Eröffnung und Einstimmung zum Gebet
Ich möchte mit uns beten. Wir neigen uns dazu.
Himmlischer Vater, Deine Liebe ist so groß, dass wir sie niemals ganz begreifen können. Oft verlieren wir sie aus dem Blick.
Herr, wir bitten Dich, unseren Blick heute neu auf Dich auszurichten, damit wir Dich erkennen als den, der uns geliebt hat und uns liebt.
Herr, wir bitten Dich, uns anzurühren, damit wir Menschen werden, die so erfüllt sind von Dankbarkeit und Liebe zu Dir, dass unser ganzes Leben das widerspiegelt.
Herr, wir wollen uns jetzt von Dir dienen lassen, indem Du zu uns sprechen darfst. Mach uns bereit, zu empfangen. Gib uns offene Ohren und Herzen.
Dann sprichst Du tief in unsere Herzen hinein, zu Deiner eigenen Ehre. Amen.
Fragen zur Bereitschaft im Dienst und zur Annahme von Hilfe
Ja, gleich zu Beginn die Frage: Bist du jetzt bereit? Basierend auf dem, was du heute vielleicht schon gehört und gesungen hast, bist du bereit, anderen Menschen selbstlos zu dienen?
Und vielleicht noch viel entscheidender ist die Frage: Wie sieht es andersherum aus? Bist du bereit, dir dienen zu lassen? Kannst du es gut annehmen, wenn dir jemand etwas Gutes tut? Wenn dich jemand reich beschenkt? Oder hast du so den Instinkt, dass du dich gleich irgendwie revanchieren musst?
Ich glaube, vielen geht es so. Wir sind geprägt durch die Zeit und die Welt, in der wir leben. Wir leben in einer Welt, die von großem Individualismus und einem starken Streben nach Unabhängigkeit geprägt ist.
Das bedeutet, dass unsere eigene Bereitschaft, anderen zu helfen, durchaus Grenzen kennt – gerade dann, wenn uns das wirklich etwas kosten würde und wir selbst nichts davon hätten. Und ich denke, dass es genauso auch ist, dass unsere Bereitschaft, Hilfe anzunehmen, sehr begrenzt ist. Wir wollen nach Möglichkeit auf keine Hilfe angewiesen sein.
Abhängigkeit als menschliche Realität und Gottes Schöpfungsordnung
Ich habe in der letzten Woche eine bedrückende Statistik gelesen, die im Rahmen der Diskussion über aktive Sterbehilfe in Deutschland seit etwa einem Jahr geführt wird. Zwei Drittel aller Menschen in Deutschland befürworten diese Form der Sterbehilfe.
Das Hauptargument, das mit Abstand am häufigsten genannt wird, warum Menschen die rechtliche Möglichkeit haben wollen, ihrem Leben ein Ende zu setzen – und dabei womöglich auch noch Hilfe zu erhalten –, ist die Angst davor, abhängig zu werden und anderen zur Last zu fallen.
Doch das ist absurd, ja völlig verrückt. Gott hat die Welt so gestaltet, dass wir als abhängige Wesen leben. Es ist eine völlige Verblendung unserer Sinne zu glauben, wir könnten wirklich unabhängig sein.
Wir haben gerade den kleinen Louis gesegnet. Er hat sich nicht selbst gemacht, er hat sich auch nicht selbst zur Welt gebracht. Zudem versorgt er sich nicht selbst – das würde gar nicht funktionieren. Er ist abhängig davon, dass Conny und Frank sich liebevoll um ihn kümmern und für ihn da sind. So ging es übrigens allen von uns einmal.
Das Problem ist, dass wir das manchmal vergessen, wenn wir älter werden. Dann bilden wir uns ein, unabhängig zu sein. Doch manchmal gewinnt die Realität die Oberhand, und wir merken: Ich bin gar nicht so unabhängig, wie ich dachte.
Rückblick auf die erste Predigt und Einführung in das heutige Thema
Wir haben letzte Woche bereits darüber nachgedacht, in der ersten Predigt dieser Predigtreihe „Gott ist“. Dabei ging es um den souveränen Schöpfer. Alexander Heistermann hat uns vor Augen geführt, dass Gott nicht nur der souveräne Schöpfer ist, sondern auch der Erhalter aller Dinge. Ohne ihn hat nichts Bestand.
Paulus predigt dies in dem Predigttext von letzter Woche zu den Menschen in Athen. Er sagt, dass wir in ihm leben und weben und unser ganzes Wesen in ihm ist.
