Einführung in die Bedeutung der Kirchengeschichte
Gut, dann heiße ich Sie oder Euch jetzt erst einmal herzlich willkommen. Es freut mich, dass ihr Interesse an der Kirchengeschichte habt. Ich glaube, es ist eine ganz spannende und auch wichtige Angelegenheit, denn wir alle – egal aus welcher Gemeinde wir kommen oder wo wir zuhause sind – sind geprägt durch die Kirchengeschichte.
Da gibt es wahrscheinlich manche Phasen, die jedem von uns etwas entfernter zu sein scheinen. Häufig sind das die weit zurückliegenden Phasen, weil man mit ihnen nicht mehr so unmittelbar zu tun hat. Manchmal liegt es auch daran, dass sie ganz anders konfessionell geprägt sind, wie zum Beispiel die Geschichte der Kirchen. Wir sind in der katholischen Kirche oder der orthodoxen Kirche, aber selbst diese haben Spuren hinterlassen in unserem Glaubensleben, was uns manchmal gar nicht bewusst ist.
Dafür kann schon die Auseinandersetzung mit der Kirchengeschichte dienen: uns stärker selbstbewusst zu werden, was uns geprägt hat und woher das eigentlich kommt. Positive Dinge können so neu vor Augen geführt werden, um Gott zu loben für das, was er in der Geschichte getan hat. Außerdem können wir darin Vorbilder finden – im negativen wie im positiven Bereich. Wir sagen: Früher wurden manche Dinge falsch gemacht, das müssen wir heute nicht genauso falsch machen. Und es gab auch Positives, von dem wir profitieren können.
Wahrscheinlich geht es auch einigen so, dass sie schon Biografien von kirchengeschichtlichen Persönlichkeiten gelesen haben und dadurch hoffentlich ermutigt wurden. Insofern glaube ich, dass es sich lohnt, sich mit der Kirchengeschichte auseinanderzusetzen.
Bevor ich jetzt in die Epoche des Pietismus einsteige, die auch auf dem Programm steht, möchte ich jeden Abend eine Person etwas ausführlicher vorstellen und dabei auch einige Grundgedanken des Pietismus mit einfließen lassen.
Zuvor möchte ich gerne noch mit Ihnen beten:
Vater im Himmel,
wir danken Dir dafür, dass Du Deine Gemeinde gebaut hast und sie durch die ganze Geschichte hindurch bewahrt hast.
Danke für die Vorbilder, die wir in der Vergangenheit haben.
Wir bitten Dich, heute mit dabei zu sein und uns zu helfen, zu erkennen, was Du getan hast.
Hilf uns, herausgefordert zu werden und Dein Handeln im Leben der Menschen in der Zeit des Pietismus zu erkennen.
Amen.
Grundlegendes Verständnis des Pietismus
Zunächst möchte ich einige Worte zum Pietismus im Allgemeinen sagen. Da ich nicht voraussetzen kann, dass wir alle denselben Wissensstand haben, stellt sich zunächst die Frage: Was ist Pietismus eigentlich?
Für diejenigen, die sich schon näher damit beschäftigt haben, mag die Sache klar erscheinen – ist sie aber nicht. Denn selbst unter Kirchenhistorikern gibt es unterschiedliche Auffassungen. Grob gesagt, gibt es zwei Hauptmeinungen.
Die einen sehen den Pietismus als eine kirchengeschichtliche Bewegung im 17. und 18. Jahrhundert, die ungefähr von der Mitte des 17. Jahrhunderts, also grob von 1650 bis 1750, zu verorten ist. Die anderen hingegen sagen, dass Pietismus keine kirchengeschichtliche Epoche sei, sondern eine Frömmigkeitsbewegung – also bestimmte Formen der Frömmigkeit, die sich bis heute zeigen.
Nach diesem zweiten Ansatz begann der Pietismus in einer gewissen Phase, wobei man sich nicht einmal einig ist, wann genau. Einige sagen, er habe schon in der katholischen Kirche vor der Reformation begonnen, da es dort eine mystische, sehr persönlichkeitsbezogene und erfahrungsorientierte Frömmigkeit gab. Diese zog sich dann durch die Erneuerungsbewegung der lutherischen Kirche bis in die Gegenwart.
Diesen zweiten Ansatz verfolgen insbesondere die Herausgeber der „Geschichte des Pietismus“. Im Verlag Franz Steiner und im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht sind in den letzten fünfzehn Jahren vier Bände erschienen. Diese relativ umfangreichen Bände zur Geschichte des Pietismus stellen die ausführlichste Darstellung des Pietismus im deutschsprachigen Raum dar. Ich habe die Bände jetzt nicht dabei, vielleicht hole ich in der Pause mal einen Band, damit man darin blättern kann.
Die Autoren dieser Werke verstehen sich selbst nicht als Pietisten, sehen den Pietismus aber als Frömmigkeitsbewegung an. Tatsächlich gibt es heute auch Gemeinden und Gemeinschaften, die sich selbst als pietistisch bezeichnen. Viele landeskirchliche Gemeinschaften gehören dazu, denn sie stehen in diesem Erbe, da sie in jener Zeit entstanden sind. Obwohl sie viele Veränderungen durchgemacht haben, beziehen sie sich auf diese Tradition.
Der Begriff „Pietas“, der dem Pietismus zugrunde liegt, bedeutet eigentlich Frömmigkeit. Es handelt sich also um eine Bewegung von Christen, die einen besonderen Wert auf Frömmigkeit legen. Manche könnten annehmen, das sei doch bei allen Christen so – aber das ist nicht unbedingt der Fall.
In der Zeit nach der Reformation gab es beispielsweise eine Phase, die als Orthodoxie bezeichnet wird. Hier ist nicht die orthodoxe Kirche des Ostens gemeint, sondern eine Lehrverfestigung innerhalb der lutherischen und reformierten Kirche. Man spricht von der lutherischen Orthodoxie oder der reformierten Orthodoxie.
Das Wort „orthodox“ bedeutet auf Deutsch „Gott richtig loben“ oder „rechtgläubig sein“. In dieser Phase versuchten die Erben der Reformation, die Lehren Luthers in ein System zu bringen, in dem man genau sagen konnte: Wer diese Überzeugung vertritt, ist rechtgläubig; wer sie nicht vertritt, ist es nicht.
Die persönliche Frömmigkeit spielte dabei jedoch keine Rolle. Sie war untergeordnet. Man konnte Frömmigkeit leben, musste es aber nicht. Ein Schüler Luthers, besser gesagt ein Enkel, sprach sogar davon, dass gute Werke für Christen schädlich seien – was Luther selbst natürlich nie gesagt hätte.
