Gemeinschaft als Herzstück des Pietismus
Und als ich in die Gemeinschaft in der Heimstraße kam, sagte Vater Haubensack zu Herrn Fikar: „Es halten sich eben so wenig Pfarrer zur Gemeinschaft.“
Daraufhin antwortete ich in der Einbildung eines Fikars: „Aber ich bin doch heute gekommen.“
Er entgegnete: „In die Stunde kommt man nicht, in die Stunde geht man.“
Man hält sich also zur Gemeinschaft. Der Pietismus ist in erster Linie eine Gemeinschaftsbewegung. Das Anliegen von Spener waren die Collegia Pietatis, dass neben dem Gottesdienst wirklich eine Bruderschaft besteht, wie man heute sagt, Geschwisterlichkeit.
Pietismus ist nicht nur ein Parfüm, das über eine Landschaft gegossen wurde, oder – schwäbisch gesagt – ein Geschmäckle. Vielmehr lässt sich genau lokalisieren, wer zur Gemeinschaft gehört und wer nur eine pietistische Großmutter hatte.
Ich bin auch dankbar dafür, dass ich eingeladen wurde, und darf im Namen der württembergischen Kirchenleitung herzlich grüßen.
Wir sind in Württemberg dankbar für die starken und wichtigen Einflüsse des Pietismus. Ich durfte hier im Remstal, ein Stück stromabwärts, 14 Jahre Dekan sein.
Meine Vorvorvorgänger, die Spezialsuperintendenten, haben beschrieben, wie zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Lage trostlos war.
Notlage und Hoffnung im Remstal
In einer Gegend, in der Weinbau betrieben wird, führen zwei oder drei Jahre mit Fehlernten dazu, dass es nichts mehr zu nagen und zu beißen gibt.
Im Remstal gab es keine Felder in den Auen. Dort lebten Störche, aber die Flächen konnten nicht mit Getreidefeldern bebaut werden. Die Menschen zogen in den Welsheimer Wald und den Schurwald. Dort lösten sie Rinde von den Bäumen ab und vermischten sie mit dem wenigen Mehl, das sie hatten. Dies führte zu Trunksucht und Diebstählen.
Dann kam ein neuer Ton auf. Es wurden Suppenküchen eingerichtet und Einrichtungen der Nächstenliebe geschaffen – hier im Remstal, eigentlich an jedem Ort. In Winterbach entstand 1841 das erste alte Pflegeheim in Hebsack, ein Heim für Kinder von ledigen Müttern, und ähnliche Einrichtungen entstanden bis nach Stetten hinunter und nach Winnenden hinüber.
Eine neue Hoffnung ist ins Tal gekommen, heißt es 1841 beim Spezialsubundenten Bauern. Diese Hoffnung entsteht in kleinen Kreisen und Gruppen, in denen die Bibel gelesen und gebetet wird, in denen private Erbauungsstunden gehalten werden.
Pietismus als Quelle von Lebensmut und Bibelverbundenheit
Unser früherer Bundeskanzler Kiesinger hat in seinem Ruhestand eine wissenschaftliche Arbeit verfasst. Darin schreibt er, dass Württemberg heute ein hochtechnisiertes Land ist, das vom mittelständischen Betrieb geprägt wird. Dies sei auf den Pietismus zurückzuführen, der in einer Zeit großer Not investiert hat, weil er Hoffnung und Lebensmut besaß.
Der Pietismus hat unsere Landeskirche bereichert, indem die Bibel einen großen Raum in unserer Kirche einnahm. So schenkte später Otto Riedmüller, der aus einem pietistischen Haus in Cannstatt stammte, der Mädchenarbeit die Monatssprüche und die Jahreslosung. Dies war ein pietistisches Erbe für ganz Deutschland. Die ganze Praxis pietatis, das Beten können, stammt aus dieser Tradition.
Vor etwa einem Monat hat mich Herr Ministerpräsident Teufel besucht. Er kam nicht schleichend wie ein wilder Löwe, sondern ganz lieb und brüderlich. Zu Beginn haben wir gemeinsam gebetet, auch für seinen Dienst. Dann sagte er, ein katholischer Christ aus der Gegend von Rottweil: „Wissen Sie, das können wir katholischen Christen nicht so beten.“
Wir haben für die Heimat, den Vater, gebetet. Es wurden Namen genannt von Menschen, für die Fürbitte gehalten werden sollte. Danach ist die ganze Familie um den Tisch aufgestanden und hat gemeinsam das Vaterunser gebetet.
Dass man frei beten kann, das verdanken wir dem Pietismus.
Pietismus in der EKD und die Bedeutung der Laien
Im Jahr 1972 bin ich in die Synode der EKD gekommen. Am ersten vollen Sitzungstag hat Frau Professor Doktor Kimmich die Morgenandacht gehalten. Wir haben eine Bibelauslegung gehört, Choräle gesungen, und sie hat frei gebetet.
