Der verlorene Posten

Konrad Eißler
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Auf verlorenem Posten war der Blinde am Weg, den Jesus geheilt hat. Die gute Botschaft ist, dass keiner blind am Wege hockenbleiben und auf verlorenem Posten verloren sein muss. - Predigt aus der Stiftskirche Stuttgart, die Mut macht.


Auf verlorenem Posten, das war dieser Blinde am Wege, liebe Gemeinde. Medizinisch gesehen war ihm nicht zu helfen. Die Tübinger Weltapotheke verschiffte noch keine Medikamente, die den Star au­fhalten können, und die Christoffel-Blindenmission beauftragte noch keine Augenärzte, die den Kampf gegen diese Geißel des Orients führen. Er sah keine Hoffnung auf Heilung. Medizinisch gesehen war er auf verlorenem Posten. Und sozial gesehen war ihm auch nicht zu helfen. “Brot für die Welt” hatte noch kein Fürsorgeprogramm, das die Berufsbettler von der Straße bringt, und “Hilfe für Brüder” dachte noch nicht an Schulungskurse, die Blinde zu Evangelisten ausbildet. Er sah keine Möglichkeit der Hilfe. Sozial gesehen war er auf verlorenem Posten. Und religiös gesehen war ihm erst recht nicht zu helfen. Die Theologen wussten noch nichts von der Bergpredigt, die Arme seligpreist, und die Kirchenoberen kannten noch keinen Paulus, der die Rechtfertigung des Sünders unterstreicht. Er sah keinen Schimmer von Liebe. Religiös gesehen war er auf verlorenem Posten. Gewiss wurde er nicht wie ein Weltwunder bestaunt. In den Fußgängerzonen wimmelte es von jenen Gestalten mit ausge­streckten Händen und umgestülpten Mützen. Selbst solche mit Augen im Kopf sahen und sehen nichts von helfender Liebe.

Auf verlorenem Posten, das sind viele auf dem Lebensweg. Familiär gesehen ist ihnen nicht zu helfen. Der Mann ist mit seinen Gedanken immer wo­anders, so, als ob er schon gar nicht mehr zur Familie gehörte, und die Tochter geht ihren eigenen Weg, den man auf keinen Fall gutheißen kann. Sie sehen keine Chance mehr für die Ehe. Familiär gesehen sind sie auf verlorenem Posten. Oder beruflich gesehen ist ihnen nicht zu helfen. Der Chef setzt immer noch einen drauf, obwohl man nicht mehr der Jüngste ist, und die Arbeitskollegen verleiden einem das Geschäft, weil sie nur mit Ellenbogen arbeiten. Sie sehen keine Änderung mehr. Beruflich gesehen sind sie auf verlorenem Posten. Oder kirchlich gesehen ist ihnen nicht zu helfen. Die Mitarbeit im Jugendkreis hat nur Mühe und Zeit gekostet, aber keine jungen Menschen dazugebracht, und die Atmosphäre im Hauskreis war von Anfang an spannungsgeladen, weil man eigene Ansicht­en einbrachte. Sie sehen keinen nützlichen Dienst mehr. Kirchlich gesehen sind sie auf verlorenem Posten.

Und wer dies an diesem Morgen auch ist, vielleicht aus gesundheitlichen, verwandtschaftlichen, nachbarschaftlichen oder noch ganz anderen Gründen, der halte inne, der spitze die Ohren, der falte die Hände und bitte über solchem Text: “Gib uns Augen, die was taugen, rühre meine Augen an, denn das ist die größte Plage, wenn am Tage, man das Licht nicht sehen kann.” Denn das ist die gute Botschaft, dass keiner blind am Wege hockenbleiben muss. Das ist die gute Nachricht, dass keiner vergessen auf dem Wege liegenbleiben muss. Das ist die gute Post, dass keiner auf verlorenem Posten verloren sein muss. Inmitten aller Postwurfsendungen, die uns den Briefkasten verstopfen und das große Los ver­sprechen, inmitten aller Kartengrüße, die uns das Glück des einen und das Leid des andern anzeigen, inmitten aller Schreckensnachrichten, die uns per Zeitung frei Haus geliefert werden, da mittendrin ist heute die gute Post, dass keiner auf verlorenem Posten verloren sein muss. Also passen wir auf, was Lukas berichtet.

1. Der Blinde blieb auf Wachposten

Dort an der berühmten und berüchtigten Wegstrecke Jericho - Jerusalem also hatte der Mann Posten bezogen. Auch wenn er nichts sehen konnte, konnte er doch alles hören. In jedem Augenblick war er ganz Ohr für den Lärm der Straße. Einmal war es das Knarren der Räder. “Das sind wieder die Kaufmannskarawanen aus der Palmenstadt”, wusste er, “die den Balsam und die Datteln zum Großmarkt hinaufkarren. Dort werden sie mit diesem Angebot den großen Reibach machen. Aber was soll’s, mir wäre auch mit großem Geld nicht geholfen.” Ein anderes Mal war es das Getrappel der Pferde. “Das sind wieder die Reiterkohorten aus dem Winterpalast, die Herodes der Große in Jericho stationiert hat. Keiner im Lande wage es, gegen diese berittene Macht aufzumucken. Aber was soll’s, mir wäre auch mit großer Macht nicht geholfen.” Ein drittes Mal war es das Gemurmel der Leute. “Das sind wieder die Pilgerzüge aus dem Land, die nur eine fromme Pflichtübung abhaken. Außer Tradition und Religion wissen sie nichts. Aber was soll’s, mir wäre auch mit Religion nicht geholfen.”