Wie kam es dazu? Man hatte die Lehre Luthers, dass der Mensch allein aus Gnade gerechtfertigt oder gerettet ist, überbetont. Daraus folgerte man: Wenn der Mensch noch gute Werke tut, könnte er sich später darauf etwas einbilden. Also sei es besser, keine guten Werke zu tun, damit die Gnade umso größer sei.
Das entspricht weder dem, was Luther gesagt hat, noch dem, was Paulus, auf den Luther sich stützt, lehrt. Paulus sagt im Römerbrief und im Galaterbrief ganz deutlich: Bedeutet das, dass das Gesetz schlecht sei oder dass wir jetzt einfach sündigen dürfen? Nein, das ist fernliegend und kommt überhaupt nicht in Frage.
Dennoch wurden in der lutherischen Orthodoxie solche Aussagen gemacht. Es kam nur noch darauf an, die Bekenntnisschriften der lutherischen Kirche zu kennen und zu bejahen. Allerdings fiel immer mehr ein Abweichen von Leben und Lehre auf. Es kam nur noch auf die innere Überzeugung an.
Ich habe ein Bild eines Gemäldes aus jener Zeit, das den orthodoxen Gottesdienst vor Augen führen soll – also wie das damals aussah. Sie können gerne einmal sagen, was Ihnen an diesem Bild auffällt.
Zu sehen ist eine Kirche in der Zeit der lutherischen Orthodoxie. Was fällt an dem Bild auf? Die meisten scheinen zu schlafen – man sieht einige mit offenem Mund, andere mit zurückgelehntem Kopf. Oben liegt jemand auf seinen Armen und schläft. Es sieht so aus, als ob ein Großteil der Zuhörer in der Kirche schläft.
Das lag daran, dass die Predigten damals eher Kanzelvorträge waren. Man breitete seine Gelehrsamkeit aus. Wenn wir den Prediger oben betrachten – das ist der Mann dort oben – was fällt auf? Er liest ab und braucht sogar eine Art Vergrößerungsglas. Er scheint ganz vertieft in seine Notizen zu sein. Das Publikum interessiert ihn kaum.
Nebenbei hat der Maler auch eine Uhr gemalt. Wenn man genau hinschaut, ist es eine Sanduhr, die fast durchgelaufen ist. Das soll zum Ausdruck bringen, dass die Zeit schon fast vorbei ist. Wir sehen also den Prediger, der in seinen Unterlagen liest und in seinen theologischen Gedanken vertieft ist. Was in der Gemeinde passiert, spielt für ihn kaum eine Rolle.
Der Maler hat auch ironische Kritik am zweiten Geistlichen, dem Diakon, eingebaut. Der sitzt unten und soll auf das Wohl der Gemeinde achten. Was fällt an ihm auf? Er scheint halb zu schlafen. Wenn man genau hinschaut, sieht man, dass sein Kopf direkt vor einer Dame liegt, die ebenfalls halb schläft.
Das soll ausdrücken, dass bei diesen orthodoxen, lutherischen Orthodoxen die Lehre zwar sehr wichtig war, das Leben aber oft zurückblieb. Sie lebten nicht so, wie sie lehrten. Das fiel der Gemeinde auf, zumindest den Frommen unter ihnen.
In der Mitte des 17. Jahrhunderts, also um 1650, begann eine Aufbruchbewegung, die zunächst den Spottnamen „Pietisten“ erhielt. Diesen Namen haben sie sich nicht selbst ausgesucht. Es war ein Vorwurf der Bevölkerung, weil die Pietisten zu großen Wert auf besondere Frömmigkeit legten.
Später, als man vergaß, dass es ein Spottname war, wurde er als reguläre Bezeichnung übernommen. Ursprünglich war es ein Spottname, mit dem man sich gegen diese Leute wandte. Sie meinten, sie bräuchten mehr als den normalen Gottesdienst und mehr als die intellektuelle Bejahung der lutherischen Lehre. Für sie spielte das Leben eine größere Rolle.
Pietismus als Erneuerungsbewegung und seine Wirkung
Mit dieser Bewegung wollen wir uns etwas näher beschäftigen. Es handelt sich um eine Erneuerungsbewegung in der evangelischen Kirche in Deutschland, die insbesondere dort zu einer Veränderung und Erneuerung beitrug und die Kirche damals stark prägte.
Die Bewegung des Pietismus stagnierte jedoch um 1750, ging zurück und führte zu einem Schrumpfen der pietistischen Gemeinschaften. Erst in der Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts entstanden aus den Wurzeln des Pietismus wieder neue Gemeinschaften, die aufblühten. Dies führte in zahlreichen Regionen Deutschlands zu Aufbrüchen, deren Spuren wir bis heute noch erkennen können.
Zu diesen Spuren zählen unter anderem der Gebetsverein. Auch hier in der Nähe entstanden in dieser Zeit die Betel-Anstalten oder in Lemgo die Einrichtung Eza. Wenn wir die Geschichte Lemgos etwas näher betrachten, gab es im 19. Jahrhundert die sogenannte Bretterkirche. Diese wurde von Bauern gebaut, die von der Erweckungsbewegung berührt wurden und ihre eigene Kirche errichteten. Sie holten einen frommen Pfarrer aus dem Ausland – wobei damals „Ausland“ Wuppertal bedeutete. Der Pfarrer kam aus Wuppertal hierher, und die Gemeinde finanzierte und baute die Kirche selbst.
Das war eine Aufbruchbewegung, von der unsere Umgebung hier zum Teil noch profitiert. Auch in Lemgo gibt es eine fromme evangelische Kirche, und hier in der Nähe gibt es einige evangelische Pfarrer mit pietistischer Gesinnung. Das ist das Erbe, das Überbleibsel dieser Erweckungsbewegung. Diese wiederum fußt auf der Erneuerungsbewegung des Pietismus, die wir nun näher betrachten wollen.
Dieser historische Zusammenhang soll verdeutlichen, dass diese Werke nicht aus dem luftleeren Raum entstanden sind. Vielmehr gab es Spuren und Reformen, die vorher vorhanden waren und wieder aufbrachen. Fast alle großen Freikirchen in Deutschland haben ihre Wurzeln im Pietismus. Dies wird besonders deutlich, wenn man deutsche Freikirchen mit amerikanischen vergleicht.
Die amerikanischen Freikirchen sind ganz anders geprägt, da sie von Anfang an viel freier und selbständiger entstanden sind. Die meisten Freikirchen in Deutschland sind erst etwa 150 Jahre alt. Sie entstanden durch fromme Menschen innerhalb der Kirche, die vor 150 Jahren in der Erweckungsbewegung sagten: „Wir gehen aus der Kirche heraus und gründen eigene Gemeinschaften.“
So entstanden in Deutschland vor etwa 150 Jahren die Methodisten, die Baptisten, die Freien Evangelischen, die Heilsarme und die Brüdergemeinden. Diese großen Freikirchen haben alle ihre Wurzeln in der pietistischen Bewegung am Rande der evangelischen Kirche.