Am nächsten Tag hat Frau Doktor Anne-Laure Schmidt, die Leiterin und Repräsentantin unserer offenen Kirchen in Württemberg, die Andacht gehalten. Auch sie hat frei gebetet und die Bibel ausgelegt. Dabei hat neben mir Lieselotte Funke gesagt: „Habt ihr euch aus Württemberg nur Pietisten in die EKD-Synode geschickt? Bei uns sind sogar noch die Leute der offenen Kirche mit pietistischem Öl gesalbt.“
Ich bin dankbar für die reiche Laienaktivität, die wir in unserer Kirche haben, die natürlich vom Pietismus kommt. All das, was mir wichtig ist, kann ich an der Gestalt von Johann Albrecht Benge festmachen. Er ist mir wichtig, nicht zuletzt, weil er Prälat war. Auch im hohen Alter wurde er noch Prälat und stellte dann fest, wie wenig man als Prälat in einer Kirche ausrichten kann.
Er sagt einmal: „Wenn ich in unserer Kirche etwas zu sagen hätte ...“ Ich kann ihn sehr gut verstehen.
Johann Albrecht Bengel und die Bedeutung der Schrift
In dem großen Sitzungssaal des württembergischen Oberkirchenrats hängt neben einem Kruzifix nur ein Bild: das Bild von Johann Albrecht Bengel mit der wichtigen Unterschrift „Wenn die Kirche wacker ist, glänzt die Schrift, aber wenn die Kirche kränkelt, bleibt die Schrift verliegen, vertrocknet sie.“
Bengel hat das Wort von Spener im Grunde genommen umgedreht. Spener hatte gesagt, einer kranken Kirche könne nur die Schrift helfen – mehr Bibel. Bengel hingegen erkannte, dass es in einer kranken Kirche nichts nützt, wenn wir mehr Bibel haben. Dann wird selbst die Bibelauslegung verfälscht, so wie wir es heute sehen, etwa im Bericht des Herrn Dresdes. Die Bibel wird vermenschlicht.
Bengel sagte, dann werden die edlen Worte wie Liebe und Friede oft zitiert, aber nur im rein menschlichen Sinn, und der göttliche Sinn kommt nicht durch. Heute predigen viele Pfarrer nicht mehr nur historisch-kritisch und fragen, ob ein Text von Paulus stammt oder nicht. In einer Zeit wie heute, in der alles religiös ist, ist das Stroh, das nicht noch einmal gedroschen werden soll. Aber alles bleibt im menschlichen Sinn.
Wenn die Kirche kränkelt, bleibt die Schrift verliegen – vielleicht auch bei uns –, sodass wir über einen rein menschlichen Sinn nicht hinauskommen.
Diesem Johann Albrecht Bengel verdanken wir sehr viel. Er war dreißig Jahre lang Klosterpräzeptor, also zweiter Lehrer in Denkendorf, in einer der kirchlichen Knabenschulen, wo junge Leute für den Lehrer- oder Pfarrberuf ausgebildet werden sollten. Bei jeder Berufung für die Universität Tübingen wurde er souverän übergangen. Das hat Bengel sehr geschmerzt, denn er musste sich dreißig Jahre lang mit elf- und zwölfjährigen Burschen herumschlagen.
Oft schrieb er in Briefen: „In hoc loco meo obscuro“ – in meinem dunklen Loch Denkendorf –, ich bin vergessen worden. Bis ihm Gott zwei Dinge klargemacht hat: Erstens, dass es etwas Großes ist, um eine Handvoll junger Leute. Sie können das Gewürz für ein ganzes Herzogtum darstellen.
Aus den Promotionen, die er begleiten durfte, sind später Persönlichkeiten wie Weissenhausvater Beck, Philipp Friedrich Hiller und Magnus Friedrich Roos hervorgegangen, die unser württembergisches Land beschenkt haben.
Ich möchte jedem Kindergottesdienst helfen und jedem Jungscharleiter ein Stammbuch schreiben. Es ist etwas Gewaltiges, um eine Handvoll junger Leute. Sie können das Gewürz für eine ganze Region werden.
Bengels Erkenntnisse über die Bibel und ihre Auslegung
Das Zweite Bengel sagt einmal: In ho gloco meho obscur – mein dunkles Loch Dengendorf. Ich habe immer wieder den Eindruck bekommen, ich sei in den Mittelpunkt der Weltgeschichte Gottes gestellt worden, weil ich die Bibel studieren darf, wie ich es nirgends anderswo gekonnt hätte.
Wo gibt es das, dass nach 250 Jahren noch ein Kommentar bei Theologen in Gebrauch ist, wie Bengels Gnomon? Unveraltet! Bengel hat uns in Württemberg und darüber hinaus wichtig gemacht, dass der Bibeltext verlässlich ist. All die Kritisiererei ist lächerlich – der Bibeltext ist verlässlich.
Zweitens: Man braucht gar nicht so viel auszulegen. Bengel sagt, wenn unser Herr sagt „ringet danach“, dann soll ich nicht so viel Sauce um dieses Fleisch herum machen. Das ist klar: „Ringet danach, dass ihr durch die enge Pforte eintritt.“
Drittens, was Bengel gesagt hat: Es gibt kein Biegeleien in der Bibel. Biegeleien sind, wie man in Norddeutschland sagt, im Dachstock – nicht oben unterm Dach. So kleine Ausbauten, letzte Winkel, wo man die alten Koffer hinstellt, die man nicht mehr braucht. Reiserinnerungen von vor zwanzig Jahren, Brautbriefe und solche Dinge, die man sich vornimmt, im Ruhestand noch mal zu lesen.
