Ich möchte heute Nachmittag mit Ihnen drei Verse anschauen. Es sind drei Verse, die mich in meinem Leben schon sehr beschäftigt haben. Immer wieder tue ich mich schwer damit, sie richtig zu verstehen. Vielleicht geht es Ihnen ähnlich und Sie haben sich auch schon Gedanken darüber gemacht, wie Sie diese drei Verse, um die es heute gehen soll, verstehen können.
Ich hoffe, Sie erkennen, was sonst noch Wichtiges gesagt wird. Ich werde die Verse auch vorlesen, und die wichtigsten Punkte habe ich zusätzlich auf dem Beamer vorbereitet.
Es geht um die Verse 1. Korinther 7,29-31. Paulus schreibt im Ersten Korintherbrief folgende Zeilen:
„Das sage ich aber, liebe Brüder, die Zeit ist kurz. Fortan sollen auch die, die Frauen haben, sein, als hätten sie keine; und die weinen, als weinten sie nicht; und die sich freuen, als freuten sie sich nicht; und die kaufen, als behielten sie es nicht; und die diese Welt gebrauchen, als brauchten sie sie nicht; denn das Wesen dieser Welt vergeht.“
Die Herausforderung der paulinischen Lebensweise
Ja, es ist gut, dass Sie sich heute Nachmittag warm angezogen haben. Diese drei Verse haben es wirklich in sich. Man möchte fast fragen: Lieber Paulus, wir schätzen dich und respektieren dich, aber erklär uns doch mal, wie das gehen soll. Erklär uns doch, wie man so leben kann.
Die Frauen haben, als hätten sie keine, umgekehrt die Männer haben, als hätten sie keine. Tolle Ehe muss das sein, wenn man das mal probiert. Oder sie kaufen, als besäßen sie es nicht. Wie soll man das denn machen, Paulus? Wie kann man eigentlich so leben? Ist es nicht an sich unmöglich, diese drei Verse im Leben umzusetzen?
Man ist versucht, als Ausleger die Verse zunächst ein bisschen abzuschwächen, sie eine Stufe tiefer zu hängen. Schließlich gibt Paulus hier ab Vers 25 in diesem Kapitel seine eigene Meinung zum Besten. Es handelt sich in diesem ganzen Kapitel sieben im 1. Korintherbrief um lauter Fragen der Ehe und der Ehelosigkeit. Er sagt, dazu habe er kein Wort des Herrn, also kein Gebot Jesu, und deshalb äußert er jetzt seine eigene Meinung.
Man atmet als verheirateter Ehemann kurz erleichtert auf und denkt sich: Na ja, dann müssen wir es ja vielleicht nicht ganz so ernst nehmen. Dann ist es ja vielleicht eine Privatansicht des Paulus. Dann könnten wir sagen: Ja, Paulus, irren kann sich jeder mal. Und vergessen wir das Ganze lieber, bevor wir am Ende noch unsere Familien und unsere irdische Existenz aufs Spiel setzen.
Aber so leicht geht das nicht. So schnell kommen wir mit diesen Versen, mit diesen sperrigen und störrischen Versen nicht zurande. Paulus schreibt hier genau das, was auch Jesus von seinen Nachfolgern erwartet.
Auch Jesus hat uns solche steilen und herausfordernden Sätze mit auf den Weg gegeben: „Lasst die Toten ihre Toten begraben, ihr aber geht hin und verkündigt das Reich Gottes.“ Und: „Wer seine Hand an den Pflug legt und sie zurückzieht, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes“, sagt Jesus.
Jesus erwartet von seinen Jüngern eine Nachfolge ohne Wenn und Aber.
Die radikale Nachfolge der Jünger Jesu
Und genau das haben seine Jünger damals auch getan. Diese Männer, die Jesus damals zu seinen Jüngern gerufen hat, standen mitten im Leben. Sie hatten Familien, Frauen und Kinder. Sie hatten Eltern und Geschwister. Außerdem hatten sie einen Beruf, zum Teil sogar ein kleines Unternehmen mit Angestellten.
Petrus zum Beispiel hatte einen mittleren Fischereibetrieb, wie man heute sagen würde. Er hatte Angestellte und mehrere Boote – sozusagen eine kleine Flotte. Diese Männer waren in vielen sozialen Verpflichtungen eingebunden.