Unser heutiger Predigttext zeigt uns aus einer etwas anderen Perspektive, wie sehr wir abhängig sind. Der Titel der heutigen Predigt lautet „Gott, der menschgewordene Diener“. Es ist meine Hoffnung und mein Gebet, dass wir alle erkennen, wie sehr wir auf den Dienst des menschgewordenen Gottes angewiesen sind.
Diese Erkenntnis soll uns nicht in Angst und Schrecken versetzen oder das Gefühl geben, dass es schlimm ist, abhängig zu sein. Vielmehr soll sie unsere Herzen froh machen. Denn wir erkennen: Ja, ich bin abhängig, und es gibt jemanden, der mich genau in meiner Abhängigkeit sieht, für mich sorgt und mir dient.
Einführung in den Predigttext: Das vierte Gottesknechtslied in Jesaja
Der Predigttext für heute Vormittag findet sich im Buch Jesaja. Wir haben bereits Auszüge daraus gelesen. Es handelt sich um das vierte sogenannte Gottesknechtslied. Dieses beginnt in Jesaja 52, Vers 13, und erstreckt sich durch das gesamte Kapitel 53. In den Bibeln ist dieser Text auf den Seiten 713 und 714 zu finden, falls Sie ihn in der hier ausliegenden Bibel nachlesen möchten. Genauer gesagt: Jesaja 52,13 bis zum Ende von Kapitel 53.
Bevor wir uns dieses Lied genauer anschauen, ist es hilfreich, den Kontext zu bedenken, in dem es steht. Es steht nicht losgelöst von seiner Umgebung, sondern spricht in eine ganz konkrete Situation hinein. Bereits in den Kapiteln davor finden wir großartige Verheißungen und Zusagen Gottes an sein Volk. Gott verspricht seinem Volk und den Gläubigen, dass er sie aus aller Not erlösen wird.
Diese großartige Botschaft der kommenden Erlösung soll von Freudenboten verkündet werden, wie es in der Mitte von Kapitel 52 heißt. Diese frohe Botschaft wird nun in diesem Gottesknechtslied besungen und uns dargestellt. Es ist die Botschaft vom Mensch gewordenen Gott, von Gott, der zu uns Menschen kommt, von Menschen verachtet wird, aber durch seinen Tod die Menschen von ihrer Schuld befreit. Eines Tages wird er als der siegreiche Herr herrschen.
Ich denke, uns allen ist klar, wenn wir diesen Text sehen und gerade gemeinsam in Auszügen gelesen haben, von wem dieses vierte Gottesknechtslied handelt. Es handelt von Jesus Christus. Es ist eine prophetische Verheißung des kommenden Herrn.
Aufbau und Struktur des Gottesknechtsliedes
Wir wollen dieses Lied in fünf Strophen betrachten. Es gliedert sich in fünf Strophen, die jeweils drei Verse umfassen. Das ist gut erkennbar.
Das Interessante an der Struktur der Strophen ist, dass sie nicht zwingend nur chronologisch gelesen werden müssen. Das ist zwar möglich, und wir werden das später auch so betrachten, aber sie folgen auch einem bestimmten Muster.
In der ersten Strophe, also in den letzten drei Versen von Kapitel 52, finden wir eine Zusammenfassung des Inhalts des folgenden Abschnitts. Am Ende sehen wir noch einmal eine Zusammenfassung dessen, was Gott durch den Gottesknecht getan hat. Anfang und Ende stehen somit in gewisser Weise in einer Parallelität zueinander.
Die zweite und die vierte Strophe betrachten konkret das Leben des Gottesknechts. In der zweiten Strophe, also in den ersten drei Versen von Kapitel 53, sehen wir das Kommen des Gottesknechts: wie er in diese Welt hineinkommt und verachtet wird. In der vierten Strophe, also in den Versen sieben bis neun von Kapitel 53, sehen wir, wie der Gottesknecht aus dieser Welt scheidet, wie er letztendlich stirbt.
Die dritte Strophe, die mittendrin liegt, vermittelt uns die Kernbotschaft. Hier sehen wir den einzigartigen Dienst des Gottesknechts. Noch mehr: Wir erkennen, warum der Gottesknecht von den Menschen verachtet wurde und warum er unschuldig sterben musste.
Ziel der Predigt und Einladung zum Staunen über den Gottesknecht
Und das Ziel dieser Predigt ist ganz einfach: Ich möchte, dass wir gemeinsam auf diesen Gottesknecht schauen.
Ich möchte uns mit hineinnehmen in das Staunen über diesen Gottesknecht. Meine Hoffnung ist, dass wir neu unsere Abhängigkeit von ihm erkennen und dass uns das nicht unberührt lässt.