In der Bibel ist kein Biegelein, nicht der letzte Winkel ohne Bedeutung. Und ich muss die Bibel heilsgeschichtlich lesen – im Blick auf die großen Ziele Gottes. Sie ist nicht als eine Spruchsammlung von edlen Konfirmationssprüchen zu benutzen, sondern es gibt einen Plan Gottes quer durch die Bibel bis zur Vollendung.
Aber das Größte vielleicht ist das Lied, das in unserem württembergischen Gesangbuch im Anhang steht:
„Du Wort des Vaters, rede du und stille meine Sinnen.
Sag an, ich höre willig zu,
ja lehre frei von ihnen,
so schweigt Vernunft mit ihrem Tand
und du bekommst die Oberhand.“
Die Bibel ist nicht bloß ein Buch von vorgestern, sondern der lebendige Gott will das Wort seiner Apostel und Propheten benutzen als eine Membran, die er in Schwingungen versetzt. Es ist ein Kampf geschehen – hoffentlich merken wir es bei unseren Vorbereitungen über das Wort Gottes.
So schweigt Vernunft mit ihrem Tand, auch schweigt, was ich vor einem Jahr über diesen Text schon gesagt habe. Du bekommst die Oberhand, du lebendiger Herr, gewinne du mich, sag mir dein Wort.
Die Herausforderung einer kranken Kirche und die Kraft der Gnade
Wenn die Kirche kränkelt, bleibt die Schrift liegen. Welches Rezept gibt es, damit wir uns neu vom Wort Gottes treffen lassen? Wenn Gottes Wort die Oberhand gewinnt, zeigt es uns, wo wir krank sind, wie wir der Gnade bedürfen und wie wir das lebensschaffende Wort brauchen.
Es zeigt uns auch, wie sehr wir der Leitung unseres Herrn bedürfen – trotz unseres Kleinglaubens, unserer Überheblichkeit und unserer Sicherheit. So werden wir verlangend, wie Bengel es nach der Gnade des lebendigen Herrn beschreibt. Auf dass Gnade wirklich Gnade sei und sein Herrentum auch wirklich Herrentum über uns wird.
In Württemberg, wo wir als kleine Buben oft gelacht haben, wenn wir in die Stunde gingen, gab es neben dem schon erwähnten Pfarrhorn einen lieben, schlichten Laienbruder. Den nannten wir „den Bruder, oh“, so wurde das genannt. Wenn ein Text dran war, in dem Samuel sagte: „Herr, rede!“, wenn er geredet hat, dachten wir: „Oh, dass man doch auch so hören würde wie Samuel!“ Oder wenn es darum ging, dass die Aussätzigen riefen: „Jesus, Sohn Davids!“, „Abraham!“, dachten wir: „Oh, dass man doch alles so zum Herrn rufen würde!“
Ja, das ist der schwäbische Grundton: dass ich erkenne, wo ich krank bin, dass das Wort Gottes mich trifft und dass ich doch auch einer wäre, der neu begierig ist nach dem Heil.
Bengel und Zinzendorf: Ein geistlicher Dialog
Ein aktuelles Thema noch zu Bengel: Er hatte vor der Zeit von Reichsgraf Nikolaus Ludwig von Zinzendorf eine harte Auseinandersetzung mit ihm. Zinzendorf rief den Periodus für die philadelphische Gemeinde aus, in der Musik, Gesang, Illumination, Gemälde und Liebesmale eine wichtige Rolle spielten. So neu sind diese Dinge also gar nicht.
Als Bengel sich nach einem zweitägigen Gespräch in Denkendorf von Zinzendorf verabschiedete, umarmte er ihn unter Tränen und sagte: „Er ist mein Bruder, aber ich werde ihm widerstehen, wo ich nur kann.“ Ein beeindruckendes Wort, nicht wahr?
In den zwei Tagen legte Bengel ihm das Ziel der Pläne Gottes dar. Er erklärte, dass wir durch viel Trübsal ins Reich Gottes gelangen müssen und dass die große Versuchungsstunde für die Gemeinde Jesu, auch für die philadelphische Gemeinde, erst noch kommen wird. Diese Versuchung wird über den ganzen Erdkreis kommen, und niemand wird bestehen, wenn unser Herr nicht in seiner Treue zu uns steht.
Es heißt, der Reichsgraf sei dabei bleich im Gesicht geworden und sehr frappierend aufgestanden. Bengel sagte später, man müsse mit solchen Leuten unter vier Augen reden.
Lass es mir gesagt sein: Nachdem ich jetzt ein Blättchen im Blick auf die charismatischen Umtriebe veröffentlicht habe, müssen wir vielleicht unter vier Augen den großen Heilsplan Gottes darlegen.
Die Rolle der Frauen im Pietismus
Ich habe zwar viel über Bengel gesprochen, doch meine Hauptintention heute Abend ist, über pietistische Frauen zu sprechen. Es gibt ein vierbändiges Werk mit dem Titel „Württembergische Väter“. Ich möchte die Anregung geben, diesem Werk ein achtbändiges Werk „Württembergische Mütter“ zur Seite zu stellen.