Der Blinde wartete nicht auf das große Geld, sondern mit dem Psalmisten auf den reichen Herrn, der die Blinden sehend macht. Der Blinde wartete nicht auf die große Macht, sondern mit Jesaja auf den mächtigen Gott, der die Augen der Blinden aus Dunkelheit und Finsternis reißen wird. Der Blinde wartete nicht auf religiöse Figuren, sondern mit Jeremia auf den Sohn Davids, der Heilung und Heil verspricht.

Auf was warten wir alles, wenn wir Hilfe brauchen? Auf wen warten wir noch, wenn wir Zuwendung benötigen? Auf wieviel Dinge setzen wir unser Vertrauen, wenn wir vom verlorenen Posten wegkommen wollen? Als ob uns etwas anderes in der Welt helfen könnte als allein dieser verheißene und gekommene Christus! Und wenn andere Heiler die Bühne betreten und ihre Künste anbieten, so gilt: “Es ist in keinem andern Heil”. Und wenn andere Namen in den Gazetten auftauchen und ihre Wunder hochjubeln, so bleibt es dabei: “Es ist in keinem andern Heil, ist auch kein anderer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben.” Und wenn andere Christusse die Gemeinden verwirren und den Himmel auf Erden versprechen, so steht es fest: “Es ist in keinem andern Heil, ist auch kein anderer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben als allein der Name Jesus Christus.”

Der Blinde blieb wach auf den Herrn hin. Wohl hatte er blinde Augen, aber auch einen blinden Glauben an den Sohn Davids. Während Sehende mit Blindheit ge­schlagen waren und nicht erkannten, was sie eigentlich nötig haben, sah er messerscharf, was not tut. Es ist nicht notwendig, sich auf verlorenem Posten zu bedauern und zu bejammern. Mit Tränen, die einer über sich selbst vergießt, ist ohnehin nichts geholfen. Weil Jesus über diese Erde geht und jeden noch so einsamen Weg kreuzt, an dem wir gerade traurig sitzen wie der Bettler, deshalb gilt es hellwach zu sein für diesen Heiland. Der verlorene Poste als Wachposten, das ist der erste Teil unserer guten Post.

2. Der Blinde ging auf Horchposten

Denn eines Tages waren auffallend viele Schritte zu hören. Das Gerede der Menschen war anders als gewohnt. Ein ganz anderer Zug musste Richtung Jerusalem unterwegs sein. Wie ein Posten in der Nacht, der plötzlich aufschreit: “Halt! Wer da? Kennwort?”, so forschte er, was das wäre. “Jesus von Nazareth” war die nichtssagende Antwort. Das klang so wie Maier von Ixdorf oder Müller von Zetweiler. Der hat selber keinen roten Pfennig, meinten die Sehenden, der ist selber blind für die Wirklichkeit. Der muss selber gucken, wie er den Behörden aus den Augen kommt.

Jesus von Nazareth hilft nichts, meinen die Sehenden immer. Der für meine Augen? Der für meine Füße? Der für mein Herz? Der für meine Schmerzen, meine Trauer, meine Verzweiflung? Was kann von Nazareth Gutes kommen? Jesus von Nazareth bringt’s nicht.

Unser Blinde jedoch hat es anders gehört. Auf seinem Horchposten wurde ihm klar: Jesus ist der Sohn Davids. Wenn einer helfen kann, dann der. Jesus ist der Heiland der Welt. Wenn einer heilen kann, dann der, Jesus ist der erwartete Messias. Deshalb schreit er in seine Nacht hinaus: “Herr, erbarme dich”, oder griechisch übersetzt: “Kyrie eleison”. Auch wenn er zunächst nur Widerstand und Unverständnis der Leute spürt, schreit er weiter: “Herr, erbarme dich, kyrie eleison”. Selbst wenn er nichts von diesem Herrn hört, bleibt er bei seinem Schrei in die Nacht: “Herr, erbarme dich, kyrie eleison”.

Das ist die Bitte, die wir von diesem Bettler lernen müssen. Trotz der Nacht, die uns umgibt und jede Sicht auf einen gangbaren Weg genommen hat, beim Bitten bleiben: “Herr erbarme dich, kyrie eleison”. Trotz dem Unverständnis, das einem oft genug in der eigenen Familie begegnet, beim Bitten bleiben: “Herr erbarme dich, kyrie eleison”. Trotz des Schweigens, das von keiner väterlichen Stimme mehr durchbrochen wird, beim Bitten bleiben: “Herr, erbarme dich, kyrie eleison”.