Nein, mein Gebet ist, dass es unsere Herzen so tief anrührt, dass es unser Leben letztendlich verändert.
Erste Strophe: Zusammenfassung und prophetische Ankündigung
Schauen wir uns zuerst die erste Strophe an, in der wir eine kurze Zusammenfassung des Liedes finden. Ich werde nur kurz darauf eingehen.
In der ersten Strophe lesen wir folgende Worte: „Siehe, meinem Knecht wird's gelingen, er wird erhöht und sehr hoch erhaben sein. Wie sich viele über ihn entsetzten, weil seine Gestalt hässlicher war als die anderer Leute und sein Aussehen als das der Menschenkinder, so wird er viele Heiden besprengen, dass auch Könige werden ihren Mund vor ihm zuhalten. Denn denen, nichts davon verkündet ist, die werden es nun sehen, und die, nichts davon gehört haben, die werden es merken.“
Ich gebe zu, die Verse lassen vieles im Unklaren. Das wird im Folgenden deutlicher werden. Diese Verse verstehen wir am besten, wenn wir danach den Rest des Gottesknechtsliedes betrachtet haben.
Aber ich denke, wir erkennen hier schon zumindest, dass Jesaja prophetisch verkündet, dass jemand in diese Welt hineinkommt, der von den Menschen verachtet wird und doch eines Tages hoch erhoben sein wird und herrschen wird. Erst verachtet, dann erhöht. Die Menschen werden das eines Tages erkennen, doch diese Erkenntnis wird nicht zwingend nützen.
Zweite Strophe: Die Frage des Glaubens und die Offenbarung des Arms des Herrn
Und so beginnt die zweite Strophe des Liedes mit der alles entscheidenden Frage: „Aber wer glaubt dem, was uns verkündet wurde, und wem ist der Arm des Herrn offenbart?“
Das ist die große Frage: Wer glaubt dem, was uns in diesem Lied beschrieben und besungen wird? Diese Frage darf jeder von uns mitnehmen: Glaube ich das? Das ist die Botschaft, die geglaubt werden muss.
Der zweite Teil dieses ersten Verses klingt zunächst verwirrend: „Und wem ist der Arm des Herrn offenbart?“ Das ist eine typische Beschreibung in der Bibel, bei der wir manchmal denken: Hat Gott jetzt einen Arm? Was soll da offenbart werden? Ja, Gott hat einen Arm.
Von diesem Arm Gottes ist im Buch Jesaja immer wieder die Rede. Zum Beispiel in Kapitel 40, Vers 10 heißt es: „Siehe, da ist Gott, der Herr, er kommt gewaltig, und sein Arm wird herrschen. Siehe, was er gewann, ist bei ihm, und was er sich erwarb, geht vor ihm her; er wird seine Herde weiden wie ein Hirte.“
Das tut der Arm Gottes. Unmittelbar vor dem Gottesknechtslied, in Kapitel 52, Vers 10, lesen wir: „Der Herr hat offenbart seinen heiligen Arm vor den Augen aller Völker, dass aller Welt Enden sehen das Heil unseres Gottes.“
Wer oder was ist jetzt der Arm Gottes? Es ist Jesus Christus, der gute Hirte, durch den das Heil in die Welt kommt. Er ist der Arm Gottes, durch den Gott in die Welt hineingreift.
An diesen Arm Gottes gilt es zu glauben. Dieser Arm Gottes muss den Menschen offenbart werden.
Beschreibung des Arms Gottes und die Erniedrigung des Gottesknechts
Und genau von dieser Offenbarung lesen wir dann im Fortgang in Vers 2. Hier wird weiterhin sehr bildhaft dieser Armgott beschrieben. Dort heißt es, er schoss vor ihm wie ein Reis. Er kam also quasi aus dem Nichts. Es heißt weiter, er war wie eine Wurzel aus dürrem Erdreich.
Das bedeutet, der allmächtige Gott, der Armgott, kommt nicht von oben in die Welt, als der König, der sie auf seinen Thron setzt. Nein, er scheint scheinbar aus dieser Welt heraus zu kommen. Er schoss auf wie ein Reis, wie eine Wurzel aus dürrem Erdreich.
Er hatte keine Gestalt und keine Hoheit. Wir haben schon gesehen, dass der Wirt eines Tages Hoheit haben wird, hohe Hoheit, aber er hatte keine Gestalt und Hoheit. Wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte.