Als unser Bruder Martin Höfer vor einer Woche bestattet wurde, erzählte Pfarrer Wanner aus Korntal, wie Bruder Höfer durch eine Frau in Göppingen, die den jungen Martin unter ihre Fittiche genommen und ihm biblische Geschichten erzählt hat, eine entscheidende Weiche in seinem Leben gestellt wurde.
Ich habe das dann bei unserer Jahresversammlung am 1. Februar aufgegriffen und Bruder Wanner gefragt, wo er den ersten Segen erhalten habe. Er antwortete, auch von einer Frau, die ihm als jungem Burschen biblische Geschichten erzählt hat.
In Manila wurde gefragt: Wer ist durch eine Groß-Evangelisation zum Glauben gekommen? Einige haben die Hand gehoben. Wer ist durch persönliches Bibellesen zum Glauben gekommen? Auch hier haben einige die Hand gehoben. Wer ist durch einen anderen Mitchristen zum Glauben gekommen? Das war ein Meer von Händen.
Wenn wir weiter gefragt hätten, bei wem es eine Frau war, wären es kaum weniger gewesen.
Gott benutzt auch im schwäbischen Pietismus, wo er Gemeinde baut, seine Mägde, damit sie in der Kraft des Heiligen Geistes prophetisch reden – nach dem Propheten Joel. Das heißt, dass sie das Herz ergreifen. Es bedeutet nicht, dass wir über Zukunftssätze behaupten sollen, dass es zu Herzen geht und in die Tiefe dringt.
Barbara Sophia Bengel: Eine Mutter des Glaubens
Bengel wäre undenkbar ohne seine Mutter. Ich möchte Ihnen einige meiner ersten Studien zum achtbändigen Werk mitteilen.
Barbara Sophia Bengel hat früh ihren Mann verloren. Von ihrer großen Kinderzahl sind viele gestorben. Sie hat einmal gesagt: „Nennt mich nicht Naomi, sondern Mara, die Betrübte.“ Doch fügte sie gleich hinzu: „Aber der getreue Gott hat sich so oft meiner Schwachheit erbarmt, dass ich mich an das Wort halten will: Wenn ich nur dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde.“
Wenn Sie Bengels Lied hören – „Gott lebend, sein Name gibt Leben und Stärke, er heiße der seinigen Sonne und Schild“ – und sobald ich, so oft ich seinen Segen vermerke, mich innig mit Kräften erfüllt fühle, dann ist das die Erfahrung, die er bei seiner Mutter gewonnen hat.
Seid ihr noch entfernt, so seht und lernt, was manche an seinen Durchdringenden gaben, ja selbst an ihm, dem Lebendigen, haben.
Die Mutter war eine große Beterin. Sie hatte viele Nöte. Man wollte sie um das letzte Erbe bringen, und sie hat es im Gehorsam gegen den Herrn hingenommen. Sie hatte große Sorgen, wie es mit ihren Kindern weitergehen sollte. Einmal sagte sie: „Wenn ich nachts aufwache und nicht mehr schlafen kann, wenn die Sorgenberge mich erdrücken wollen, dann befehle ich sie meinem lebendigen Gott. Und freue mich morgens, dass ich leicht wie ein Engelein aufwachen darf.“
Wenn Bengel in seinem Lied sagt: „Vollführe deine Wunderschlacht in mir durch deines Geistes Macht“, dann war Beten für sie nicht bloß ein Wunschzettel an den lebendigen Jesus, sondern die Wunderschlacht. Wenn der Teufel mich mit Sorgen erdrücken will, dann rufe ich: Herr Jesus, sei du da, lebendiger Gott!
Verlust und Glaube in der Familie Bengel
Die ganze wertvolle Bibliothek ihres Mannes, die sie ihrem Sohn Johann Albrecht vererben wollte, war von großer Bedeutung. Sie war eine Nachkommin unseres schwäbischen Reformators Johannes Prenz. In der Bibliothek ihres Mannes befanden sich viele wertvolle Bücher. Beim Franzoseneinfall unter Mellack wurde Winnenden zerstört. Scherndorf hingegen blieb verschont, weil die Frauen von Scherndorf sich entschieden widersetzten.
Die Weiber von Scherndorf sagten: „Hier kommt niemand rein!“ Das zeigt, wie wichtig die Frauen waren. Trotzdem wurde die Bibliothek verbrannt. Sie sagte daraufhin, es sei gut für ihren Johann Albrecht Bengen, dass er sich nicht an vielerlei Dingen erfreue, sondern sich auf das eine wichtige Buch konzentriere. Auch eine Bibliothek kann eine Versuchung sein, nicht nur der Fernsehschirm.
Bengel schrieb rückblickend auf seine Jugend an der Seite dieser Frau, Barbara Sophia: „Meine Jugend war ernst. Aber sie war zugleich ein Meer von Erbarmen Gottes. So viel Gnade war da, dass hundert alte Adam darin ersäuft werden konnten.“
Verstehen Sie, das ist charismatisch: In der Gnade Gottes kann mein alter Adam, selbst wenn er hundertmal aufersteht, ersäuft werden. Das ist keine Siegerlehre, sondern Erbarmung Gottes.