Das Besondere bei den Pietisten war, dass sie eine Erneuerung suchten – aber innerhalb der bestehenden Kirche, nicht außerhalb. Das war ihr Kennzeichen im Gegensatz zu den späteren Freikirchen, die sich von der Kirche lossagten und eigene Organisationen gründeten.
Bis heute ist dies ein Charakteristikum der landeskirchlichen Gemeinschaften, wie sie zumeist genannt werden. Sie haben eine enge Bindung an die Kirche, wollen sich aber nicht von ihr bestimmen oder dominieren lassen.
Früher war das noch stärker ausgeprägt. So fanden die Gottesdienste oft am Sonntagnachmittag oder -abend statt, um keine Konkurrenz zum Gottesdienst am Sonntagmorgen in der Kirche zu sein. Die Sakramentshandlungen überließen sie dem Pfarrer.
Die eigene Bibellektüre, die Frömmigkeit und die gegenseitige Unterstützung in der Gemeinschaft pflegten sie dennoch. Anfangs fanden die Versammlungen in der Kirche statt. Doch als sich viele Kirchen, besonders in der Aufklärungszeit, von ihnen distanzierten und Pfarrer zunehmend rationalistisch wurden, bauten die Pietisten eigene Gemeindehäuser oder Versammlungshäuser, in denen sie ihre Zusammenkünfte abhielten.
Das ist nun ein weiter Bogen von der Reformation, dem Erstarren der lutherischen Lehre, dem Aufbruch und der Erneuerung im Pietismus, über die starke Kritik und den Rückgang der Gemeinschaften in der Aufklärung, bis hin zum erneuten Erblühen in der Erweckungsbewegung vor 150 Jahren. Diese Bewegung trug zu einer Erneuerung in Deutschland bei, deren Auswirkungen wir bis heute spüren.
Vielleicht nicht so intensiv, wie wir uns das wünschen würden, aber dennoch mit starken Wirkungen. Besonders möchte ich betonen, dass diese Bewegung auch Auswirkungen nach Russland hatte. Viele Gemeinden, die dort entstanden, stammen ursprünglich aus mennonitischer Herkunft.
Diese Mennoniten entstanden in Deutschland zur Zeit der Reformation. Sie flohen vor Verfolgung durch Katholiken und Protestanten. Viele ließen sich in Russland nieder, andere gingen in die Niederlande, später in die USA oder nach Südamerika.
Mit der Zeit wurden viele mennonitische Gemeinden in Russland traditionalistisch und lehrmäßig erstarrt. Diese kirchlichen Mennoniten hatten ähnliche Traditionen wie die Kirche, allerdings mit leicht anderen Inhalten, waren aber sehr traditionell geworden.
Auch diese Mennoniten erfuhren eine Erneuerungsbewegung, die parallel zum Pietismus verlief. Ich werde das später noch erwähnen. So hatte zum Beispiel August Hermann Francke intensive Verbindungen nach Russland zu den Mennoniten. Er schickte Besuchsschriften dorthin.
In der Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts reisten Prediger wie Johann Gerhard Oncken und Bedecker, ein wichtiger Pietistenprediger, durch Russland und trugen zur Erweckung in den Mennonitengemeinden bei.
Vor etwa 150 Jahren entstanden in Russland die Mennonitenbrüdergemeinden. Diese waren eine Erneuerungsbewegung innerhalb der Mennoniten, die oft skeptisch betrachtet wurde, weil sie ihr Glaubensleben sehr enthusiastisch feierten und großen Wert auf Bekehrung legten.
Diese Bewegung führte zu einer Erneuerung der bestehenden Mennonitengemeinden. Die meisten Mennonitengemeinden aus Russland, selbst die heute baptistisch genannten, stammen eigentlich aus mennonitischer Herkunft, wurden aber durch den Baptismus erneuert und zur Erweckung gebracht.
So besteht auch hier eine enge Verbindung. Heute ist diese Verbindung vielleicht nicht mehr so stark sichtbar, aber die Erweckungsbewegung wirkte übernational ineinander.
Was ich bisher ausgelassen habe, ist, dass der Pietismus von Deutschland aus auch zur Erweckung in England und Amerika beitrug. Das wird manchmal ausgeblendet.
John Wesley, der wichtigste Vertreter der Erweckungsbewegung in England, kam durch den Kontakt mit den Herrnhuter Brüdergemeinden zum Glauben. Diese Brüdergemeinden gehörten zum Pietismus, vertreten durch Graf Zinzendorf.
Nachdem Wesley durch diese Begegnung zum Glauben gekommen war, wollte er zunächst in England Herrnhuter Brüdergemeinden gründen. Später kam es zu Streitigkeiten, wie es manchmal unter Christen vorkommt.
Wesley arbeitete dann losgelöst davon innerhalb der anglikanischen Kirche und gründete später eine eigene Bewegung, den Methodismus. Somit gingen wichtige Impulse des Pietismus auch nach England und Amerika und trugen dort zur Erweckung bei.
In der Erweckung des 19. Jahrhunderts kamen dann wiederum Impulse aus dem anglikanischen Bereich zurück nach Deutschland. So gab es eine zeitversetzte Wirkung der Erweckung: zuerst in Deutschland, dann in England und Amerika, und von dort aus wieder Impulse zurück nach Deutschland, zu einer Zeit, als es dort geistlich eher schlecht stand.
Das ist nun ein grober Überblick über die letzten 500 Jahre und die kirchengeschichtliche Einordnung des Pietismus.
Wichtige Persönlichkeiten des Pietismus und ihre Bedeutung
Wichtige Personen, die wir uns anschauen werden, sind insbesondere drei, die auch auf dem Programm stehen: Zum ersten Mal Spener, dann Franke und schließlich Zinzendorf. Diese Auswahl ist nicht zufällig, sondern bewusst getroffen, da sie wesentliche Vertreter des Pietismus sind. An ihnen lässt sich auch gut erkennen, wie sich der Pietismus im Laufe der Zeit verändert hat.
Zum Beispiel werden wir feststellen, dass Spener am Anfang sehr darauf bedacht war, in und bei der Kirche zu bleiben. Die anderen blieben ebenfalls in der Kirche, traten aber schon mit etwas mehr Freiraum und Selbstbewusstsein auf. Zur Zeit von Franke und Zinzendorf war der Pietismus in vielen Kreisen bereits akzeptiert. In den ersten Jahrzehnten hingegen wurde er stark bekämpft.
