Dichtkunst
Dichtkunst war bei den alten Israeliten zu allen Zeiten heimisch. Die Bibel hat uns zahlreiche Proben heiliger Poesie erhalten, aber auch solche, aus denen wir die sonstige nationale Dichtungsweise jenes Volkes kennen lernen können. Wie andere Völker, hat auch das in besonderem Maße dichterisch angelegte Israel Waffentaten und friedliches Hirtenleben besungen, den Empfindungen der Minne wie der Trauer um Tote in Liedern Ausdruck verliehen. Seine edelsten und großartigsten Gesänge aber sind ein Widerhall, den die göttlichen Offenbarungen aus der Brust der Frommen hervorgerufen haben.
Um die Form der hebräischen Poesie zu verstehen, muß man beachten, daß dieselbe ursprünglich mit Musik u. Tanz verwachsen war (vgl. 2 Mo. 15,20 f.). Zwar zeigt sich die hebr. Dichtung nicht an ein so strenges Maß von abgezählten Versfüßen (regelrecht zusammengestellten kurzen und langen Silben) gebunden, wie die arabische, sanskritische, griechische 2c., auch nicht an den Reim, wie im allgemeinen die modernen Dichtungsarten, noch an den Stabreim, wie die altdeutsche und altnordische Poesie, indem Reim u. Stabreim bei den Hebräern nur zu freier Ausschmückung verwendet werden. Aber in einem musikal. Takt, einer Melodie, bewegte sich zweifelsohne das hebräische Lied. Dasselbe zerfällt in Verszeilen mit mehr oder weniger gleichmäßigen Hebungen und Senkungen. Deutlich läßt sich noch erkennen, daß man die Paarung zweier solcher Zeilen zu einen Verse liebte. Es ist das der sog. Parallelismus, wobei sich jene beiden Zeilen symmetrisch zueinander verhalten, zum Beispiel Ps. 8,5: a) Was ist der Mensch — daß du sein gedenkest, b) Und des Menschen Kind — daß du sein dich annimmst! Doch können auch drei Zeilen parallel laufen, zum Beispiel Ps. 1,1: a) Wohl dem Manne, der nicht wandelt im Rate der Gottlosen, b) und auf den Weg der Sünder sich nicht stellt, c) und wo die Spötter sitzen, sich nicht setzt. Das logische Verhältnis der parallelen Glieder zueinander ist dabei ein verschiedenes. In den angeführten Beispielen wird wesentlich derselbe Gedanke in verschiedenen Worten wiederholt ausgesprochen, was namentlich in den Psalmen gewöhnlich ist, da in dieser Lyrik die tiefe Empfindung sich bei einmaliger Aussprache nicht beruhigt und erschöpft. Anderswo bildet die zweite Verszeile einen Gegensatz zur ersten, so besonders häufig in den Lehrsprüchen, zum Beispiel Spr. 10,1; 14,4 usf.: a) Ein weiser Sohn — ist seines Vaters Freude, b) Aber ein törichter Sohn — ist seiner Mutter Grämen. Bei Gleichnissprüchen enthält oft das eine Glied das Bild, das andere die Anwendung, zum Beispiel Spr. 25,25: a) Kaltes Wasser auf eine lechzende Seele — b) Und eine frohe Kunde aus fernem Lande will sagen: diese beiden gleichen einander. In noch anderen Fällen findet keine logische Symmetrie statt, sondern nur eine rhythmische, zum Beispiel Ps. 2,6: a) Ich aber habe eingesetzt meinen König b) Auf Zion, meinem heiligen Berge! Der Umfang der hebräischen Lieder ist ein sehr verschiedener. Gebräuchlich waren nicht nur zweizeilige Sprüche, sondern auch Lieder von bloß zwei Zeilen, welche, wie dies heute noch im Morgenlande vorkommt, endlos wiederholt wurden. Siehe zum Beispiel 1 Sa. 18,7. Letzteres gilt auch von so kurzen Gesängen wie 4 Mo. 21,18, dem Brunnenlied aus Moses Zeit (s. Art. Beer), oder 2 Sa. 3,33 f., dem Trauerlied Davids um Abner. In der Regel aber erfuhren Lieder von Bedeutung einen weiteren Ausbau (vgl. das Lied am Schilfmeer, 2 Mo. 15, das Deboralied, Ri. 5, usw.). Dabei lösten sich wohl verschiedene Chöre oder Einzelstimmen u. Chor ab. Darauf mag deuten, daß Ri. 5,1 Debora und Barak als dichtende Sänger genannt sind; noch bestimmter 2 Mo. 15,1 verglichen mit V. 21, sei es daß Mirjam mit dem Frauenchor jeden von Mose und den Söhnen Israels gesungenen Vers wiederholten, oder daß sie den Kehrvers (21) jeweilen einschalteten. Der Kehrvers oder Refrain findet sich überhaupt nicht selten in der hebr. Poesie. Vgl. zum Beispiel Ps. 42,6. 12; 43,5(42 u. 43 bildeten ursprünglich Ein Lied), meist mit gewissen Variationen. Dieser Kehrvers wie andere formale und sachliche Anzeichen führen mit Bestimmtheit darauf, daß solche größere Lieder in Strophen zerfielen, wenn es auch jetzt, wo wir die dazu gehörige Musik nicht mehr kennen, nicht mehr möglich ist, dieselben sicher überall zu ermitteln, und auch in der Ausdehnung und dem Bau dieser Strophen eine gewisse Freiheit die hebr. Poesie vor andern auszeichnete.