Bengel verfasste ein Gedicht, wie es damals üblich war, als sie gestorben war. Darin heißt es: „Da hat sie Gott und sich in Sünd’ und Gnade erkannt.“ Von Siegestheologie ist hier nichts zu spüren. Sie hat sich in Sünde und Gnade erkannt.
Sie hat gelernt, gefragt, geprüft, geglaubt und bekannt. Sie hat sich eigenen Rechts, Ruhms und allem anderen entsagt, auch als es um das wertvolle Haus und Grundstück ging. Mit Beten und Geduld hat sie die Trübsal getragen.
Darum geht es: Wir dürfen im Trübsal nicht hängenbleiben. Nicht um uns zu erhöhen, sondern damit wir durch die Gnade Gottes hindurchkommen, ihm glauben und vertrauen.
Frauenforschung im Pietismus und geistliche Vorbilder
Ich möchte heute Abend ein Stück pietistischer Frauenforschung betreiben. Ideal wäre ein Schreibenschefbuch für Frauenforschung.
Bengel hatte eine merkwürdige Patin. In Winnenden wohnte damals eine schlesische Vertriebene, eine Adlige, eine Frau von Janowitz. Ihr Grabmal in Brackenheim-Schneude trägt ein etwas ungelenkes Gedicht, das jedoch deutlich macht, dass wir auf den Schultern des Wirkens Gottes stehen, wenn wir darauf achten, was er an Frauen tut.
Der Sarah Gottesfurcht, der Rahel Lieblichkeit, Rebeccas reine Zucht, der Jael Freudigkeit, Abigails Vernunft, im Beten Hannas Hitz – all das fand man in einer Seele bei Frau von Janowitz. Finden Sie das mal bei uns Männern: Die Hitze des Betens, Vernunft und Mut, wie bei Abigail und Jael – bei Frauen sind sie uns weit voraus.
Um noch einmal von einem Prälaten zu sprechen: Prälat Sixt Karl von Kapff hat Ende des letzten Jahrhunderts dem Pietismus einen weiten Platz in unserer Kirche eingeräumt. Er erkannte damals schon, dass Mädchenarbeit sehr wichtig ist, obwohl das damals noch nicht selbstverständlich war.
Eine seiner engsten Mitarbeiterinnen war Charlotte Reilen, die Schöpferin des Bildes vom breiten und schmalen Weg. Zählen Sie mal, wie viele Frauen dabei sind – auf dem breiten und auf dem schmalen Weg. Vielleicht ist es so wie bei den Gefängnissen: Neun Zehntel der Gefängnisinsassen sind Männer, ein Zehntel Frauen.
Prälat von Kapff gründete das Diakonissenhaus in Stuttgart und sah darin eine Aufgabe für die Mädchen und Frauen in unserer Kirche. Wissen Sie, Frauen können manches viel mehr auf den Nenner bringen.
Fritz Grünsweig erzählte gern die Geschichte von dem Bruder am Brütertisch, der heimgekommen ist und sagte: „Heute ist es mir gelaufen.“ Seine Frau antwortete: „Und ich habe dauernd gebetet: Lieber Gott, mach ihm doch den Mund zu.“ Am nächsten Sonntag blieb die Frau lieber zu Hause und fragte ihren Mann, wie es gegangen sei. Da sagte er: „Heute ist es mir gegeben gewesen, nichts zu sagen.“ Auch das ist eine tiefe Weisheit.
Einflussreiche Frauen im Pietismus und ihre Wirkung
Friederike Zeller, geborene Siegfried, war die Mutter des ersten Rettungshauses. Sie stammte aus der Schweiz, während ihr Mann, Christian Heinrich Zeller, ein bedeutender Pädagoge in Beugen war.
Sie erzielte pädagogische Erfolge, indem sie zu besonders schwierigen Kindern sagte: „Wir haben miteinander beim Mahl des Herrn Sein Leib und Sein Blut genossen, wir sind doch blutsverwandt.“ Dabei machte sie sich nicht gemein mit den Fehlern der Kinder, sondern betonte, dass wir im Herrn eins sind.
Diese Worte stammen von einer reformierten Schweizerin. Gleichzeitig konnte sie auch sagen, dass bei Christian Heinrich Zeller, der ein großer Pädagoge war, Ungeduld und Abgespanntheit hervortraten, sobald er die Haustür hinter sich geschlossen hatte. Dann explodierte er manchmal, wie es auch bei Gemeinschaftspredigern, Pfarrern und Prälaten vorkommt.
Zu ihren Töchtern sagte sie in solchen Momenten: „Wenn ihr nicht brav seid, müsst ihr einmal einen Württemberger heiraten.“ In Christian Heinrich Zeller kämpften also nicht nur christliche Begabung und der Heilige Geist, sondern auch württembergische Art und Eigensinn miteinander.
Das Meer der Gnade müsse so groß sein, dass hundert alte Adams darin ersäuft werden können. Was Frauen in einem Satz ausdrücken können, um das Männer oft lange herumreden müssen.