Wir gehen nicht verloren, wenn wir mit dem Bettler auf Horchposten gehen. Denn dort hat unser Blinder Jesus persönlich gehört. Er meldete sich zur Stelle, wie er das immer tut, wenn wir rufen. “Was willst du, dass ich für dich tun soll?” Und bei dem Mann mit der umgedrehten Mütze kommt es nicht wie aus der Pistole geschossen: “Herr, dass ich 10 Mark sehe! Herr, dass ich Frau und Familie sehe! Herr, dass ich einen Beruf sehe!” Der Blinde antwortete: “Herr, dass ich dich sehe.” Er will Jesus sehen. Er will den Heiland schauen. Er will die Herrlichkeit Gottes in den Blick bekommen.

Das ist die Rettung, wenn einem in allem Dunkel und in aller Finsternis das Licht Jesu erscheint, so wie es der französische Widerstandskämpfer und Universitätsprofessor Jacques Lusseyran bekannte, der mit acht Jahren beide Augen verlor und als KZ-Häftling in Buchenwald schrecklich litt: “Jeden Tag danke ich dem Himmel dafür, dass er mich blind werden ließ. Dort traf ich auf die Freude, die nicht von außen kommt und auf das Licht, das selbst dann in uns ist, wenn wir keine Augen haben.”

Auch unserem Horchposten ging das Licht auf: Er wurde sehend. Der Blinde hat im vollsten und tiefsten Sinn des Wortes das Licht der Welt erblickt. Er hat den er­kannt, der da verkannt und verachtet seines Weges zog. Er hat Gott gelobt und gepriesen. Und das ist alles nicht im Perfekt oder Plusquamperfekt erzählt. Der Christus präsens ist genauso stark wie damals. “O dass du könntest glauben, du würdest Wunder sehen”. Der verlorene Posten als Horchposten, das ist der zweite Teil der guten Post.

3. Der Mann lief vom Startposten

Ihn hielt nichts mehr an seinem alten Platz. Nur der weiße Stock und die schmutzige Binde blieben als stumme Zeugen auf der Straße zurück. Lukas berichtet: “Er wurde sehend und folgte ihm nach.”

Aber wohin? Geht es hinab nach Tiberias? Dort am Seeufer, unter schattigen Palmbäumen bei kühler Brise lässt sich mit diesem lieben Herrn ein wunderbares Leben führen. “Er weidet mich auf grüner Aue”. Oder geht es hinunter nach Caesarea? Dort am Meeresstrand, mit Blick auf die graue Festung und mit Sicht auf das blaue Meer, lässt sich mit diesem treuen Herrn eine gesegnete Freizeit durchführen. “Er führet mich zum frischen Wasser.” Oder geht es hinüber nach Sychar? Dort am Jakobsbrunnen, am Fuß des Garizim und in der Nähe Samariens, lässt sich mit diesem reichen Herrn eine communio sanctorum, eine Gemeinschaft der Heiligen, gründen. “Er erquicket meine Seele”.

Und Jesus sagt: “Seht, wir gehen hinauf nach Jerusalem.” Das ist keine Strandpromenade mit lauschigen Plätzchen. Das ist keine Uferchaussee mit herrlichen Aussichten. Das ist kein Spazierweg mit plätschernden Brunnen. Der Weg nach Jerusalem ist beschwerlich; 25 km geht es durch felsiges Gelände. Er ist gefährlich; acht Stunden lang über tiefe Schluchten hinweg. Er ist steil; 1200 Meter müssen überwunden werden. Er ist einsam. Banditen haben leichtes Spiel.

Der Weg nach Jerusalem ist und bleibt ein Kreuzweg. Machen wir uns nichts vor und lassen uns nichts vormachen. Es ist einfach nicht wahr, dass der Weg mit Jesus hoch über den Nebelfeldern von Gipfel zu Gipfel geht. Es ist einfach nicht richtig, dass dieser Herr nur eine Prachtstraße in den Himmel angelegt hätte. Es stimmt hinten und vorne nicht, dass nur Hallelujahrufe auf dem Sonnenweg zur Ewigkeit zu hören seien. Richtig ist vielmehr, dass dort verspottet wird, misshandelt, angespuckt, gegeißelt und getötet, denn der Jünger ist nicht über den Meister, aber liebe Freunde, auch auferweckt, auch auferstanden, auch aus dem Tod zum Leben gekommen. Der Kreuzweg ist die einzige Zufahrt zum ewigen Leben. Einen andern Weg gibt es nicht.

Deshalb blieb unser Mann auch nicht sitzen und beguckte sich dank­bar die Gegend. Das neu geschenkte Augenlicht war ihm zu wenig. Im Lichte Jesu sah er den Weg nach Jerusalem, machte den Horchposten zum Startposten und sprach es diesem Herrn nach: “Seht, wie gehen hinauf nach Jerusalem.” Mir will es scheinen, als ob er uns zuwinke: “Wollt ihr nicht mitgehen?””

Auf verlorenem Posten muss keiner verloren sein. Das ist gute Post.

Amen


[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]