Und dann wird es noch schlimmer. Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg. Darum haben wir ihn für nichts geachtet.
Ihr Lieben, was wir hier vor Augen geführt bekommen, ist, dass als der ewige Gott Mensch wurde, er sich erniedrigte. Er wurde einer von uns. Er wurde in ganz einfache Umstände hineingeboren, aus dürrem Erdreich – hier bildlich gesprochen – ein Kind, unehelich scheinbar in diese Welt gekommen. Wahrscheinlich wurde er von klein auf deshalb auch verachtet und verspottet.
Dann beginnt sein öffentliches Wirken. Für eine kurze Zeit hat er eine gewisse Popularität, aber das ist schnell vorbei. Er wird von einem seiner engsten Vertrauten verraten, er wird verhaftet und von den Menschen verleugnet.
Er wird verurteilt, brutal gefoltert und selbst am Kreuz noch verspottet. Die Menschen wenden sich von ihm ab.
Das Leiden Jesu und die menschliche Reaktion darauf
Vor vielen Jahren gab es einen Film, der sich mit dem Leiden Jesu beschäftigt: Die Passion Christi. Vielleicht hat der eine oder andere ihn gesehen. Ich muss zugeben, ich wollte mir den Film eigentlich nicht ansehen.
Ein guter Freund von mir wollte den Film sehen und fragte mich, ob ich ihn mit ihm anschauen würde. Ich dachte, diese Gelegenheit will ich nicht ungenutzt lassen, um über den Glauben ins Gespräch zu kommen. So habe ich den Film vor etwa zehn Jahren oder noch länger mit ihm gesehen.
Der Film war bedrückend. Wer ihn gesehen hat, weiß das. Die Szenen von Jesu Folter und Geißelung waren so schlimm, dass die meisten Leute im Kino plötzlich nicht mehr fröhlich weiter ihr Popcorn gegessen haben. Das ging einfach nicht mehr. Die Menschen konnten nicht mehr hinschauen. Mir ging es genauso; ich wollte nicht mehr hinsehen.
Ich glaube, genau das wird hier beschrieben. Wir wissen nicht genau, wie das damals aussah. Die Evangelien berichten nur sehr kurz von seiner Geißelung und Folter. Doch wir können ahnen, dass das, was dieser Film zeigt, durchaus realistisch ist. Jesus schien so verachtet zu sein, dass die Menschen sich von seinem Leid abwandten.
Ich denke, das kennen wir alle: Wenn wir fürchterliches Leid sehen oder Menschen, die komplett entstellt sind, schauen wir weg. Das ist ein Instinkt, den wir in uns haben. Und ich glaube, das ist es, was Jesaja hier beschreibt. Andere haben ihn verachtet. Sie sahen ihn am Kreuz und sagten, das sei ein Verbrecher, der die Strafe bekommt, die er wohl verdient.
So musste Jesus sich am Kreuz noch Hohn und Spott gefallen lassen. So gingen die Menschen damals mit ihm um. Die Frage ist: Wie gehen wir mit ihm um? Was sehen wir, wenn wir aufs Kreuz schauen? Warum war das notwendig? Warum?
Dritte Strophe: Das Warum des Leidens des Gottesknechts
Nur die dritte Strophe erklärt uns das Warum. Sie beschreibt das Leiden des Gottesknechts aus einem anderen Blickwinkel. Fürwahr, er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen. Wir hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Doch er ist um unserer Missetat willen verwundet, um unserer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, damit wir Frieden haben, und durch seine Wunden sind wir geheilt.
Wir gingen alle in die Irre wie Schafe, ein jeder sah auf seinen eigenen Weg. Aber der Herr warf unser aller Sünden auf ihn. Ihr Lieben, die Menschen damals gingen zu Recht davon aus, dass das, was Jesus am Kreuz erlitt – all die Qualen, die er auf dem Weg dorthin durchleiden musste – eine Strafe Gottes war. Wir hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Ich denke, zu Recht hielten wir ihn für diesen.
Aber welchen Sinn machst du dir aus dem Leiden und Sterben von Jesus? Ich denke, wo auch nur ein rudimentäres Verständnis von Jesus vorhanden ist, wird kaum jemand sagen, dass er das verdient habe. Das war das Denken der Menschen damals. Heute sind wir etwas weiter. Wir denken: Nein, das kann wohl nicht sein, dass er das verdient hat. Aber warum hat ein vollkommen guter Gott es dann zugelassen? Mit dieser Frage tun sich viele Menschen schwer. Ich hoffe, nicht hier in der Gemeinde, aber in der Welt, in der wir leben.
