreich ist nicht zum Anschauen. Das Tor zum Himmelreich ist nicht zum Bestaunen. Das Portal zum letzten Königreich ist nicht zum Stehenbleiben, sondern zum Durchgehen. Menschen sollen hin­durchströmen in seine Ewigkeit. Dies passiert nicht automatisch. Durchs Schultor wird einer geschubst, auch wenn er keine Lust dazu hat. Durchs Fabriktor wird einer gedrängt, auch wenn er lieber Urlaub hätte. Durchs Tor zum Rentenalter wird einer gezwungen, auch wenn er noch gerne arbeiten würde, aber durchs Tor zum Himmel muss jeder gehen.

“Ringt darum, dass ihr durch die enge Pforte hineingeht.” Das heißt doch, dass wir nur einzeln eintreten kennen. In der Masse soll sich keiner verstecken können. Es darf niemand im großen Haufen mitgezogen werden. Ins Reich Gottes schwappt man nicht hinein, so wie die Menschenwogen, die in diesen Tagen nach Westberlin hineinschwappen. Nur einzeln, ohne Anhang, ganz auf sich gestellt, kommt man durch die enge Tür. “Kämpft darum, dass ihr durch die enge Pforte hineingeht.” Das heißt doch weiter, dass wir nur mit gebeugtem Kopf eintreten können. Hocherhobenen Hauptes soll sich keiner hereintrauen. Es darf keiner mit stolz geschwellter Brust diesen Raum betreten. Ins Reich Gottes stolziert man nicht hinein. Nur gebeugt, ohne Stolz, wissend “Wir sind allzumal Sünder und mangeln des Ruhmes, den wir bei Gott haben sollen”, kommt man durch die enge Tür. “Bemühet euch darum, dass ihr durch die enge Pforte hineingeht.” Das heißt weiter, dass wir sie mit leeren Händen passieren sollen. Vollbepackt soll sich keiner hindurchzwängen. Es darf keiner mit Koffern voller Schätze und Bündel voller Sorgen hinein. Ins Reich Gottes wankt keiner schwerbeladen hinein. Jesus, der an dieser Schwelle steht, sieht jeden einzelnen, grüßt jeden Gebeugten und nimmt jedem Belastenden seinen Packen ab. Kommet her, die ihr beladen seid, ich will euch erquicken. Leute also, die sich nicht vermassen lassen und im Strom der Anonymität untertauchen, Leute, die sich selber klein machen und nicht ihre eigenen Verdienstorden vor sich hertragen, Leute, die ihre Lasten loslassen und alles dem Herrn überlassen, diese Leute sind bußfertige Leute, die ihren Lebensweg getrost weitergehen bis zu dem Tag, an dem sie vor dem Todestor stehen, aber dann wissen: Diese Tür ist begehbar.

3. Diese Tür ist verschließbar

Der Hausherr besitzt einen Schlüssel. Den steckt er eines Tages ins Schloss. Dann ist die Tür zu, so wie damals bei Festbeginn. Sobald die Musik intonierte, die Kerzen brannten und die Leute Platz genommen hatten, drehte der Gastgeber den Hausschlüssel herum. Natürlich hatten sich einige Gäste verspätet. Keuchend rannten sie die Straße herunter und nahmen drei Treppen auf einmal. Stürmisch bedienten sie den Türklopfer. “Wer seid ihr?”, fragte eine Stimme von drinnen. “Wir sind aus der Nachbarschaft und haben mit dir schon oft gegessen”, antworteten die einen. Aber die Stimme sagte: “Ich kenne euch nicht”. “Und wir sind aus der Bekanntschaft und haben mit dir schon oft getrunken”, antworteten die andern. Aber die Stimme sagte: “Ich kenne euch nicht”. “Und wir sind aus der Verwandtschaft und haben mit dir schon viele Feste gefeiert”. Aber die Stimme sagte: “Ich kenne euch nicht”. Draußen vor der Tür, das war das Schicksal der Verspäteten.

Liebe Gemeinde, von unserem Herrn heißt es in der Offenbarung: “Der Heilige und Wahrhaftige hat den Schlüssel.” Den steckt er eines Tages ins Schloss. Dann ist die Tür zu. Sobald die letzten Posaunen intoniert haben, die sieben goldenen Leuchter brennen und die 24 Ältesten im Thronsaal Platz genommen haben, dreht der Gastgeber den Hausschlüssel herum. Natürlich werden sich einige verspätet haben. Keuchend kommen sie an die Himmelstür. Stürmisch klopfend begehren sie Einlass. “Wo seid ihr her?”, wird die Stimme fragen. “Wir sind von der Landeskirche und haben immer pünktlich unsere Kirchensteuern bezahlt”, antworten die einen. Aber die Stimme sagt: “Ich kenne euch nicht”. “Und wir sind aus der Stiftsgemeinde und haben immer wieder am Gottesdienst teilgenommen”, antworten die andern. Aber die Stimme sagt: “Ich kenne euch nicht”. “Und wir sind vom Altenclub, vom Frauenkreis, vom Posaunenchor und haben dort 25-jähriges Jubiläum gefeiert”, antworten die Dritten. Aber die Stimme sagt: “Ich kenne euch nicht”.

Unserem Herrn ist keiner unbekannt, aber er kennt nur den richtig, der sich nicht auf einen äußerlichen Kontakt beschränkt hat, sondern in einer inneren Gemeinschaft mit ihm lebt. Kennen meint die innerste Gemeinschaft, das Offensein füreinander und das Festhalten aneinander. Wer seine Schuld bei ihm ablädt, wer in ständiger Sprechverbindung mit ihm steht, wer in der Gemeinschaft seiner Leute lebt und bleibt, der wird es an jenem Tag an der erkennbaren, begehbaren und verschließbaren Tür anders hören, nämlich so: “Ich kenne dich. Ich liebe dich. Ich freue mich, dass du da bist.” Es lohnt sich, beim letzten Fest dabeizusein.

Amen


[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]