Dann kam Jesus zu ihnen, trat in ihr Leben und sagte: „Komm und folge mir nach.“ Und es heißt immer wieder das Gleiche: Sie standen auf, verließen alles, was sie hatten, und folgten ihm nach.
Diese Jünger Jesu waren wirklich Menschen, die Frauen hatten – als hätten sie keine. Sie waren oft wochenlang, manchmal monatelang unterwegs. Währenddessen saß zu Hause eine Frau mit, ich weiß nicht wie vielen Kindern, einer kranken Schwiegermutter im Fall von Petrus und allem Drum und Dran. Vielleicht kam noch der Betrieb dazu.
Wir sagen oft leichtfertig und etwas kurz: „Mit Jesus kommen deine Beziehungen in Ordnung.“ Oder: „Mit Jesus kommt dein Familienleben in Ordnung.“ Bei den Jüngern damals war es genau andersherum.
Jesus brachte das Chaos in ihre Familien. Er trat in ihre familiären Bindungen ein und rief die Männer aus ihren sozialen Verbindungen, aus ihren Familien, aus ihren Betrieben und aus der täglichen Arbeit weg – hinein in seine Nachfolge. Und sie wussten nicht, wann sie wieder zurückkommen würden oder wann sie wieder an ihre Arbeit gehen könnten.
Familiäre Spannungen durch die Nachfolge
Mit Jesus wurde das Leben dieser Männer völlig auf den Kopf gestellt – ebenso das Leben ihrer Familien. Leider finden wir in der Bibel keine einzige Geschichte über das Familienleben der Jünger. Das hätte mich wirklich sehr interessiert: Wie hat Petrus das zu Hause organisiert? Wie hat Matthäus sein Familienleben geregelt?
Ich hätte gern einmal Mäuschen gespielt am Küchentisch, wenn Herr Petrus sagt: „Morgen gehen wir wieder auf Wandertour mit unserem Rabbi.“ Wie sah das wohl aus?
Auch aus der Familie Jesu kennen wir nur eine einzige Geschichte, die uns einen kleinen Einblick gibt, nämlich die Geschichte vom zwölfjährigen Jesus im Tempel. Wahrscheinlich kennen Sie sie: Jesus, zwölf Jahre alt, geht mit seinen Eltern nach Jerusalem zu einem Fest – vermutlich zum Passafest. Als frommer Jude nahm er daran teil, ebenso wie sein Ziehvater Josef, der ebenfalls ein frommer Jude war, ein Dikaios, ein Gerechter. Sie gingen jedes Jahr zum Passahfest nach Jerusalem, wie es damals üblich war.
In Lukas 2 wird erzählt, wie Jesus bei den Schriftgelehrten sitzt und mit ihnen ein theologisches Gespräch beginnt. Alle sind erstaunt über seine Weisheit. Die Großfamilie möchte daraufhin wieder heimkehren. Nach einigen Kilometern merken sie plötzlich, dass Jesus fehlt.
Dann beginnt die Suche: Sie durchkämmen ganz Jerusalem – eine Stadt mit damals etwa 25.000 Einwohnern – auf der Suche nach dem kleinen Jesus. Wo hat er sich versteckt? Schließlich finden sie ihn im Tempel. Josef will ihm eine Standpauke halten: „Hey Junior, was ist eigentlich los? Wo hast du dich herumgetrieben?“
Doch der zwölfjährige Jesus antwortet: „Muss ich nicht im Haus meines Vaters sein?“
Schon mit dem zwölfjährigen Jesus kam also das Chaos in die Familie Jesu, in die Familie Josef. Die einzige Geschichte, die wir kennen, zeigt eine Familie, die ganz schön ins Schwitzen gerät. So wird es auch bei allen Familien gewesen sein, die auf irgendeine Weise von Jesus berührt wurden.
Ehrlich und offen gesagt, ist das auch bei mir so. Genau das erlebe ich. Ohne Jesus wäre unser Familienleben zu Hause wohl gemütlicher. Ohne Jesus würde ich jetzt vielleicht einen Kaffee aufsetzen, während die Kinder spielen, und ich könnte ganz entspannt zu Hause Kaffee trinken.