Wir haben Theologen, die uns erklären, warum das so war. Einige sagen, es könne eigentlich gar nicht sein, dass es überhaupt geschehen ist. Das sei ein Mythos, denn wenn es geschehen wäre, wäre das göttliche Kindesmisshandlung – Gott der Vater, der seinen Sohn so brutal foltern lässt. Andere sagen: Nein, keine göttliche Kindesmisshandlung. Was dort geschah, war nicht, dass der Vater es verlangt hätte, sondern dass Jesus von sich aus das tun wollte. Er wollte ein Vorbild sein, ein Beispiel für ein selbstloses Leben geben.
Wirklich, wieder andere – unsere muslimischen Mitbürger – behaupten, dass Jesus zwar gelebt habe, aber nicht am Kreuz gestorben sei. Er wurde verwechselt, das war jemand anderes. Und der, der dort am Kreuz gestorben ist, war eventuell der Verräter Judas, der das ja auch verdient habe. Überall gibt es Versuche, das umzudeuten.
Und dann gibt es natürlich auch die jüdische Variante, die mit diesem Text in ihrem Buch leben muss. Wisst ihr, was mit diesem Text in den Synagogen geschieht? Er wird nicht gelesen. Genau, das ist einer dieser Texte, die nicht gelesen werden, weil die Menschen zu leicht verwirrt werden könnten. Oder vielleicht verstehen sie, was dort steht. Gott braucht keine Hilfe, wir müssen Gottes irrtumsloses Wort nicht korrigieren oder umdeuten. Gott braucht unsere Hilfe nicht. Er sagt uns das, weil wir es hören müssen.
Was Jesus hier erleidet, ist in der Tat die gerechte Strafe des richtenden Gottes. Die gerechte Strafe nicht für seine Schuld, denn er hatte keine, sondern für unsere. Das ist doch der Tenor, das Echo, das wir hören: Um unserer Missetat willen, um unserer Sünden willen liegt die Strafe auf ihm. Diese Strafe bringt uns Frieden. Der Herr wirft auf ihn all unsere Sünden.
Das, was dort am Kreuz geschieht, ist das, was du und ich verdient gehabt hätten. Ist dir das klar? Ohne Ausnahme. So heißt es hier: Wir gingen alle in die Irre wie Schafe, ein jeder sah auf seinen Weg. In ganz einfacher Sprache: Schafe, wenn sie auf ihren Weg sehen – das Bild ist uns vielleicht halbwegs vertraut, selbst wenn wir Stadtmenschen sind. Ein Schaf, das auf dem Weg sieht, was macht es? Es sieht Futter, das frisst es. Es läuft also immer nur dem Gras hinterher und irgendwann ist es verloren, es ist weg.
So ist es oft auch mit uns Menschen. Wenn wir unseren Blick nur auf das richten, was vor Augen ist, wenn wir nur den Trieben folgen, wonach uns gerade gelüstet, verstricken wir uns immer mehr. Wir gehen in die falsche Richtung, und es wird immer schlimmer mit uns. Was wir brauchen, ist, unsere Augen auf den Herrn zu erheben. Aber genau das tun wir Menschen von Natur aus nicht. Auch wir Christen haben immer wieder das Problem, dass wir den Blick auf Gott verlieren und uns in dieser Welt verirren.
Wir gingen alle in die Irre wie Schafe, ein jeder sah auf seinen Weg. Weißt du um deine Missetaten, weißt du um deine Sünden, um deine Schuld? Das sind keine Bagatellen. Wenn du Jesus am Kreuz siehst, wenn du das Kreuz siehst, wenn du von Jesu Leiden und Sterben liest, dann vergiss nie, warum das nötig war. Er musste leiden – er musste leiden, damit wir leben können, damit du Frieden mit Gott haben kannst.
Deshalb ging er nach Golgatha nicht als Vorbild, sondern als stellvertretendes Opfer für uns.
Vierte Strophe: Der willige Dienst und das stille Leiden Jesu
Dabei wird im Fortgang deutlich, dass er das nicht gegen seinen Willen erlitt. Der Vater machte nicht einfach einen Plan, den Jesus aushalten musste. Nein, wir lesen in der vierten Strophe, dass er willig litt.
Als er gemartert wurde, litt er doch willig und hat seinen Mund nicht aufgetan wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird. Wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer, tat er seinen Mund nicht auf. Er wurde aus Angst und Gericht hinweggenommen. Wer aber kann sein Geschick ermessen? Denn er ist aus dem Land der Lebendigen weggerissen, da er für die Missetat meines Volkes geplagt war.