Deshalb habe ich diese drei Personen ausgewählt. Es ließen sich durchaus noch weitere nennen. Gerade wenn man aus Württemberg kommt, würde man auch Johann Albrecht Bengel oder Friedrich Christoph Oettinger erwähnen. Manche erinnern sich auch an Gerhard Terstegen, der ebenfalls zum Pietismus gezählt wird. Es gäbe also einige mehr. Der Pietismus ist mehr als nur diese drei Personen, die wir uns anschauen.
Ich habe hier auch eine Karte mitgebracht, die zugegeben nicht ganz so schön geworden ist. Trotzdem ist erkennbar, dass einzelne Regionen gezeigt werden, in denen Personen besonders tätig waren. Hier zum Beispiel Philipp Jakob Behner (1635–1705), erste Generation. Hier steht Collegia Pietatis, das ist etwas Typisches für den Pietismus. Heute würden wir es Hauskreise oder Bibellesekreise nennen. Er hat solche gegründet und war hauptsächlich in Frankfurt tätig. Den werde ich später noch genauer vorstellen.
Dann haben wir Johann Albrecht Bengel in Württemberg, der in Stuttgart wirkte. Oben sehen wir das Zentrum von August Hermann Franke, nämlich Halle, das bei Leipzig liegt. Hier ist Johann Arndt, der als Schriftsteller ein Vorläufer des Pietismus war. Seine Ideen wurden später aufgegriffen. Weiterhin sehen wir den Grafen von Zinzendorf, der in Herrnhut tätig war. Herrnhut liegt heute an der Grenze zu Tschechien.
Es gibt auch noch andere, wie die Schwarzenauer Täufer in Schwarzenau oder Jean de Labadie, von dem ich gleich noch einige Dinge sagen werde. Diese Karte zeigt, dass der Pietismus in verschiedenen Regionen Deutschlands verbreitet war. Es war nicht nur eine Region betroffen, und viele unterschiedliche Personen waren daran beteiligt – nicht nur die drei, die ich vorstellen werde.
Wegbereiter des Pietismus: Persönlichkeiten und Ideen
Jetzt möchte ich zuerst einmal ein paar Momente bei den sogenannten Wegbereitern des Pietismus verweilen. Das heißt bei den Personen, die sich selbst nicht als Pietisten verstanden haben und auch nicht als solche eingeordnet wurden, die aber das Ganze mit vorbereitet haben. Ich nenne hier nur einige stellvertretend.
Da gab es zum Beispiel Philipp Nicolai, der von 1556 bis 1608 lebte. Bekannt geworden ist er insbesondere durch ein Buch, das er veröffentlicht hat, mit dem Titel „Freudenspiegel des ewigen Lebens“. Manchmal sind schon allein die Titel dieser Bücher interessant, weil sie etwas über den Inhalt verraten, über das, was den Leuten wichtig war. Hier merken wir auch den starken Bezug zum Jenseits, also zum ewigen Leben, aber auch die emotionale Komponente spielt eine Rolle.
Nicolai betonte sehr stark eine Mystik, das heißt, der Christ erlebt Jesus in seinem Inneren. Die Geburt sei sozusagen ein Prozess, der nicht an Sakramente oder Ähnliches gebunden sei. Übrigens trat Philipp Nicolai auch als Liederdichter hervor. Bis heute sind im Kirchengesangbuch Lieder von ihm enthalten, wie „Wie schön leuchtet der Morgenstern“ oder „Wacht auf, ruft uns die Stimme“. Das sind zwei Lieder, die bis heute noch gesungen werden und aus dieser Zeit von dieser Person stammen.
Es gab auch Stephan Praetorius, der etwa zur selben Zeit lebte, von 1536 bis 1603. Er schrieb die „Geistliche Schatzkammer“ und entwickelte darin ein „Freudenchristentum“, wie er es nannte. Der Christ solle über die Gabe der Erlösung und der Herrlichkeit Gottes so in Freude ausbrechen, dass er sein Alltagsleben stark mitbestimme. Diese Wiedergeburt, so sagt Praetorius, werde dem Christen in der Kindertaufe gegeben. Der Mensch sei in der Kirche getauft und dadurch erhalte er die Freude der Erlösung und die Gaben des Heiligen Geistes, über die er sich freuen solle. Damit habe er Anteil an der göttlichen Natur, schreibt er.
Praetorius meint sogar, jeder Christ könne schließlich sagen: „Ich bin Christus.“ Manche dieser Aussagen klingen heute vielleicht etwas seltsam, aber einige Einflüsse ziehen sich durch, während andere mit der Zeit verloren gehen. Auf jeden Fall vertrat er diese Ansicht.
Später bildete sich eine Gruppe um ihn, und einige seiner Gegner bezeichneten diese Bewegung als „Juche-Christentum“, weil dort so viel gelobt und gefeiert wurde. Man freute sich so sehr, dass man wie Christus sei, dass dabei vielleicht etwas die Bodenhaftung verloren ging. Einige dieser Gruppen, insbesondere in Württemberg, existierten noch bis ins 18. Jahrhundert.
Wahrscheinlich die bekannteste Person des Vorpietismus ist Johann Arndt. Von ihm habe ich hier auch ein Bild. Ja, genau, das hier ist Johann Arndt, und zwar auf dem Titelblatt seines Buches „Die vier Bücher vom wahren Christentum“. Das ist sein Hauptwerk, erschienen 1605. Darin beschreibt er eine pietistische, das heißt ganz auf die Person und das Gefühlsleben bezogene Frömmigkeit.
Später erschienen noch andere Schriften von ihm, wie das „Paradiesgärtlein“. Man merkt, dass es keine schwerwiegenden theologischen Schriften sind, sondern solche, die das praktische Christenleben fördern sollen. Er wandte sich in seinen Schriften besonders gegen den Verfall der lutherischen Kirche in Deutschland und wollte an die Quellen der Mystik des Mittelalters anknüpfen.
Dabei war ihm nicht so sehr wichtig, ob die Mystik katholisch war oder nicht, denn für die Pietisten spielte vielmehr das eigene Gefühl, die eigene Frömmigkeit und das eigene Erleben der Nähe Gottes eine Rolle. So zitiert er aus den Werken von Johannes Tauler oder Thomas von Kempen, die vor der Reformation auch diese persönliche Frömmigkeit gepflegt haben.