Ohne Jesus hätte ich wahrscheinlich mehr Zeit für meine Frau und meine Kinder. Gerade wegen Jesus bleibe ich meiner Frau, meinen Kindern und vielen anderen Beziehungen in meinem Leben oft sehr fehlschuldig.
Die Spannung zwischen Nachfolge und familiären Verpflichtungen
Ich kann mir vorstellen, dass es vielen von Ihnen genauso geht. Wenn man in der Nachfolge Jesu steht, bleibt man vielen Menschen, besonders denen, mit denen man im Leben eng verbunden ist, etwas schuldig. Das betrifft Eltern, Kinder und Verwandte.
Auch wenn man Diakonisse ist und diesen Weg der Nachfolge vollzeitlich geht, bleibt man vielen Menschen etwas schuldig. So ist das in der Nachfolge. Es ist immer ein Ringen um Zeit und darum, den Menschen gerecht zu werden. Oft schafft man es nicht, weil die Zeit zu knapp ist.
Ich erlebe das im CVJM sehr oft. Wenn ich viele Verantwortliche, viele Vorsitzende und auch viele Kirchengemeinderäte betrachte, die mir immer wieder begegnen, kenne ich kaum einen Pfarrer oder einen CVJM-Vorsitzenden, der ein gemütliches und entspanntes Familienleben führt. Ich kenne aber sehr viele, bei denen es gerade durch die Nachfolge zu großen Spannungen kommt.
Das liegt daran, dass die Zeit immer zu knapp ist, dass es immer zu viel zu tun gibt, dass es viel zu organisieren gibt und dass viele Menschen um Hilfe bitten und sie suchen.
Man kann natürlich fragen: Muss das so sein? Kann das der Wille Gottes sein? Genau um diese Fragen geht es in den Versen, die Paulus hier an die Korinther schreibt.
Diese Spannungen, in denen wir stehen, hängen nämlich mit einer ganz bestimmten heilsgeschichtlichen Situation zusammen, in der wir alle leben. Sie hängen mit der heilsgeschichtlichen Situation zwischen Himmelfahrt und Wiederkunft Jesu zusammen. Paulus beschreibt diese Situation in den Versen, und ich habe, wie Sie gehört haben, drei Punkte dazu gemacht.
Die Zeit als drängende Herausforderung
Wir leben in einer Spannung, weil die Zeit drängt. Diese Spannung entsteht zwischen der Nachfolge und den ganz irdischen Bindungen unseres Lebens.
Wir verstehen diese drei Verse eigentlich nur, wenn wir drei Dinge bedenken.
Erstens, oder A: Die Zeit drängt, denn das Wesen dieser Welt vergeht. Wir sind in eine Welt hineingestellt, die ein Verfallsdatum trägt. So wie der Joghurt im Supermarkt, trägt auch diese Welt ein Verfallsdatum. Gott hat den Tag schon festgesetzt, an dem er wiederkommen und diese Erde richten wird. Es ist eine Welt, die der Vergänglichkeit preisgegeben ist und auf Gottes jüngsten Tag zusteuert. Das Gleiche gilt auch für unser Leben und für mein Leben. Weil ich in dieser Welt bin, ist auch meinem Leben eine Frist gesetzt. Das ist die erste Grundvoraussetzung, die wir bei diesen Versen mitbedenken müssen.
Die zweite Voraussetzung, B: Diese Welt geht dem Gericht entgegen. Am Ende aller Tage wird Gott Gericht halten. Wer dann keine Eintrittskarte für das Reich Gottes hat, bleibt ewig draußen, draußen vor der Tür. Deshalb ist Eile geboten. Jesus sagt, wir sollen alle einladen und alle Nötigen hereinkommen lassen, weil die Zeit sehr drängt. Gott will, dass sein Haus voll wird. Das ist die zweite Voraussetzung, die zum Verständnis dieser Verse gehört.
Die dritte Voraussetzung, C: Gottes neue Welt will anbrechen. Darauf leben wir zu. Auf uns wartet schon der auferstandene Herr. Er steht quasi schon vor der Tür und klopft sozusagen an. Alle irdischen Beziehungen, in denen wir heute leben, werden einmal überboten werden durch Jesus und die himmlische Welt. Weil alle irdischen Beziehungen im Grunde auch ein Verfallsdatum tragen, sagt Paulus: Deshalb sollen wir haben, als hätten wir nicht. Deshalb sollen wir unser Leben leben, als ob es gar keine Bedeutung mehr hätte, als ob es schon relativiert wäre.
