Versöhnungstag
Versöhnungstag (Luther Versöhnetag), hebr. „Tag der Sühnungen“, heißt der große Bußtag in Israel, an welchem der sühnende Opferkultus seinen Gipsel erreicht. Nach 5 Mo. 16,22; 23,25 ist es der zehnte Tag des auch sonst an Festen reichen siebenten Monats. Der Zweck dieses Tages liegt in seinem Namen: er soll für die am Volke oder an den Priestern hangengebliebenen ungesühnten Verschuldungen, namentlich die gegen den hl. Ort und im Kultus unabsichtlich begangenen Verstöße eine allgemeine Sühnung schaffen (3 Mo. 16,16. 19. 30; Hbr. 9,7). Zu dem Ende hin war das Ritual an diesem Tage besonders umständlich, wie es 3 Mo. 16 beschrieben ist. Der Hohepriester hatte nach vorausgegangenem Reinigungs bade zuerst in weißer, schmuckloser Kleidung Sündopfer darzubringen, und zwar ein solches für seine Person und sein Haus (die Priesterschaft), nämlich einen Farren, und sodann ein Sündopfer für das Volk, nämlich einen Bock. Zur letztern Verrichtung stellte er zwei Böcke vor dem Herrn, vor der Türe des Heiligtums dar, und warf das Los über sie. Nach späterem Gebrauch zu schließen, schüttelte er zwei Metallblättchen in einer Büchse und legte unbesehen das eine auf den Bock zu seiner Rechten, das andere auf den zur Linken. Er las dann, indem die Umstehenden sich niederwarfen, die auf jene beiden Blättchen gravierten Aufschriften: für den Herrn“ und „für Asasel“. Der letztere Name ist dunkel, aber nicht mit Luther zu übersetzen: „dem ledigen Bock“; vielmehr ist damit der unreine Dämon der Wüste gemeint. Der erstere Bock nämlich wird dem Herrn als Sündopfer für das Volk dargebracht, der andere in die Wüste hinausgeschickt, nachdem die Missetat der Kinder Israel über ihm bekannt und auf sein Haupt gelegt ist (16,21 f.); er wird in einen abgeschnittenen Wüstenstrich gebracht, aus welchem er nicht zurückkehren kann. Natürlich ist die Meinung nicht, daß damit jenem Dämon ein Opfer gebracht werde, sondern es prägt sich in diesem Verfahren mit dem zweiten Bocke die Idee aus, daß die Sünde und Unreinigkeit des Volkes nicht bloß zugedeckt (gesühnt), sondern auch gänzlich fortgeschafft werden soll. Sie hat innerhalb des hl. Volkes und Landes keine Stätte mehr, sondern soll in der unreinen Wüste bleiben. Über Darbringungsweise und Bedeutung der Sündopfer siehe im Art. Opfer. Das Außerordentliche bei den zwei am Versöhnungstag zu bringenden Sündopfern (Farren und Bock) bestand äußerlich besonders darin, daß sowohl vom einen als vom andern der Hohepriester eine Schale mit Blut ins Allerheiligste zu bringen hatte, um den Gnadenstuhl (s. d. Art.) damit zu besprengen. Von einer schirmenden Weihrauchmolke umgeben, sollte er diesen sonst unnahbaren Ort betreten, und durch Besprengung mit jenem Blute das ganze Heiligtum vom Allerheiligsten bis zum Brandopferaltar im Vorhof von allfälligen Befleckungen reinigen. Dann hatte er die schlichten, leinenen Gewänder auszuziehen, sich wieder zu baden und seinen Ornat anzulegen, um ein doppeltes Brandopfer zu bringen: einen Widder für sich und sein Haus und einen Widder für das Volk. Alles Volk sollte an diesem Tage sich kasteien, das heißt fasten und von jeglichem Werke ruhen (16,29).
Die Idee der Sühnung, welche das ganze Opferwesen des Alten Bundes durchzieht, tritt uns in der Feier dieses Tages am klarsten und in vollendeter Grösse entgegen. Da wird durch ein Gesamtopfer für alle Verschuldungen des Volkes (natürlich soweit diese durch die Gnadenmittel des Alten Bundes sühnbar waren) Sühne gewirkt und für alle Befleckungen des Heiligtums eine Reinigung beschafft. Der Hohepriester, dem der Heiligkeitscharakter in höchstem Grade eigen ist, tritt dabei in den allerheiligsten Raum. Bildete so dieser Tag den Höhepunkt des Opferkultus, so ist auffällig, daß er im Alten Testament abgesehen von 3 Mo. 16 nirgends deutlich erwähnt wird. Daß er eine erst nachexilische Schöpfung war, läßt sich freilich daraus nicht folgern. Hingegen scheint er in vorexilischer Zeit mehr ein Fest der Priesterschaft gewesen zu sein. In besonderem Maße ist dieser Ritus des Versöhnungstag für das neutest. Versöhnungswerk vorbildlich. Der Verfasser des Hebräerbriefes hat bei seiner Vergleichung zwischen Jesu Christo und dem Hohepriester Aaron namentlich den Versöhnungstag vor Augen und weist darauf hin, wie Christi Werk mit dieser wichtigen hohepriesterlichen Verrichtung Ähnlichkeit habe, sie aber weit übertreffe, Hbr. 9,7 ff. 12 ff. 24 ff. Auch Apg. 27,9 ist mit dem Fasttage der Versöhnungstag gemeint.