Man gab ihm ein Grab bei Gottlosen und bei Übeltätern, als er gestorben war, obwohl er niemandem Unrecht getan hat und kein Betrug in seinem Mund gewesen ist. Der Gottesknecht erlitt seine Qualen willig, ohne Protest, weil er genau dazu gekommen war.
Das hatte Jesus schon vor seiner Kreuzigung verkündet: Er, der Gottesknecht, der Diener, war in diese Welt gekommen, nicht um sich dienen zu lassen, wie es sein gutes Recht gewesen wäre, sondern um zu dienen und sein Leben als Lösegeld für viele zu geben.
Wenn ich sehe, wie Jesus so willensvoll und voller Bereitschaft das Leid auf sich nimmt und zum Diener aller Menschen wird, dann fordert mich das radikal heraus. Wenn ich mich selbst anschaue, merke ich, dass ich niemals so dienen kann, wie er gedient hat.
Aber selbst dort, wo ich diene, mit meinen lächerlich kleinen Diensten, muss ich zugeben, dass ich oft mit einer ganz anderen Einstellung diene. Zum Beispiel habe ich das Privileg, hier viel Zeit in diesem Haus zu verbringen.
Dann komme ich häufiger mal ins Herrenklo und finde immer wieder das gleiche Phänomen: Da liegen Papierschnipsel überall auf dem Boden, die scheinbar für alle unsichtbar sind, nur ich kann sie irgendwie erkennen. Dann lässt sich euer Pastor in seiner großen Güte und Demut herab und hebt das Papier auf.
Manchmal ist er so aufopferungsvoll bereit, Dienst zu tun, dass er sogar den Mülleimer leert und rausbringt. Wenn ich mir vorstelle, jemand trifft mich und sagt: „Ah, bist du hier der Hausmeister?“ Dann würde ich nicht einfach willig weitergehen, sondern sagen: „Nein, nein, ich bin hier der Pastor.“
Aber nicht so bei Jesus, nicht so bei Jesus. Er macht keine Worte. Er geht seinen Weg, ist bereit, am Kreuz zu hängen und von den Menschen verspottet zu werden. Wir hören keinen Widerspruch: „Ich bin unschuldig, ich sterbe für euch.“ Willig leidet er und tut seinen Mund nicht auf.
Wenn ich Dienst tue, dann ist es manchmal so, dass mir gesagt wird: „Könntest du mal?“ Und ich sage: „Ja, okay.“ Meine Frau kennt den Tonfall – der Ausdruck meiner höchsten Dienstbereitschaft! Ich nehme das Lachen, das ihr kennt. So dienen wir nicht unbedingt willens.
Aber als Jesus gemartert wurde, da litt er doch willig und tat seinen Mund nicht auf. Er ging seinen Weg voller Liebe, im Gehorsam, selbstlos und aufopferungsvoll, Schritt für Schritt bis in den Tod. Dabei stirbt er den Tod, den er nicht verdient hat.
Denn es heißt hier ohne jede Frage, dass er niemandem Unrecht getan hat und kein Betrug in seinem Mund gewesen ist. Er, der Gerechte, stirbt willig.
Fünfte Strophe: Der göttliche Plan und die Verheißung des Sieges
In der fünften Strophe sehen wir, dass das, was Jesus hier so freiwillig erleidet, etwas ist, das er zusammen mit seinem Vater vor Anbeginn der Welt geplant hatte. Davon lesen wir jetzt in der fünften Strophe:
So wollte ihn der Herr zerschlagen mit Krankheit. Wenn er sein Leben zum Schuldopfer gegeben hat, würde er Nachkommen haben und nie länger leben, und des Herrn Plan würde durch seine Hand gelingen.
Weil seine Seele sich abgemüht hat, wird er das Licht schauen und die Fülle haben. Durch seine Erkenntnis wird er mein Knecht, der Gerechte, der vielen Gerechtigkeit schaffen wird, denn er trägt ihre Sünden.
Darum will ich ihm die Vielen zur Beute geben, und er soll die Starken zum Raube haben, dafür, dass er sein Leben in den Tod gegeben hat und den Übeltätern gleichgerechnet ist. Und er hat die Sünde der Vielen getragen und für die Übeltäter gebeten.
Ja, das Leiden des Gottessohns war Gottes Wille, das war sein guter Plan. Es war kein Akt göttlicher Kindesmisshandlung und auch kein verrückter Akt von Vorbildsein im Dienstbereitschaft. Nein, es war das, was der Herr, der dreieine Gott, geplant hatte, weil es notwendig war, um Menschen vor der verdienten Verdammnis zu retten.