Der Umgang mit irdischen Bindungen im Licht der Ewigkeit
Paulus weiß, dass wir mitten in dieser alten Welt leben. Er weiß, dass wir mehr oder weniger Verantwortung für andere Menschen tragen – vielleicht für eine Familie, vielleicht auch für Angestellte in einem Betrieb. Er weiß, dass wir uns an irdischen Dingen freuen.
Vielleicht freuen wir uns an einem schönen Haus, das uns geschenkt wurde, an einem schicken Auto, an guter Musik oder am Lachen unserer Kinder. Wir haben Freude an einer Bergwanderung in der großartigen Natur. Paulus sagt: All das ist wichtig, all das ist gut und richtig.
Das Neue Testament kennt keine Kostverächter. Alles, was gut ist, kommt vom Herrn, der alle guten Gaben schenkt. Es kennt viele Genießer, allen voran Jesus, den man schon verdächtigt hat, ein Fresser und Weinsäufer zu sein. Jesus war ein Genießer, und das Neue Testament gönnt es uns, Dinge zu genießen. Paulus gönnt es uns auch.
Aber, sagt Paulus, all diese Dinge gehören nicht zur letztgültigen Realität unseres Lebens. Denn es kommt noch besser, viel besser. Wenn Gottes neue Welt einmal anbricht, wird es noch viel, viel besser sein als aller Genuss hier auf dieser Erde je sein könnte.
Deshalb fordert Paulus uns mit diesen Versen auf, den letzten Horizont dieser Welt und unseres Lebens im Auge zu behalten. Nutzt die Zeit bis dahin, nutzt sie aus, kauft sie aus. Dieser Tag ist der erste Tag – nicht nur vom Rest eures Lebens, sondern auch vom Rest dieser Welt. Nutzt ihn, nutzt diesen Tag, nutzt diese Stunden und Tage für Jesus, sagt er.
An anderer Stelle vergleicht Paulus das Reich Gottes mit einer Frau, die ein Kind bekommt und bei der die Wehen einsetzen. Ich habe das mit meiner Frau schon dreimal erlebt. Das sind umwerfende Erlebnisse im Leben.
Wenn die Wehen einsetzen, dann ist eines klar: Alle anderen Termine und alles, was sonst noch im Leben wichtig sein mag, tritt in den Hintergrund. Da muss alles andere abgesagt werden, auf alles andere muss verzichtet werden.
Mit einer schwangeren Frau, bei der die Wehen einsetzen, ist nicht zu spaßen. Da kommt es darauf an, sich schnell ins Auto zu setzen und direkt ins Krankenhaus zu fahren. Da kann man nicht sagen: „Die Sportschau läuft noch, ich könnte das letzte Spiel sehen.“ Da kann man nicht sagen: „Wir haben jetzt aber noch einen wichtigen Geschäftstermin, halt noch drei Stunden durch.“ Oder: „Ich habe heute Abend einen Skatabend mit Freunden verabredet.“ Frauen verstehen da keinen Spaß mehr.
Wenn das neue Leben ans Licht will, müssen alle anderen Termine zurückstehen. Auch alle Glücks- und Leitgefühle treten in den Hintergrund. Paulus beschreibt das so: „Freuen, als freute man sich nicht; weinen, als weinte man nicht.“ (2. Korinther 6,10)
Da ist es zweitrangig, ob mein Lieblingsverein gerade gewonnen hat und ich in Jubelstimmung bin, oder ob er verloren hat und ich mich am liebsten unter der Decke vergraben möchte. Es ist zweitrangig, ob ich gerade eine Gehaltserhöhung bekommen habe oder vielleicht meinen Arbeitsplatz verloren habe.
In diesem Moment zählt nur eins: das neue Leben, das ans Licht will. So ist es auch mit dem Reich Gottes. Es ist wie ein neues Leben, das sich ankündigt und jetzt alle Aufmerksamkeit auf sich zieht.