Nach Arndt geht es im Christenleben um die Wiederherstellung des Ebenbildes Gottes in der menschlichen Seele. Der Mensch sei nicht völlig schlecht, sondern wenn er sich auf Gott ausrichte, im Gebet, im Gottesdienst und in den Sakramenten Gott suche, dann wohne Gott in ihm. So könne die Seele gereinigt und erleuchtet werden. Das letzte Ziel sei die Vereinigung der Seele mit Gott, die Mystiker nennen das Unio Mystica.
Man muss sich das so vorstellen: Ich bete intensiv, nicht nur ein paar Minuten, sondern ein, zwei, drei Stunden, meditiere über Bibelverse, und plötzlich erlebe ich in mir ein tiefes Gefühl, das die Gegenwart Gottes ausdrückt. Dieses Gefühl kann so stark werden, dass ich gar nicht mehr bewusst wahrnehme, dass ich hier auf der Erde bin, sondern diese emotionale Einigkeit mit Gott erfahre.
Arndt ging es nicht so sehr um die Erlösung an sich, sondern vielmehr um das Leben mit Gott, was wir heute als Heiligung bezeichnen würden, die Erfahrung Gottes. Diese Heiligung ist für ihn nicht nur eine Frage von „Jetzt darfst du das tun, das nicht“, sondern vielmehr die Pflege der Gemeinschaft mit Gott, das Erleben der wahren Gottseligkeit.
Heute würde man an manchen Stellen Kritik üben. Zum einen könnte man sagen, das ist Synergismus – das heißt, Gott und Mensch wirken zusammen, nicht nur Gott allein. Die Vorläufer des Pietismus waren nicht die großen Theologen, sondern lebten mehr ihre Frömmigkeit und dachten manchmal nicht so sehr darüber nach, ob das theologisch richtig ist.
Man könnte ihnen auch vorhalten, dass diese Art der Frömmigkeit zu einer Selbstbespielung führen kann. Man schaut nur noch auf sich selbst und seine eigenen Empfindungen, setzt sich intensiv damit auseinander und läuft Gefahr, nicht mehr zu unterscheiden, was das eigene Gefühl ist und was das Reden Gottes ist. Solche Fehler machen auch manche mystische Gruppen heute.
Es gab auch Aufbrüche in der reformierten Kirche. Dazu gehört beispielsweise Theodor Anderdyk. Von ihm habe ich hier auch ein Bild. Er war Pfarrer in Duisburg und hatte bei Gijsbert Voetius in den Niederlanden studiert, dem Zentrum der reformierten Kirche. Anderdyk entwickelte einen Präzisierungsgedanken, den Präzisismus. Dabei geht es darum, das Leben präzise, also ethisch anspruchsvoll zu führen und sich nach den Ordnungen Gottes auszurichten. Später bezogen sich manche Pietisten auf ihn.
Anderdyk wurde Pfarrer in Mülheim und predigte gegen das Gewohnheitschristentum, also das bloße Gewohnheitshandeln, nur aus Routine in die Kirche zu gehen. Er setzte sich für eine strenge Gemeindezucht ein, ermahnte unmoralisch Lebende zur Umkehr.
Schon vor Spener führte er kleine Privatversammlungen ein, bei denen Christen sich trafen, austauschten und erbauliche Bücher lasen. Er predigte auch gegen Luxus, Spiel und Tanz – typische Themen des Pietismus. Dabei sollte man bedenken, dass die lutherische Kirche damals wenig Wert auf Moral legte, und auch die Gesellschaft war moralisch verroht.
Wir sind am Ende des Dreißigjährigen Krieges, der von 1618 bis 1648 dauerte. Dieser Krieg verwüstete ganz Europa. Anfangs waren viele Menschen noch religiös interessiert, denn der Krieg war ein Religionskrieg, in dem Lutheraner beziehungsweise Evangelische gegen Katholiken kämpften. Die Fronten wechselten jedoch oft.
Am Ende verloren die Evangelischen fast, und der französische König kämpfte auf Seiten der Evangelischen gegen den deutsch-österreichischen Kaiser. Das ist eine verrückte Geschichte, weil so ein katholisches Land gegen ein anderes katholisches Land kämpfte, und am Ende profitierten die Protestanten davon. Man könnte sagen, vielleicht war das Gottes Wille, aber vorher waren die Evangelischen tatsächlich besiegt.
Die Fronten wechselten also ständig, und man konnte oft nicht mehr klar unterscheiden, wer zu wem gehörte. Das führte am Ende des Krieges zu großer Frustration. Die Menschen hatten die Nase voll von religiösen Auseinandersetzungen und wollten davon nichts mehr wissen. Das trug auch zur Unmoral bei.
In vielen Städten, zum Beispiel in Nördlingen in Bayern, wo ich im letzten Sommer war, starb fast die Hälfte der Bevölkerung während des Dreißigjährigen Krieges. Das war ein radikaler Einschnitt für Deutschland. Es waren nicht nur kämpfende Heere, sondern auch plündernde Truppen, die Städte und Dörfer verwüsteten und niederbrannten.
Man muss sich vorstellen, 30 Jahre Krieg – das ist kaum vorstellbar. Diese Verwüstung führte zu einer Verrohung der Moral. Das werden wir an einzelnen Stellen noch sehen, wenn wir uns mit den Pietisten beschäftigen. Deshalb wird das Thema hier sehr stark betont, besonders von Anderdyk.
Eine weitere wichtige Person war Friedrich Adolf Lampe. Er kam aus Detmold, also aus der Nähe, und war später Prediger in Bremen. Er betonte besonders die Endzeiterwartung, was ebenfalls typisch für den Pietismus war. Sein Hauptwerk hieß „Geheimnis des Gnadenbundes, dem großen Bundesgott zu Ehren und allen Heilsbegierigen Seelen zur Erbauung geöffnet“. Buchtitel waren damals oft länger als drei Worte, und enthielten so das ganze Programm.
Hier wird ganz klar, dass es um den Gnadenbund und die Endzeiterwartung geht, die Lampe stark betonte.
Ein weiterer Aufbruch kam aus der Schweiz und hängt mit Jean de Labadie zusammen. Er war eine sehr originelle Persönlichkeit der damaligen Zeit. Man würde ihn nicht nur als typisch pietistisch ansehen, aber er entwickelte einige Ideen mit, die dazugehören.
Jean de Labadie lebte von 1610 bis 1674, also gerade vor der Zeit, in der der Pietismus richtig Raum gewann. Er war zunächst Jesuit und kämpfte gegen die evangelische Lehre. Dann bekehrte er sich und wurde calvinistischer Prediger in Genf, also Mitglied der reformierten Kirche. Das gefiel ihm aber nicht, weshalb er in Genf eine eigene Gemeinde gründete, die er als Modell der Jerusalemer Urgemeinde ansah.