Jesus wird zum Diener der Menschen, weil wir ungerecht sind und Gott gerecht ist. So kann der gerechte Gott die Ungerechtigkeit der Ungerechten nicht übersehen, sondern muss die Ungerechtigkeit der Ungerechten auf sich, den Gerechten, nehmen. Das ist der große Tausch.
Das ist das, was uns hier beschrieben wird: Er nimmt unsere Ungerechtigkeit, er stirbt für unsere Sünden und bringt so vielen Gerechtigkeit – allen, die im Glauben zu ihm kommen.
Und dann, nachdem der arme Gott, der menschgewordene Diener, diesen göttlichen Plan ausgeführt hat, wird er hocherhöht werden. Er wird hocherhaben sein, so wie es schon zu Beginn des Liedes angedeutet wurde. Das hören wir hier noch einmal: Auf das Leiden folgt Triumph.
Nach dem Bericht über seinen Tod lesen wir in Vers 10, dass er in die Länge leben wird, also ewig leben wird. Nachdem zuvor die Strafe auf ihn gelegt wurde, sehen wir, dass er nun als der Gerechte erkannt wird.
Er, der still und willig unvorstellbar großes Leid erlitten hat, wird nun der große Sieger und Überwinder.
Und, ihr Lieben, auch das ist allein Gottes Werk. Es ist wichtig, dass wir das verstehen: Es ist allein Gottes Werk, unsere Schuld von uns zu nehmen, und es ist allein Gottes Werk, Jesus zu erhöhen. Er braucht uns dazu nicht.
Das ist sein ewiger Plan, das tut er. Sein perfekter Plan: Der demütige Gottesknecht, der um unserer Sünden willen litt und getötet wurde. Er ist der ewige Herr, der für alle Ewigkeit Anbetung empfangen wird.
Die entscheidende Frage des Glaubens und die Haltung zur Abhängigkeit
Die alles entscheidende Frage, die jetzt über dieser großartigen Botschaft steht, lautet: Wer glaubt dem, was uns verkündet wurde, und wem ist der Arm des Herrn offenbart?
Diese Frage aus Vers 1 möchte ich weitergeben. Glaubst du dieser Botschaft? Kommst du in aller Demut zu Jesus, der dir den ultimativen Dienst erweisen muss? Erkennst du an, wie abhängig du bist?
Ich bete, dass keiner von uns hier auf kritischer Distanz zu ihm bleibt. Aber ich bete auch, dass keiner von uns sagt: „Ja, okay, ich bin ein bisschen abhängig, aber ich kann ja auch etwas mitbringen.“ Bei Gott können wir nur empfangen, wenn wir mit leeren Händen kommen.
Das heißt, die wirklich entscheidende Frage ist: Bist du bereit, dir dienen zu lassen, im Wissen darum, dass du niemals etwas zurückgeben kannst? Das ist wichtig. Wir müssen unseren Stolz ablegen und erkennen, dass unser Anteil an all dem nichts sein kann.
Unser falsches Streben nach Unabhängigkeit, unser falsches Verlangen danach, etwas zu sein, auf das Gott dann schauen und sagen kann: „Oh ja, der hat etwas verdient.“
Ich hoffe, so kommst du zum Gottesdienst – vor allem als jemand, der mit offenen Ohren und offenem Herzen kommt, um sich von Gott dienen zu lassen.
Zur Haltung im Dienst: Zeugnis und Nachfolge
Natürlich sind wir berufen zum Dienen. Ursprünglich hatte ich vor, eine ausführliche Anwendung darüber zu geben, wie wir auch anderen dienen sollten, und praktische Beispiele zu nennen. Doch ich habe mich entschieden, das nicht zu tun.
Nicht, weil ich praktische Beispiele in der Predigt nicht für hilfreich halte – im Gegenteil, sie können sehr nützlich sein, und es gibt viele Dienste, die getan werden müssen. Aber ich glaube, das ist nicht die Intention des Textes. Der Text fordert uns nicht dazu auf zu sagen: „Weil Jesus so gehandelt hat, solltest auch du nun so handeln.“ Das wäre, das Vorbild Jesu zu sehen.
An vielen Stellen sehen wir das, aber in diesem Text nicht. Gott möchte uns vielmehr zeigen, wie abhängig wir sind – wer hier dient. Wir können mit unserem Dienst nichts zurückzahlen. Das ist ein lächerlicher Gedanke.