Da gilt es, alle Kraft darauf zu verwenden, dass möglichst viele Menschen sein Wort hören, dass alle eingeladen werden und dass möglichst viele bei diesem großen Fest dabei sind.
Wir leben in dieser Spannung, weil die Zeit drängt – wie bei einer Frau, bei der die Wehen einsetzen.
Die Herausforderung der ausgedehnten Wartezeit
Wir leben in einer Spannung, weil sich die Zeit hinzieht. Besonders schwierig ist es, wenn sich eine Geburt verzögert. Mit Kindern ist es oft so eine Sache: Sie wollen nicht so, wie es für uns am besten wäre. Es wäre schön, wenn alle Kinder Sonntagnachmittag nach dem Kaffeetrinken zur Welt kämen, sodass man zum Abendessen wieder zu Hause ist. Doch Kinder kommen manchmal nachts zu den unmöglichsten Zeiten auf die Welt.
Manchmal denkt man, jetzt kommen sie, und dann verschwinden die Wehen wieder. Mal sind sie stärker, mal schwächer. Ich kenne mich da mittlerweile aus: Beim letzten Kind sind wir zweimal umsonst ins Krankenhaus gefahren. So etwas kann sich über Tage hinziehen. Wer so etwas schon einmal erlebt hat, weiß, wie schwierig das ist. Das normale Leben geht ja weiter. Neues Leben kündigt sich an und nimmt alle Aufmerksamkeit in Anspruch. Es fordert mit einer Unbedingtheit: Jetzt bin ich dran! Doch dann kommen die Kinder nicht, und das andere Leben geht weiter.
Man muss mit den anderen Kindern zur Schule oder in den Kindergarten. Man hat noch eine Arbeit, bei der man nicht wochenlang sagen kann: „Hört mal her, jetzt geht es nicht.“ Man muss Dinge regeln im Leben. Der Alltag geht weiter, und die Pflichten kann man nicht einfach wegschieben. Es müssen Dinge erledigt werden, die man nicht aufschieben kann. Wenn eine Geburt sich hinzieht, dann ist das eine schwierige und spannungsvolle Zeit. Frauen sind in dieser Zeit oft sehr sensibel. Ich habe immer versucht, die Stimmung hochzuhalten. Doch es wurde mir in diesen Tagen nicht gedankt. Sehen Sie?
Genau das ist die Spannung, von der Paulus hier spricht, und in der jeder steht, der in der Nachfolge Jesu lebt. Das neue Leben ist angekündigt: Der jüngste Tag steht vor der Tür. Eigentlich kann es nicht mehr lange dauern, alle Vorbereitungen sind getroffen. Aber die Ankunft, die Geburt zieht sich hin. Und das Leben in dieser vergehenden Welt läuft parallel weiter.
Unsere Ehen brauchen Zeit, unsere Kinder und Familien brauchen Zeit, unser Beruf stellt Anforderungen, und auch unserem Körper und unserer Gesundheit müssen wir Sorge tragen. Unsere Ehen, unsere Familien, unser Beruf und unsere Gesundheit werden in Gottes neuer Welt keine Bedeutung mehr haben. Aber hier und jetzt haben sie eine Bedeutung. Hier und jetzt sollen sie diese Bedeutung nach Gottes Willen auch behalten. Und das ist die Spannung!
Wenn das neue Leben, wenn die neue Welt anbricht, wird all das vorbei sein. Aber jetzt ist es noch nicht vorbei. Jetzt stehen wir mittendrin, jetzt tragen wir Verantwortung. Wir können nicht einfach davonlaufen. Das macht uns oft unsere Not aus. Das ist die Spannung der Nachfolge Jesu Christi.
Und weil es so ist, können wir gar nicht anders, als diese Spannung auszuhalten: Dass wir Freunde haben, dass wir Ehefrauen, Ehemänner und Familien haben – als hätten wir sie nicht. Dass wir in vielen Sorgen und Herausforderungen stecken, aus denen wir nicht weglaufen können. Dass wir weinen und uns freuen, Gefühle haben und sie auch zeigen – aber so, als würde uns das alles nichts mehr angehen, weil in Gottes neuer Welt all das weg sein wird.