In dieser Gemeinde sollten nur Laien sein, also keine offizielle Kirche mehr. Er meinte, das Problem der Kirche sei der Pfarrerstand, da die Pfarrer zu wenig fromm und vorbildlich seien. Deshalb sollte man auf Pfarrer verzichten. Er forderte eine klosterähnliche Ausbildung der Theologen, die nicht primär akademisch, sondern in einem Kloster persönliche Frömmigkeit formen sollten.
Diese Ideen finden wir später auch bei Spener wieder. Es sollten Privatversammlungen stattfinden, man sollte sich täglich zweimal treffen und sonntags sogar dreimal, um das Wort Gottes zu hören. Diese Praxis wurde später in pietistischen Gemeinschaften übernommen.
Die Kirche sollte die Gemeinschaft der Erwählten sein, also alle, die von Gott erwählt sind, und das zeigte sich im frommen Leben. Das spiegelt das reformierte Erbe wider. 1670 wurde Labadie des Landes verwiesen, weil die reformierte Kirche das nicht akzeptierte.
Zwischenzeitlich führte er in seiner Gemeinde noch einige besondere Punkte ein, zum Beispiel die Gütergemeinschaft. Das hatten schon andere Gruppen wie die Hüterer bei den Mennoniten praktiziert. Dabei gab jeder sein Eigentum ab, und alles gehörte allen gemeinsam. Das war der Kirche eher suspekt, weshalb man ihn aus dem Land verwies.
Er zog nach Herford in die Gegend und baute dort seine Gruppe auf. Die Lage spitzte sich zu, als er eine besondere Art der Geistestaufe einführte, die einen höheren Grad der Geistlichkeit und Christlichkeit ausdrücken sollte. Wer diese Geistestaufe erfuhr, hatte besondere Verzückungen, geriet außer sich, jauchzte, sprang, tanzte, küsste, führte heilige Ehen und hatte Visionen.
Diese heiligen Ehen waren eine Besonderheit Labadies. Er sagte, dass diejenigen, die diesen höheren Grad der Geistestaufe erreicht hätten, wenn sie heirateten und Kinder bekämen, sündlose Kinder zur Welt brächten. Diese Kinder seien eine neue heilige Generation, die das zukünftige Reich Gottes auf Erden vorbereite.
Schließlich wurde Labadie auch aus Herford verwiesen. Er zog nach Hamburg, war dort aber nur kurz tätig. Kurz darauf starb er, und der Rest seiner Gemeinde zog sich nach Holland zurück, wo es damals relativ große Toleranz und Religionsfreiheit gab.
Der letzte, den ich als Person nennen möchte, die den Pietismus vorbereitet hat, ist Gerhard Tersteegen. Er hat auch einige Lieder gedichtet, die bis heute im Gesangbuch bekannt sind. Er war nicht so sehr ein großer Prediger, sondern wirkte mehr durch sein Leben.
Tersteegen lebte von 1697 bis 1769. Er betonte stark das innere Wachstum des Gläubigen und wollte sich von der Welt distanzieren. Deshalb gab er bald seine Berufstätigkeit auf und zog sich zurück. Einige seiner Freunde kauften ihm ein Haus, in dem er als Einsiedler in absoluter Einsamkeit lebte.
1724 verschrieb er sein Leben mit seinem eigenen Blut seinem Herrn Jesus Christus. Er war also auch für Dramatik empfänglich. Er legte sich feste Lebensregeln zu: stille Arbeit, Gebet, Fasten, Bibelbetrachtung – das war sein ganzer Tagesablauf.
Mit der Zeit schlossen sich einige an, die bei ihm wohnten, eine Art klostermäßige Gemeinschaft. Er verfasste ein Büchlein mit dem Titel „Geistliches Blumengärtlein inniger Seelen“, erschienen 1729, das prägend für die späteren Pietisten war.
Diese Literatur der genannten Personen wurde von den Pietisten gelesen; sie nahmen bewusst Ideen auf. Man kann nicht mehr von bloßen Ähnlichkeiten sprechen, diese Bücher standen auch in ihren Regalen. Unter anderem auch das Werk von Tersteegen.
In diesem Werk findet man unter anderem das Lied „Gott ist gegenwärtig“, das bis heute weit verbreitet ist. Gegen Ende seines Lebens verfasste Tersteegen auch eine kleinere Schrift mit dem Titel „Auserlesene Lebensbeschreibungen heiliger Seelen“. Darin sind kurze Biografien von Mystikern aus dem Mittelalter und von Predigern seiner Zeit, die er seinen Lesern als Vorbilder vor Augen führen wollte. So sollte man handeln und leben.
Das war es soweit zu Tersteegen. Nun möchte ich zu Spener kommen und ihn etwas näher vorstellen.
Bevor ich das mache, könnten wir eine kleine Pause machen oder noch auf Fragen eingehen, die sich bisher gestellt haben. Falls nicht, erlaube ich mir noch, bevor wir die Pause machen, euch etwas zum Nachdenken zu geben.
Ich habe hier eine Kopie aus einem Kirchengeschichtsbuch gemacht. Ihr müsst das nicht alles lesen, ich werde es gleich vorlesen. Ich fand es besonders gut als Beschreibung dessen, was typisch für den Pietismus ist.
Das braucht etwas Konzentration, denn der Autor beschreibt es nicht immer mit einfachen Worten, sondern etwas komplex. Dennoch: Hier sind einige Punkte, die für alle Pietisten gemeinsam sind. Man kann daran sehen, dass manche dieser Überzeugungen bis heute unsere Gemeinschaft prägen.
Was ist typisch für die Pietisten?
Sie setzen sich ein für eine personale, durch den Heiligen Geist bewirkte Erfahrung des Heils und fromme Innerlichkeit – Biografie und Briefwechsel – gegen eine Heilswahrheit als objektive institutionelle Satzung.
Das klingt etwas kompliziert, aber vielleicht lässt es sich so erklären: Das Personale, der Heilige Geist, spielt eine starke Rolle, ebenso die Erfahrung des Heils. Wenn dann gesagt wird „gegen Heilswahrheiten als institutionelle Satzung“, meint der Autor die gefestigte lutherische Kirche zu jener Zeit, die sagte: „Du hast die Sakramente, jetzt bist du gerettet.“ Die Pietisten sagen: Nein, so kann es nicht sein. Sakramente sind gut, sie lehnten sie nie ab, aber es braucht dazu noch die willentliche Annahme, die persönliche Erfahrung des Heils. Sonst bringen die Sakramente nichts.
Das wurde im Pietismus entwickelt und ist der Kern. Deshalb werden im Pietismus gerade Biografien, insbesondere Autobiografien und Briefwechsel, außerordentlich betont.