Christian Friedrich Spittler und seine Mutter Sibylle
Ich möchte gern über Christian Friedrich Spittler sprechen, der aus dem Remstal stammte. Von Basel aus, also von der Mitte Europas, nahm er die Impulse aus England und der westlichen Erweckungsbewegung auf. Diese Ideen wurden über seinen Freund Karl Steinkopf weitergetragen und fanden ihren Weg in mehr als 50 Einrichtungen.
Bruder Albez müsste hier erwähnt werden, oder diejenigen, die sich besser auskennen, wissen von Grishona, der im diakonischen, missionarischen und Bibelverbreitungsbereich viele Ideen hatte. Diese reichten bis hin zur Apostelstraße quer durch Afrika und zum Brüderhaus in Jerusalem, das ein Vulkan von Ideen war.
Christian Friedrich Spittler wäre undenkbar gewesen ohne seine Mutter Sibylle Spittler, geborene Meier. Sie hatte ein Gespür für alles Schöne und Edle. Als Pfarrfrau in Strümpfelbach im unteren Remstal wusste sie genau, dass ihr ältester Sohn Fritz, wenn er im Seminar in Blaubeuren und Maulbronn war, vielen schlechten Einflüssen ausgesetzt war.
Sie wollte nicht nur belehren, sondern lud ihn und seine Freunde ein, ihre Ferien bei ihr zu verbringen und im schönen Pfarrgarten von Strümpfelbach zu spielen. Der junge Hölderlin, der spätere Dekan Banmayr, Steinkopf – der große Stratege der Weltmission und Bibelverbreitung – sie alle erhielten durch diese freundliche Einladung im gastlichen Haus segensreiche Eindrücke.
Sibylle Spittler wurde stets als eine Frau mit großer Freundlichkeit und Freude beschrieben. Unser lieber Bruder Braes hat über Natürlichkeit und Freude gesprochen, auch in unseren Versammlungen und Gemeinschaften. Das wussten unsere Mütter im Glauben: Fröhliches Christsein ist ansteckend, nicht Enge.
Briefe und geistliche Gemeinschaft im Pietismus
Und wie konnten sie Briefe schreiben? Unsere pietistischen Mütter und Väter konnten ja Briefe schreiben. Ich studiere gerade, kurz vor dem Ruhestand, alte Briefe. Unsere Pietistenväter und -mütter haben geschrieben.
Zuerst einmal ist es interessant: Es sind wieder dreißig Kosaken in ein Quartier gekommen. Sie haben alles heuer im Verscheuer aufgefressen, da die Pferde natürlich nicht die Dragoner waren.
Dann schrieb jemand: „Ich habe Lichter gegossen und schicke dir hier zehn Lichter, damit du abends auch ein Licht hast. Ich schicke dir auch von unseren letzten Äpfeln immer etwas Schönes, etwas, das man essen kann, für junge Leute.“ So erzählen sie einander von ihrem Alltag.
Unser Pfarrer hat Psalm 73 ausgelegt. Danach sind ein paar Sätze des geistlichen Mitteilens gekommen, und dann auch einige Ratschläge: „Hänge doch oder schlage einen Nagel in die Wand ein, damit du deinen Morgenrock daran aufhängen kannst, damit er nicht nur zusammengeknüllt ist.“
In der Zeit, als Spittler nach Otava auswandern wollte, hat sie geschrieben: „Folge nie deinem eigenen Kopf, das geht nicht gut. Man hat mehr Ehre davon, wenn man unter scheinbarem Unrecht ausharrt.“
Vieles von dem Wartenkönnen von Spittler ist durch diesen Rat möglich geworden, den permanent seine Mutter gegeben hat. Wie oft hat er versucht, die Pilgermission zu bauen, wie viele Anläufe gab es in Inzlingen, bis endlich nach Ausharren und Gebet Gott den Staat auf Sankt Grischona 1841 geschenkt hat.
Die Mutter, die personifizierte Liebe, konnte es abgeben. Darüber wäre viel zu forschen – über die Mütter im Pietismus, über die Herzogin Henriette, die als Herzogin-Witwe in Kirchheim gelebt hat.
Herzogin Henriette und ihr geistliches Wirken
Sie hat ihren derben, rüden Mann glücklicherweise früh verloren, als sie 37 Jahre alt war, und hat eine großartige Tätigkeit entfaltet. Sie hatte vier Töchter, aus einem kleinen Kirchheim.
Die erste Tochter war verheiratet mit Erzherzog Joseph von Österreich, dem Bruder von Franz Joseph, Palatin von Ungarn. Die zweite Tochter war Pauline, verheiratet mit König Wilhelm I. hier in Württemberg. Die dritte Tochter war Amalie, verheiratet mit dem Herzog von Sachsen-Altenburg. Die Tochter aus dieser Ehe wurde englische Königin. Die vierte Tochter war Elisabeth, Markgräfin von Baden.
Henriette hat ihren Witwensitz in Kirchheim dazu benutzt, alle frommen Leute, die sie kannte, zusammenzubringen. Von Herrn Huter, Reitse, Prediger Weiz bis Dr. Christian Gottloh Barth. Bei diesem hatte sie manchmal die Sorge, dass er zu eingebildet sei, und hat ihn deshalb immer als Papst bezeichnet. Deshalb hat mir die vorherige Beschreibung nicht gefallen. Sie wollte ihm deutlich machen, wie gefährlich das ist. Der Papst hat auch manchmal Ansprüche, die nicht berechtigt sind.