Es ist so, als käme jemand und gäbe meiner sechsjährigen Tochter zehn Millionen Euro, und sie würde dann ihr Sparschwein öffnen und sagen: „Ich zahle dir etwas zurück.“ Lächerlich! Noch dazu wären das Pfennige, die gar nichts mehr gelten. Das trifft die Sache noch viel besser.
Unser Dienst kann nur widerspiegeln und bezeugen, was uns geschenkt wurde. Das heißt, unser Dienst ist niemals ein Versuch, dem Arm Gottes etwas zurückzugeben. Unser Dienst ist immer nur ein Zeugnis dieses Armes, der uns gerettet hat. Und das sollten wir tun.
Mein Wunsch für uns heute ist, so auf Gott zu schauen, so auf unseren Herrn zu blicken, dass wir im Schauen auf ihn immer mehr umgewandelt werden – hinein in sein Ebenbild. So erfüllt von dem, was Gott für uns getan hat, werden wir ihm ähnlicher.
Dann kann die Welt durch uns hindurch ihn sehen. So bezeugen wir ihn mit unseren Worten und unserem Leben.
Herausforderungen und Ermutigung im Zeugnis
Und eines muss uns dabei klar sein: Diese Botschaft wird die Welt nicht unbedingt gut finden. Viele werden ihr nicht glauben und uns deshalb ablehnen.
Ein falscher Versuch, der sich oft auch in Gemeinden einschleicht, ist zu sagen: „Na ja, dann machen wir das, was vielleicht ein bisschen leichter und populärer ist.“ Anstatt also den Herrn in der ganzen Radikalität seines Dienstes und in unserer ganzen Abhängigkeit von ihm zu verkündigen, bedienen wir uns selbst. Wir tun praktisch ein bisschen was, um bei den Menschen Anerkennung zu finden.
Aber ganz ehrlich: Das ist ein schwaches Zeugnis, ein lächerliches Zeugnis. Wenn wir Gott durch unseren Dienst bezeugen wollen, wie sollte dieser Dienst dann aussehen? Er sollte von Radikalität geprägt sein. Es sollte ein Dienst sein, der nicht sagt: „Oh, wie viel brauchst du denn jetzt? Muss das jetzt auch noch so sein? Also das muss doch reichen.“ Das hat Jesus nie getan. Er ist den ganzen Weg gegangen.
Das heißt: Wenn du durch deinen Dienst etwas vom Dienst des Menschensohns widerspiegeln willst, dann muss das ein radikaler Dienst sein. Und wenn du Jesus wirklich bezeugen willst, dann bist du bereit, auch Worte zu sprechen und Dinge zu tun, die in dieser Welt Verachtung und Spott finden.
Aus uns selbst heraus können wir das nicht. Wer ist dazu fähig? Deshalb müssen wir unseren Stolz ablegen und erkennen, wie selbstlos und aufopferungsvoll uns unser Herr gedient hat. Ich denke, erst wenn wir das erkennen und wenn das unser Herz immer mehr erfüllt, werden wir Stück für Stück zugerüstet, auch die Gesinnung Christi zu bekommen – so wie er radikal zu dienen, immer dort, wo eine Not ist, und ihn mutig zu bezeugen, auch wenn das Hohn und Spott hervorruft.
Aber ich rufe dich jetzt nicht zum Dienst auf. Mein einziger Ruf für dich heute ist: Schau aufs Kreuz, schau auf Jesus. Sieh, was er für dich getan hat, und dann geh auf die Knie und bete ihn an. Das wollen wir jetzt tun.
Schlussgebet und Dank
Himmlischer Vater, dein Dienst für uns ist die Grundlage für alles. Wenn du dich nicht für uns gegeben hättest, wären wir verloren. Wenn du nicht Hohn, Spott, Folter und Tod erlitten hättest, dann wäre das unsere sichere Zukunft.
Danke, danke für deine Liebe, danke für deine Selbstlosigkeit, danke für deine Bereitschaft, dich voll und ganz aufzuopfern.
Lenke unsere Blicke immer wieder auf das Kreuz. Hilf uns, deine Liebe zu erkennen, damit sie uns mehr und mehr durchdringt.
Und danke, Herr, dass wir wissen dürfen: So wie im Leben Jesu auch im Leben aller seiner Nachfolger auf eine Zeit der Ablehnung und des Leidens ganz gewiss eine Zeit der Erhöhung, des Friedens und der Freude folgt.
Hilf uns, so zu leben – voller Dankbarkeit, voller Zuversicht, im völligen Vertrauen und in völliger Abhängigkeit von dir.