Wenn man in der deutschen Literatur nachschaut, merkt man, dass Autobiografien in großer Menge erst in der Zeit des Pietismus aufkommen und sich bis heute durchziehen. Heute schreiben nicht nur fromme Pietisten Autobiografien, sondern alle möglichen Leute – manche aus finanziellen Gründen oder um ihre Position darzustellen.
Aber wenn das Erlebnis mit Gott, die Beziehung zu Gott das Zentrum ist, schreibt man weniger dogmatische Werke, sondern mehr darüber, was man erlebt und erfahren hat. Das drückt sich in Autobiografien oder Briefwechseln aus, in denen man sich austauscht. Das ist typisch pietistisch.
Wenn ich das vorstelle, ist das noch keine Wertung, denn bei manchen Punkten gibt es Probleme, aber auch große Stärken.
Zweiter Punkt: Sie setzen sich ein für gemeinschaftliche Unternehmungen der Wiedergeborenen als Früchte des Glaubens gegen rechtgläubige Schultheologie als Lehrsystem.
Martin Schmidt, ein bedeutender Kirchenhistoriker, schreibt dazu: „Die Echtheit des Glaubens wurde wichtiger als die Wahrheit des Glaubens.“
Etwas einfacher ausgedrückt heißt das: Glaube muss aktiv werden, Glaube muss sichtbar werden im Handeln der Gläubigen. Deshalb zeichnet sich der Pietismus dadurch aus, dass Sozialwerke gegründet wurden, bei Franke Schulen, Armenhäuser und Waisenhäuser.
Wenn man Christ ist, muss sich das im Verhalten zeigen. Besonders in gemeinschaftlichen Unternehmungen der Wiedergeborenen. Diese Unternehmungen dienen nicht der Erlösung, hier ist nicht der mittelalterliche Werkgedanke, dass gute Werke die Zeit im Fegefeuer verkürzen. Hier ist der Gedanke: Weil ich gerettet bin, tue ich das. Das muss zum Christsein dazugehören.
Pietisten betonen stark, dass es nicht reicht, erlöst zu sein und dann weiterzuleben wie bisher. Wer erlöst ist, muss das auch im Leben zeigen, besonders in gemeinsamen Unternehmungen.
Sie wenden sich gegen die Theologie der Rechtgläubigkeit als Lehrsystem, also gegen die orthodoxe Betonung: „Wenn du glaubst, Jesus ist gestorben und auferstanden, ist alles okay.“ Nein, das Leben muss stärker mit einbezogen werden.
Martin Schmidt bringt die Zwiespältigkeit dieser Position auf den Punkt, wenn er sagt, die Echtheit des Glaubens sei wichtiger als die Wahrheit des Glaubens.
Heute könnten wir fragen: Was ist wichtiger, Echtheit oder Wahrheit? Eigentlich beides. In der Kirchengeschichte entwickelt sich vieles wie ein Pendel: Eine Generation betont eine Wahrheit besonders, die nächste erkennt die Einseitigkeit und neigt dazu, das Gegenteil zu stark zu betonen.
Vorher wurde in der lutherischen Orthodoxie sehr die Wahrheit betont, also die richtige Dogmatik. Die Dogmatik, also die systematische Lehre der Bibel, ist wichtig. Zahlreiche Sekten entstehen, weil die Glaubenswahrheit nicht ernst genommen wird.
Nehmen wir die Zeugen Jehovas: Wir bezeichnen sie nicht als Sekte, weil ihnen die Innigkeit fehlt oder weil sie zu wenig in der Bibel lesen. Sie lesen mehr als manche andere Christen, aber sie machen in der Dogmatik einige außergewöhnliche Fehler, zum Beispiel bei der Person Jesu oder der Erlösung.
Die Wahrheit spielt also eine Rolle. Da der Pietismus diese Ausrichtung hat, entstanden auch sektiererische Bewegungen, die wir noch besprechen werden. Es ist also nicht alles gut gelaufen.
Auf der anderen Seite: Wenn jemand intellektuell nur sagt „Das ist wahr, das ist wahr“, hätten viele Probleme, ihn als wahren Christen anzusehen. Jakobus weist darauf hin, dass sogar Dämonen die Wahrheit kennen, aber dadurch nicht gerettet werden.
Allein das Wissen um die Wahrheit rettet nicht, sondern erst der persönliche Bezug zur Wahrheit, also die Echtheit.
Nächster Punkt: Sie setzen sich ein für eine von Gott inspirierte Bibel als Quelle und Norm des gottseligen Lebens gegen einen juridischen Vorrang der reformatorischen Bekenntnisse.
Das heißt: Die inspirierte Bibel ist die Quelle und Norm des gottseligen Lebens. Es geht nicht nur darum, die Bibel zu studieren und zu sagen „Sie ist wahr“, sondern sie soll Maßstab für das eigene Leben sein. Das war das Neue im Pietismus.
Das andere haben sie von der Orthodoxie übernommen, die die Inspirationslehre hervorragend formulierte. Aber bei der Orthodoxie hatte das oft keine Auswirkung auf das tägliche Leben. Die Pietisten sagten: Wir müssen die Bibel lesen, uns von ihr prägen lassen, und sie muss unser Leben prägen.
Das, was unten steht, ist eine Kritik an der damaligen lutherischen Lehre, die manchmal die Bekenntnisschriften aus pietistischer Sicht wichtiger nahm als die Bibel selbst. Die Bibel wurde durch die Brille der Bekenntnisschriften gelesen. Dagegen wehren sich die Pietisten.
In diesem Sinne waren die Pietisten, würden wir heute sagen, ökumenischer. Im Pietismus waren die Grenzen zwischen den Konfessionen nicht so streng gesetzt, vorausgesetzt, man hatte diesen Bezug zur Bibel und zur persönlichen Frömmigkeit.
Der nächste Punkt: Sie setzen sich ein für eine durch den Heiligen Geist verbundene Liebesgemeinschaft der Wiedergeborenen in der ganzen Christenheit gegen eine konfessionell und territorial bestimmte Volksgerichtlichkeit.
Das ist der Punkt, den ich erwähnt habe: Die Konfession spielte keine so wichtige Rolle. Zinzendorf konnte später nach Paris gehen und eine lebenslange Freundschaft mit einem katholischen Kardinal schließen, ohne große Probleme. Er sagte: Er ist fromm und liebt Jesus, ich liebe Jesus auch, und dann gibt es keine Schwierigkeiten.
Deshalb konnte man auch mystische Schriften aus dem Mittelalter lesen, obwohl sie katholisch waren, ohne Probleme, weil die Echtheit des Glaubens spürbar war und nicht die äußeren dogmatischen Formeln.