Dass wir irdische Dinge kaufen und gebrauchen – aber so, als würden wir morgen alles aufgeben und zurücklassen. Das ist die Spannung in einer Weltsituation, in der sich die Zeit hinzieht, in der der Advent noch auf sich warten lässt, in der der Herr schon vor der Tür steht, aber noch nicht geklingelt hat.
Die tragende Kraft Jesu in der Nachfolge
Und das Dritte: Wir leben in der Spannung, aber Jesus trägt uns durch. Es sind gerade diese Erfahrungen in der Nachfolge – die belastendsten und schwierigsten Erfahrungen des Christseins. Wir bleiben vielen Menschen etwa schuldig, gerade in der Nachfolge. Das liegt daran, dass wir in Verantwortungen stehen und gleichzeitig auf den wiederkommenden Herrn warten. Dabei ordnen wir alles diesem Herrn unter, was in unserem Leben eigentlich Bedeutung und Raum einnimmt.
Das ist die Erfahrung der Missionarin, die im Gehorsam diesem Ruf Jesu folgt. Sie steigt ins Flugzeug und fliegt für viele Jahre in ein fremdes, fernes Land. Zu Hause liegt vielleicht ein kranker Vater oder eine kranke Mutter. Das kann Menschen zerreißen. Da ist vielleicht die Diakonisse, die sich verpflichtet, ihr Leben ganzzeitig in den Dienst zu stellen, etwa in einem Diakonissenmutterhaus. Man muss sich selbst pflegen – das sind immense Spannungen, in denen Menschen stehen können.
Das ist auch die Erfahrung vieler CVJM-Vorstände und Mitarbeiter vor Ort, die ich erlebe. Viele Abende und Wochenenden gehen für die Arbeit im CVJM drauf. Beim Verlassen der Wohnungstür weinen die Kinder und tragen einem die Pantoffeln nach. Sie sagen: „Papa, bleib doch da, nur mal heute, und spiel mit uns.“ Das sind Erfahrungen, die auch ich mache. In allen Bereichen meines Lebens bleibe ich vielen Menschen etwas schuldig: meiner Familie, meiner Frau, meinen Kindern, gleichzeitig meinem Beruf, meinem Arbeitgeber, den Studenten, mit denen ich arbeite, dem CVJM, den Gruppen und Kreisen. Überall warten Menschen und haben Erwartungen. Ich kann nur ganz wenige erfüllen.
Vielleicht werden auch Sie erleben, dass Sie vielen Menschen etwas schuldig bleiben in Ihrem Leben. Dass Sie nie allen Erwartungen entsprechen können und nie allem genügen. Die Nachfolge Jesu kann sehr spannungsvoll sein. Am allermeisten bleiben wir aber der Beziehung zu Jesus etwa schuldig. Er ist oft derjenige, der am meisten zurückstehen muss in unserem Leben.
Aber – und das ist das Entscheidende – gerade in der Nachfolge Jesu werde ich von ihm getragen. Vor allem durch seine Vergebung. Er sieht, dass wir vielen Leuten etwas schuldig bleiben, dass wir vielen Beziehungen nicht genügen. Und er breitet mit seiner Vergebung die Arme aus und sagt: „Ich sehe das. Ich sehe die Spannung, in der du stehst. Ich sehe diese Spannung, in der man immer nur schuldig werden kann, in der man nie ohne Schuld herauskommt. Ich bereite meine Arme über deinem Leben aus und vergebe dir.“
So trägt uns Jesus durch seine Vergebung. Aber auch dadurch, dass er oft unsere Mangelhaftigkeit ausgleicht – auf eine Art und Weise, wie wir es mit all unserer Zeit und all unserer Kraft in dieser Welt niemals tun könnten. Er sorgt für unsere Familien, achtet auf unsere Kinder und kümmert sich um Menschen, für die wir immer viel zu wenig Zeit haben.
Jesu Gegenwart in den alltäglichen Spannungen
Es gibt in den Evangelien eine kleine Geschichte, die uns einen Einblick gibt, wie Jesus wirkt. Es ist die Geschichte von der Heilung der Schwiegermutter des Petrus.