Den Dekan Bahnmayr, den Pfarrer Albert Knapp, den großen Liederdichter, hat sie nach Kirchheim gezogen und durch Einladungen gewirkt. Sie konnte all diese Gottesleute zusammenholen, ebenso wie ihre Schwiegersöhne.
Wenn heute in Hannover ein Henriettenstift existiert, dann ist das zu ihrer Erinnerung. Sie hat den Grundstock dafür gelegt – über ihre Tochter oder Enkelin, die englische Königin.
Sie sagte: „Ich mische mich nicht in politische Händel ein, aber ich will, dass auch die, die Verantwortung tragen, in der Öffentlichkeit einen Segen bekommen.“
Wo lassen wir eigentlich das, was uns geistlich anvertraut ist? Landtagsabgeordnete, Kreistagsabgeordnete sollen spüren, dass sie Anteil bekommen an dem Segen. Dass sie wissen, dort wird für sie gebetet und wir ihnen ein Wort der Ermutigung schicken – ein Gotteswort.
Ich finde, diese Frauen sind wichtig, weil sie den weiten Horizont zeigen. Nicht bloß eine Stammtisch-Politisierei, sondern eine geistliche Haltung, die den Verantwortlichen aufs Herz gelegt wird. Wir haben noch gar nicht erkannt, welche Möglichkeiten in Einladungen stecken.
Es geht nicht darum, dass wir Gespräche darauf bringen, indem wir jemanden einladen und sagen: „Herr Kunz, erzählen Sie uns doch, Sie waren in Brasilien, was tut sich da?“ und dann erzählt er – das gibt es nicht. Also: Einladungen bewusst nutzen.
Ich bin auf dieses Thema gekommen, weil in unserer Familie oft darüber gesprochen wird, wie in Hülben 250 Jahre lang Sohn auf Vater als Schulmeister folgte und was Wilhelm und Johannes Busch bedeutet haben. In unserer Familie waren es doch die Frauen, die Gott gesegnet hat. Der Geist Gottes hat die Ururgroßmutter berührt.
Die Kraft des Glaubens in der Familie Busch
Damals, als in Dettingen bei Urach die Erweckung war und der junge Pfarrer Fricker in seinem Filialdorf Hülben predigte, fragte die Schulmeisterin: „Herr Pfarrer Fricker, was müssten wir tun, damit auch bei uns geistliches Leben entsteht?“ Er antwortete: „Lesen Sie den Römerbrief.“
Sie begann zu lesen. Als es hieß, Gott habe sie dahingegeben in Ohrenbläserei und was nicht taugt, voll alles Bösen, schlug sie die Bibel wieder zu und dachte: „Das ist nichts für uns.“ Als Pfarrer Fricker sie später fragte, wie es ihr ergangen sei, antwortete sie: „Der Römerbrief ist etwas für Dettinger, aber nicht für uns Hülbener.“ Daraufhin sagte er nur: „Lesen Sie noch einmal die Römerepistel.“
Inzwischen hatte Gott ihr das Herz geöffnet. Sie erkannte, wie sie selbst in mangelnder Gastfreundschaft, im Richtgeist, in Kritik an ihrem Mann und in Überheblichkeit als Schulmeistersfrau gefangen war. Wir sind alle Sünder – die Dettinger und die Hülbener und vor allem ich.
Meine Großmutter, Johanna Busch, geborene Kullum, starb in Frankfurt im Alter von 51 Jahren. Einer der letzten Worte ihres sterbenden Mannes war: „Den Kindern eine fröhliche Kindheit erhalten.“ Nach den Bestattungsfeierlichkeiten fuhr sie mit ihrem kleinen Sohn Johannes, dem späteren Evangelisten Johannes Busch, zurück nach Hülben, ihre Heimat.
In Stuttgart, nahe den Schlossanlagen und dem Bahnhof, lag eine gestürzte Eiche, an der das Efeu mitabgerissen war. Sie sagte: „So bin ich, wie das Efeu an der gestürzten Eiche, ich kann doch gar nichts!“ Wir haben die Großmutter jedoch nur als eine überaus fröhliche, nächstenliebende Frau kennengelernt.
Als wir 1945 in den Keller mussten, als die Amerikaner kamen, durfte die Großmutter oben bleiben. Sie war sogar so gastfreundlich, dass sie den Amerikanern mit einer Kanne dampfenden Malzkaffee entgegengegangen ist. Der Sparkassenbeamte sagte immer: „So ein Konto habe ich nie erlebt, es war immer in den roten Zahlen, aber es hat immer gereicht, weil sie so großzügig schenken konnte.“
Einmal erklärten unsere Väter Busch aus Witten an einem regnerischen Ferientag das schöne, alte, wertvolle Erbssofa zum Gartenbeet und bewässerten es mit einer großen Kanne Wasser. Der Onkel Hannes Busch war verzweifelt, doch die Großmutter sagte: „Das ist doch alles nicht schlimm, es ist keine Sünde und keine Schande. Nur das ist schlimm.“
Sie konnte uns auch sagen: „Geh doch mal endlich zu einem guten Friseur.“ Heute braucht sie das nicht mehr. Aber sie konnte sogar sagen: „Erschrecken Sie nicht, der Bube raucht auch.“ Vielleicht wird sie heute nicht mehr sehen, wie gesundheitsschädlich das ist, aber an den Dingen hängt es doch nicht.