Das soll zeigen, dass der Pietismus eigentlich eine konfessionsübergreifende Bewegung war, ebenso wie die Erweckungsbewegung. Wenn ein katholischer Priester erweckt war und predigte, kamen auch Evangelische, um zuzuhören.
Dann: Sie setzen sich ein für das allgemeine Priestertum der Wiedergeborenen gegen die Herrschaftsstruktur in der Amtskirche, also gegen die Staats- und Amtskirche.
Das allgemeine Priestertum bedeutet, alle sollen die Bibel lesen. Das war damals neu. Heute ist das selbstverständlich. Wir treffen uns in Haus- oder Bibelkreisen, was damals verpönt oder verboten war.
Wir werden noch sehen, dass die Pietisten dafür kämpfen mussten, sich privat zum Bibellesen zu treffen. Manche wurden dafür ins Gefängnis geworfen.
Das lag auch daran, dass man befürchtete, Laien könnten durch das Lesen der Bibel falsche Interpretationen oder sektiererisches Lernen vertreten. Das ist zum Teil gerechtfertigt.
Viele Sekten entstanden, weil Menschen die Bibel selbst lasen, sie aber falsch verstanden. Die Zeugen Jehovas hießen anfangs „Ernste Bibelforscher“ beim Bibellesekreis in den USA. Sie ließen sich aber nicht mehr korrigieren, und die Auffassung von Charles T. Russell wurde zur einzigen Lehre.
Ähnlich ist es bei der Neuapostolischen Kirche, den Mormonen und anderen Gruppen. Hier also das allgemeine Priestertum: Jeder soll die Bibel lesen und Glauben ausüben.
Dann noch drei Punkte:
Sie setzen sich ein für die Ernstnahme der Differenzierung des menschlichen Lebens nach Geschlechtsalter, für die Entdeckung des Kindes in der Pädagogik und für gesellschaftliche Funktionen des Menschen gegen eine Evangeliumspredigt, die den einzelnen nur als theologisches Abstraktum „Sünder gerechtfertigter“ zum Glauben ruft.
Die Entdeckung der Kindheit ist typisch für den Pietismus, weshalb auch Simon Franke eine wichtige Rolle spielt. Wir werden auch bei Zinzendorf sehen, dass erstmals Frauenstunden eingeführt wurden. Es gab Frauen, die gemeinsame Interessen und Lebensfragen hatten, die behandelt wurden.
Man erkannte, dass der Mensch nicht nur Sünder und gerechtfertigt ist, sondern Mann, Frau, Alt, Jung, Kind, Erwachsener. Das wurde im Pietismus entdeckt und berücksichtigt.
Dann: Sie setzen sich ein für eine Weltentsagung von der Mystik bis zur innerweltlichen Askese gegen Weltfreude und Weltfrömmigkeit.
Sie waren sehr skeptisch gegenüber Vergnügungen, Spiel und Tanz. Das war im 19. Jahrhundert weit verbreitet. Jeder Pietist hatte zuhause ein Bild aufgehängt, das den breiten Weg darstellte.
Der breite Weg zeigte viele Menschen, Kneipen, Tanzhallen, Theater, Jahrmarkt – all das, was Vergnügen darstellt. Am Ende des Weges brennt das höllische Feuer.
Daneben gab es eine Mauer mit einem kleinen Tor, durch das man auf einen schmalen Weg gelangte, der bergauf zum himmlischen Jerusalem führte. Dort waren nur wenige, die beteten und sich versammelten.
Das drückt sehr deutlich aus, dass man skeptisch gegenüber den Vergnügungen der Welt war, weil viele dadurch vom Glauben abgelenkt werden.
Deshalb betont der Pietismus stark: Halte dich von der Welt und ihren Vergnügungen fern. Das prägt den Pietismus bis heute.
Zum Teil bewahrte das die Pietisten vor falschen Wegen und Handlungen. Andererseits führte es manchmal zu überempfindlichen Reaktionen, die nach außen seltsam wirkten, weil Außenstehende nicht verstanden, worum es ging.
Pietisten waren oft gegen alles, was neu war oder den Eindruck von Vergnügen machte.
Ein Beispiel: Am Anfang des 20. Jahrhunderts, als das Radio erfunden wurde, gab es pietistische Schriften, die sich stark dagegen wehrten und das Radio als vom Teufel stammend bezeichneten.
Man zitierte das Neue Testament, in dem steht, der Teufel herrsche im Luftraum. Da Radiowellen durch den Luftraum gingen, müsse das Radio vom Teufel verseucht sein.
Heute ist das in pietistischen Kreisen nicht mehr so verbreitet, aber es zeigt, wie man damals generell gegen Neues und Vergnügungen skeptisch war.
Das war damals berechtigt, weil überbordende Lebenslust oft vom Glauben wegführte.
Zum Schluss: Sie setzen sich ein für den Anbruch des Reiches Gottes durch eine Reform der Kirche und der weltlichen Stände gegen die Neutralisierung der Parusieverheißung im Pendeln zwischen Erwartung und Verzögerung des Heils.
Das ist theologisch schön ausgedrückt. Vereinfacht gesagt: Sie setzen sich für eine starke Erwartung der Wiederkunft Jesu ein.
Der Pietismus ist gekennzeichnet durch die Naherwartung der Wiederkunft Jesu, also die Überzeugung, in der letzten Zeit zu leben.
Das war auch eine ähnliche Auffassung wie bei Luther. Wenn man bei Luther nachliest, bezeichnet er oft den Papst als Antichristen und erwartet die Bekehrung der Juden und die Wiederkunft Jesu.
In der Orthodoxie ging diese Erwartung etwas verloren, man richtete sich mehr in der Welt ein. Im Pietismus kam diese Ausrichtung neu auf: Jesus kommt bald wieder.
Das war auch einer der Gründe, warum Zinzendorf intensiv die Missionsarbeit vorantrieb. In Matthäus 24 steht, dass vor der Wiederkunft Jesu allen Völkern das Evangelium gepredigt werden muss.
Durch intensive Mission will man die Wiederkunft Jesu beschleunigen. Man erwartete, dass das bald geschieht, in dieser oder der nächsten Generation.
Sie nannten sich oft die Gemeinde von Philadelphia. Philadelphia ist nach der Offenbarung die Gemeinde der Bruderliebe, die ganz am Ende vor der Wiederkunft Jesu kommt.
Gut, jetzt habe ich die Pause ein wenig verschoben. Wir machen jetzt eine Pause. Wer möchte, kann aufstehen, die Toilette besuchen oder Fragen stellen. Danach machen wir noch etwas weiter. Es ist ja bis etwa neun Uhr.