Passion

Das Gleichnis von den Weingärtnern
Konrad Eißler
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Rebellion oder Provokation? Das Gleichnis von den Weingärtnern ist Evangelium. Hier geht es um Passion. Der Weinbergbesitzer leidet, die Weinbergarbeiter leiden, die Weinbergboten leiden, alle leiden, aber am meisten leidet der Sohn - an uns, durch uns und für uns. - Predigt aus der Stiftskirche Stuttgart


[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]

Das ist Rebellion! So sagt der Weinbergbesitzer. Denken Sie bei ihm nicht an einen Steuerflüchtling, der durch Grundstücksverlagerung ins Ausland den lästigen Fiskus austricksen wollte, so wie die Fußball- und Fernsehgrößen in Deutschland. Denken Sie bei ihm nicht an einen Spitzenverdiener, der seinen Immobilienbesitz in der Form einer Großtierranch in der afrikanischen Prärie oder einer Bananenfacienda in der brasilianischen Serra mit einem Weinberg in der judäischen Provence arrondieren wollte. Denken Sie bei ihm erst recht nicht an einen Naturapostel, der nach uralt Rousseau’schen Muster “retour à la nature”, zurück in die Natur, sich zwischen Weinstöcken und Weinbergschnecken verwirklichen wollte. Dieser Weinbergbesitzer ist Philanthrop, Menschenfreund, der für die Lebensqualität seiner Leute kräftig investiert. Er sorgt für ihre Arbeit, deshalb pflanzt er einen Weinberg. Er sorgt für ihren Schutz, deshalb zieht er einen Zaun hoch. Er sorgt für ihren Ver­dienst, deshalb baut er eine Kelter. Er sorgt für ihre Wohnung, des­halb baut er einen Turm. Er sorgt für alles. Es gibt überhaupt nichts, für das dieser Herr nicht sorgen wollte. Der Psalmdichter liegt mit seiner Erfahrung goldrichtig: “Der Herr sorgt für mich.” Der Wein soll blühen, und dann blüht der Hass. Der Wein soll reifen, und dann reift die Gewalt. Der Wein soll fließen, und dann fließt das Blut. Die Weinberganlage wird zur Befestigungsanlage umfunktioniert. Das ist Rebellion! So muss der Weinbergbesitzer sagen.

Aber im Weinberg wird etwas ganz anderes gesagt. Das ist Provokation! So sagen die Weinbergarbeiter. Denken Sie bei ihnen nicht an ein paar Faulenzer, die durch langsames Arbeiten die schnelle Mark machen wollen. Denken Sie bei ihnen auch nicht an ein paar Schlauberger, die sich mit einem krummen Ding diese Goldgrube unter den Nagel reißen wollen. Denken Sie erst recht nicht an ein paar Mafiosis, die subversiv und aufwieglerisch den Besitzer aushebeln wollen. Diese Weinbergarbeiter sind stramme Männer, die ohne Rücksicht auf eine 38-Stunden-Woche zur Sache gehen. Das Unkraut verschwindet, das Ausgegeizte verbrennt, die Reblaus hat keine Chance. Riesling, Traminer, Ruländer, Müller-Thurgau reifen zum Prädikatswein. Und für diese Schufterei sollen wir noch bezahlen?, schimpfen die Weingärtner. Die Arbeit wird niedergelegt. Eine Open-air-Betriebsversammlung findet statt. Der Vorarbeiter macht sich zum Sprecher der Aufgebrachten: “Wir haben Schweiß vergossen. Wir haben Stöcke veredelt. Wir haben die ganze Anlage in Schuss gebracht. Der gute Tropfen geht auf unser Konto. Und dafür werden wir zur Kasse gebeten, Genossen. Die einen dienen und die andern verdienen. Die einen rackern sich ab, und die andern schieben die ruhige Kugel. Die einen kriegen einen krummen Buckel und die andern einen dicken Geldbeutel. Nicht mit uns. Weingärtner aller Länder, vereinigt euch.” Das ist Provokation! So müssen die Weinbergarbeiter sagen.

Rebellion oder Provokation? Was sagen wir? Je nach Parteibuch könnten wir uns auf die eine oder andere Seite schlagen, aber damit hätten wir nur eine sozialkritische Studie aufgeschlagen und nicht die Bibel. Das Gleichnis von den Weingärtnern ist Evangelium. Hier geht es weder um Rebellion noch um Provokation, sondern um Passion. Das Leiden steht in der Mitte. Der Weinbergbesitzer leidet, die Weinbergarbeiter leiden, die Weinbergboten leiden, alle leiden, aber am meisten leidet der Sohn. Die Passion Jesu ist das Thema. “Herr, stärke mich, dein Leiden zu bedenken”, darum geht es. Und dazu werden uns drei Gesichtspunkte genannt.