Zwei Hauptarten von Dichtung sind bei den Hebräern zu unterscheiden: Lied (hebr. schîr) und Spruch (hebr. mâschâl). Sie entsprechen den beiden hervorstechenden Zügen der semitischen Geistesanlage, welche innige Wärme des Gefühls mit einem gewissen Scharfsinn in der Auffassung und entsprechender Gewandtheit in der Prägung des Ausdrucks vereinigt. Zur ersteren Gattung, dem Lied, der Lyrik im engeren Sinn, gehören die Krieges- und Siegeslieder, Liebeslieder, Klagelieder, besonders aber die relig. Hymnen oder Psalmen. Der tiefempfindende König David galt auf diesem Gebiete als der fruchtbarste Genius, auf dem anderen der weise, sinnige Salomo. Dieser mochte dabei durch die Weisen der Nachbarstämme angeregt sein. Denn die östlichen Beduinen wie die Edomiter galten den Israeliten als Meister in der Spruchdichtung (vgl. zum Beispiel das Buch Hiob). Diese pflegten vor allem den Denkspruch, die körnige, gut gemünzte, scharf treffende, dem Gedächtnis tief und fest sich einprägende (vgl. Pr. 12,11) Sentenz. Besonders beliebt ist der Gleichnisspruch. Das Gleichnis kann auch weiter ausgeführt werden. Neben der Parabel erscheinen die Fabel (Ri. 9,8 ff.), die Allegorie (Jes. 5,1 ff.; Hes. 16,3 ff.) usw. Zweck dieser Redekunst oder Spruchweisheit ist in der Regel die Belehrung, oft aber auch die ergötzliche Unterhaltung, wie denn auch das Rätsel (Ri. 14,14; 1 Kö. 10,1) und das Spottgedicht oder Epigramm dahin gehören. Wie schon Simsons Beispiel zeigt, übte sich der Volkswitz in solchen Sprichwörtern (vgl. Ri. 14,18, wozu der Art. Kalb zu vergleichen und das Wortspiel 15,16, welches darauf beruht, daß Haufe und Esel im Hebräischen fast ganz gleich lauten). In den Kreisen der Weisheitskundigen aber, wie sie besonders seit Salomo sich bildeten, und in den Schulen, wo jene die reifere Jugend unterwiesen, wurde der Sinnspruch mehr kunstmäßig gepflegt und auch zu umfänglicheren Lehrgedichten erweitert, wie das Buch der Sprüche Salomos zeigt. Ein großartiges Lehrgedicht dieser Art ist das Buch Hiob, ein späteres Erzeugnis der hebräischen „Weisheit“ der „Prediger Salomo“. Daß in noch späterer Zeit die Spruchweisheit und didaktische Dichtung weiter gepflegt wurden, beweisen die apokryphischen Bücher des Jesus ben Sirach und der „Weisheit Salomonis“.
So ist die Poesie der Hebräer vorwiegend lyrisch und didaktisch. Epos und Drama im klassischen Sinne finden sich hier nicht. Zwar zeigen einzelne Psalmen dramatische Anlage, indem darin verschiedene Stimmen sich ablösen (vgl. zum Beispiel Ps. 2 u. 24), und dasselbe ist namentlich beim Hohenliede der Fall, wo auch die Szenerie wechselt. Aber zu eigentlicher Aufführung durch Schauspieler war dasselbe nicht bestimmt, eher zu musikalischem Vortrag; vielleicht ist es aber auch bloßes Kunstgedicht. Dies gilt jedenfalls vom Buche Hiob, das dem Begriff eines Schauspiels wenig entsprechen würde.
Der ästhetische Wert der hebräischen Poesie ist in neuerer Zeit, besonders seit J. G. Herder, besser gewürdigt worden als früher. Schon als nationale Dichtung angesehen, darf sie einen hohen Rang in der Literaturgeschichte beanspruchen. Solche Stücke wie 2 Mo. 15, Ri. 5, 2 Sa. 1,19ff., Ps. 68 und viele andere Gesänge der Bibel werden an Schönheit der Form von keinem altgriechischen oder modernen Gesang übertroffen. Allein der tiefere Wert dieser Dichtungen liegt darin, daß sie zeigen, wie diese Kunst im Dienste des wahren Gottes ihre höchste Bestimmung erfüllt und ihre Vollendung erreicht. Wenn der Geist Gottes die Männer Gottes im A. B. erfüllte, da hat sich wie der Inhalt so die Form ihrer Rede über das Alltägliche erhoben und die poetische Schönheit diente als das würdige Gefäß der prophetischen Begeisterung. So sind manche Weissagungen, wie schon der Segen Jakobs (1 Mo. 49) und die Sprüche Bileams, zugleich Perlen der Poesie. Ebenso zeigen die Gebete und Lieder die würdigste Verwendung dieser edlen Gottesgabe.
Im Neuen Testament finden wir Nachklänge der alttest. Poesie in dem Lobgesang der Maria, Luk. 1,46 ff., und dem des Zacharias, Luk. 1,68 ff. Die Gleichnisrede wird in den Evangelien mit vollendeter Meisterschaft gehandhabt. Im allgemeinen aber entbehrt das Neue Testament des nationalen poetischen Schmuckes, das göttliche Wort tritt hier in größter Schlichtheit auf, ja in unscheinbarer Knechtsgestalt. Es fehlt auch hier noch ein dem alttestamentlichen entsprechendes Psalmbuch der christlichen Gemeinde. Dasselbe setzt sich erst aus Liedern aller Zungen zusammen und wird droben seine Vollendung finden (vgl. die Artt. Psalmen, Hiob, Hohes Lied, Sprüche).