Im Markus-Evangelium und auch bei den anderen Evangelisten heißt es: Alsbald gingen Jesus und seine Jünger aus der Synagoge und kamen in das Haus von Simon und Andreas, den zwei Brüdern. Mit Jakobus und Johannes, also vier Männern im Schlepptau, kamen sie zu dem Haus. Die Schwiegermutter Simons lag dort krank und hatte Fieber.
Das war keine gewöhnliche Grippe. Damals war Fieber lebensbedrohlich, man konnte daran sterben. Alsbald wurde Jesus von ihr berichtet, dass sie krank sei. Die Häuser damals waren klein, vielleicht mit höchstens zwei Zimmern, und sie lag im Nebenraum.
Jesus trat zu ihr, fasste sie bei der Hand und richtete sie auf. Das Fieber verließ sie, und sie diente ihnen. Man muss sich das einmal vorstellen: Familie im Haus des Petrus. Da gibt es eine Frau, eine Schwiegermutter und wahrscheinlich Kinder. Wer schon einmal in Kapernaum in Israel war und sich die Häuser angesehen hat, weiß, dass das keine großen Häuser waren.
Nun ist das Familienoberhaupt mit Jesus unterwegs. Petrus geht mit Jesus auf eine große Missionstour und ist tagelang, wochenlang von zu Hause weg. Man kann sich vorstellen, wie es zu Hause aussah: Die Schwiegermutter wird todkrank, die Frau ist allein mit den Kindern. Das war keine gemütliche Situation.
Wie es da zuging, kann man sich lebhaft vorstellen: Die Frau war im Dauerstress, das blanke Chaos. Dann kommt Jesus mit seinen vier Jüngern zurück nach Kapernaum. Sie haben Hunger. Jesus kommt in diese Situation hinein, in dieses Haus, wo sprichwörtlich „der Kittel brennt“.
Er ergreift die Hand der Schwiegermutter, das Fieber verlässt sie, und sie steht auf und dient ihnen. So ist das mit Jesus. Nicht immer so, aber im Grunde ganz ähnlich. Er sieht die Spannungen, in denen wir stehen, das Chaos in unseren Familien und in unserem Leben, das oft niemand außer uns selbst sieht, das aber da ist.
Er holt uns nicht aus den Spannungen heraus, zieht uns nicht weg und beamt uns nicht in eine andere Welt. Stattdessen lässt er uns in den Spannungen. Aber er kommt hinein, in die Spannungen unseres Lebens, in die oft kümmerlichen Verhältnisse unseres Alltags, in die bescheidenen und bedürftigen Umstände.
Dann hilft er uns, damit zu leben. Er hilft uns, einen Weg zu finden in dieser Zeit, die sich hinzieht und uns manchmal fast zum Zerreißen bringt. Er tritt hinein, reicht uns die Hand und hilft uns zu leben.
Wir leben in der Spannung, weil die Zeit drängt. Wir leben in der Spannung, weil die Zeit sich hinzieht. Wir leben in der Spannung. Aber Jesus trägt uns durch.
Schlussgebet
Ich möchte noch mit Ihnen beten.
Herr Jesus Christus, du siehst, wie es bei uns oft aussieht. Du siehst die Spannungen, die uns manchmal zu zerreißen drohen und die wir nicht aushalten können. Du weißt um die Erwartungen, die uns manchmal erdrücken, weil wir ihnen nicht gerecht werden können.
Du weißt um die Beziehungen, denen wir viel mehr Zeit widmen müssten. Du weißt um die Dinge, die dringend erledigt werden müssten, und bei denen wir oft nicht dazu kommen. Du weißt um das viele, was geschehen müsste, und wo wir immer wieder unsere Grenzen erleben.
Herr Jesus, wir bitten dich darum, dass es Wirklichkeit wird, dass du hineinkommst in die armen Beziehungen und in die armen Verhältnisse unseres Lebens. Wir bitten dich nicht, dass du uns herausnimmst. Aber wir bitten dich, dass du uns die Hand reichst, die Not linderst und all unseren Mangel ausgleichst – gerade dort, wo wir Menschen schuldig bleiben. Auf eine Weise, wie wir es in dieser Zeit niemals aus eigener Kraft tun könnten.
Wir bitten dich um dein Erbarmen. Wir bitten dich darum, dass du mit uns gehst und bei uns bleibst alle Tage bis ans Ende der Welt. Amen.