Wenn wir als kleine Jungen bei ihr im Schlafzimmer in Fehn sein durften, wussten wir, was das Geheimnis dieses Lebens ist. Sie stellte sich jeden Morgen um vier Uhr den Wecker, weil sie vier Kapitel in der Bibel lesen wollte. Sie sagte: „Dann kommt man in einem Jahr durch die Bibel, wenn man täglich vier Kapitel liest.“ Danach betete sie.
Das war wie das Gespräch der Braut mit dem Bräutigam. Sie betete meist mit geschlossenen Augen: „Herr, lass mich an dir hängen wie eine Klette am Kleide.“ Wir Städter wussten damals kaum, was eine Klette ist. Heute kennt man das von Turnschuhen mit Klettverschluss oder von Lego, wo positive und negative Erhebungen und Vertiefungen zusammengehören, sodass man die Steine kaum mehr auseinanderbekommt.
Gottes Weisheit will sich mit meinen Dummheiten verbünden, seine Reinheit mit meinem Dreck, seine Hoheit mit dem, was bei mir artniedrig ist – wie eine Klette am Kleide.
Der schwäbische Pietismus will nicht davon wegkommen, dass unser Herr sich denen heilsgewiss schenkt, die ihn brauchen. Nicht denen, die ihm schon ganz ähnlich sind. Das ist in allen Religionen so. Sie jubeln vor der Nähe Gottes.
Nächstenliebe weise: „Lass mich an dir hängen wie eine Klette am Kleide.“
Persönliche Erinnerungen an die Mutter
Darf ich auch noch etwas über meine Mutter sagen? Entschuldigt, das dauert nur ein paar Minuten.
Sie hat uns fünf Brüder in die Stunde gebracht. Sie sagte immer: „Einer von euch darf mich mittwochs in der Wurtbachstraße begleiten.“ Manche von uns durften mitkommen. Es war so schön, mit der Mutter unterwegs zu sein. Sie erzählte von Frankfurt und anderen Dingen. Sie hat die ganze Stunde interessant gemacht und uns die Bibel lieb gemacht.
Ich bekam von Paten, die nach Kanada ausgewandert waren, eine Taufbibel. Sie lag im obersten Fach im Schrank. Meine Mutter sagte: „Wenn du einmal lesen kannst, darfst du in dieser Bibel lesen.“ Wie sehr habe ich mich danach gesehnt, lesen zu können! Es hieß nicht: „Du musst die Bibel lesen.“ Sondern: „Du darfst die Bibel lesen.“
Wenn sie bügelte – und das waren riesige Bügelwäschestapel – sagte sie: „Es tut euch gut, wenn ihr einigermaßen Hochdeutsch lernt. Ihr könnt mir helfen.“ Damals gab es zum Glück noch kein Radio und kein Fernsehen. Also bat sie uns: „Dürft ihr mir eine Hofacker-Predigt auf Hochdeutsch vorlesen?“ Das war sehr schwierig, weil Hofacker manchmal auch schwäbische Ausdrücke benutzte. Aber es hat uns sehr geholfen, nicht nur im Hochdeutschen.
Ich bin als junger Mann in die Gedankenwelt von Hofacker eingetaucht. In der Nachkriegszeit, wenn es kleine Schokoladenzuteilungen gab, sagte sie: „Es bekommt einer einen Riegel Schokolade, wenn er ein Paul-Gerhard-Lied gelernt hat.“ Am Anfang hatten wir die Schokolade mit den kurzen Fersen, aber bald blieben nur noch die mit den langen übrig. Wir wollten immer noch Schokolade haben.
Ich bin meiner Mutter endlos dankbar, auch für die Schokoladenzuteilungen. Wie viele Lieder ich im Herzen habe, auch für den Dienst, aber ganz persönlich. Unsere Mutter war uns ein Vorbild im Glauben.
Damit komme ich jetzt endlich zum Schluss. Sie hat einmal gesagt – und das war kein Anfall von Schwermut: „Ich habe bei eurer Erziehung alles falsch gemacht.“ Aber wir haben nur eine Mutter gesehen, die uns eine große Hilfe war.
Es ist beeindruckend, wie eine Mutter so vor ihren Söhnen reden kann. Als sie 1980 am dritten Herzinfarkt starb, war ich gerade auf dem Rückweg von Pattaya. Meine Brüder wurden aus der Synodalsitzung herausgeholt, doch sie trafen sie nicht mehr lebend an.
Auf dem Tisch neben dem Sofa, auf dem sie gestorben war, lag ein Zettel mit den Worten: „Alle meine Sünden hat sein Blut hinweggetan.“ In all dem hat sie die Klett am Kleide. Sie sagte: „Ich habe alles falsch gemacht, nicht nur ein bisschen, alles in allen Bereichen. Und alles hat er gut gemacht.“
Danke fürs Zuhören.