1. Er leidet an uns

Der Sohn bekommt das ganze Drama mit, das sich im Vaterhaus abspielt. Nach fünfjähriger Laufzeit des Vertrags, so die damals übliche Regelung, sollen die Weingärtner den Natural­zins abgeben, einen Bottich Trauben, ein Fass Most, eine Kiste Wein, ein Zeichen ihrer Abhängigkeit und Dankbarkeit. Deshalb wird ein Bote weggeschickt, aber er kommt mit blauen Beulen zurück: “Herr, sie haben mir nur eine Tracht Prügel gegeben. Das kannst du dir nicht gefallen lassen.” Aber der Vater lässt es sich gefallen. Die Faustregel “do ut des”, “wie du mir, so ich dir”, ist ihm fremd. Wo sie nach Gewinn streben, sucht er nach Liebe. Deshalb wird ein zweiter Bote losgeschickt, aber er meldet sich mit verblutetem Kopfverband zurück: “Herr, sie haben mir den Schädel eingeschlagen. Das kannst du dir nicht bieten lassen.” Aber der Vater lässt sich das bieten. Der Satz von Thomas Mann: “Wer am meisten liebt, muss am meisten leiden”, trifft auf ihn zu. Wo sie nach Macht streben, zeigt er die Ohnmacht. Deshalb wird ein dritter Bote hingeschickt, aber der kommt gar nicht mehr zurück. Stattdessen galoppiert ein Kurier in den Hof und überbringt die Todesnachricht. Jetzt müsste der Sohn rot anlaufen: “Vater, es reicht.” Jetzt müsste der Sohn auf den Tisch hauen: “Vater, es ist genug.” Jetzt müsste der Sohn ultimativ fordern: “Vater, eine Strafexpedition ist fällig.” Aber der Sohn haut und schreit und fordert nicht, sondern er leidet. Er leidet am Menschen, dem für Arbeit gesorgt ist und der so tut, als ob das alles Mühe und Stress sei. Er leidet am Menschen, dem für Schutz gesorgt ist, und der so tut, als ob er nicht darauf angewiesen wäre. Er leidet am Menschen, dem für Wohnung gesorgt ist und der so tut, als ob er das selber geschafft habe. Er leidet an uns, die wir von seiner grenzenlosen Fürsorge leben und nicht bereit sind, dafür Zins zu geben, ein Zeichen unserer Abhängigkeit und Dankbarkeit. Der Bote Jeremia hat daran erinnert, aber er verscholl nach gewaltsamer Entführung in Ägypten. Dann hat der Bote Sacharja daran erinnert, aber er starb unter dem Steinhagel vor dem Tempel. Dann hat der Bote Johannes daran erinnert, aber sein Kopf rollte vom Schafott des Henkers. Dann haben noch viele Boten daran erinnert, eine Endlosliste der unvorstellbaren Geduld des Vaters, aber alle Liebesmühe war vergebens. Der Stolz des Prometheus schlug der Liebe Gottes entgegen: “Habe ich nicht alles selbst vollendet, heilig, glühend Herz.” Und Jesus sagt nicht: “Vater, lass die Erde beben wie in Kobe, lass die Flüsse überlaufen wie am Rhein, lass die Vulkane spucken wie am Pinatubo. Wenn sie zum Teufel gehen wollen, dann jage sie dorthin!” Jesus sagt leidend: “Vater, ich gehe.” Das ist das Zweite:

2. Er leidet durch uns

Der Evangelist Markus hält gleichsam den Atem an, als er zum Federkiel greift und die Geschichte weiter­ erzählt. “Da hatte der Vater noch einen, seinen geliebten Sohn.” Da hatte der Vater nicht noch einen zweiten, da hatte der Vater nicht noch einen Dritten in der Hinterhand. Ein alt gewordener Mann zeigte mir das Foto eines jungen Soldaten. Mit der Gefallenenmeldung aus dem Stalingrader Kessel war es bei ihm angekommen. Wie ein Heiligenbild lag es auf seinem Tisch. Dann sagte er mit tiefstem Schmerz und nach 50 Jahren mit nicht nachlassender Trauer: “Herr Pfarrer, das war mein Einziger.” Jesus war der Einzige. Ohne ihn ist der Himmel leer. Ohne ihn ist die Erde wüst. Ohne ihn fehlt das Herzstück des Vaters. Aber Jesus geht. Kein Leibwächter schützt ihn. Kein Gesandter begleitet ihn. Kein noch so winziges Abzeichen weist ihn als Sohn des Höchsten aus. Mutterseelenallein geht er durch unsere Reihen: Der Vater hat dir so viel Liebe gegeben, in deiner Freundschaft, in deiner Familie, wo bleibt denn die Frucht dieser Liebe? Der Vater hat dir so viel Freude gegeben, in deinem Urlaub, in deinem Hobby, wo bleibt denn die Frucht dieser Freude? Der Vater hat dir so viel Friede gegeben, in diesem Land seit 50 Jahren, wo bleibt denn die Frucht dieses Friedens? Der Vater hat dir einfach alles gegeben, wo bleibt der Zins? Aber die Wein­gärtner geben anderes zurück. Sie zahlen mit Fausthieben und Fußtritten heim. Der Sohn fliegt in hohem Bogen über die Mauer. Jesus stirbt draußen vor dem Tor. Das ist der letzte Versuch Gottes. Das ist der höchste Einsatz des Vaters. Das ist die Spitze seiner Liebe. Und wenn Sie auch so viel Hass und Streit sehen und dann fragen: “Wo ist denn der liebe Gott?”, dann schauen Sie bitte nach diesem zusammengeschlagenen Boten. Und wenn Sie auch so viel Neid und Lieblosigkeit erfahren, und dann fragen: “Wie lieb ist denn der liebe Gott?”, dann blicken Sie bitte auf diesen ausgeblutet­en Sohn des Vaters. Und wenn Sie auch so viel Not und Tod erleiden und dann fragen: “Warum leidet denn der liebe Gott?”, dann lernen Sie bitte diesen geschundenen und gekreuzigten Jesus Christus kennen. “Wer am meisten liebt, muss am meisten leiden.” Schlagen wir ihn nicht wieder mit unseren Gott-ist-tot-Argumenten. Spucken wir ihm nicht wieder mit unserer gelebten Gleichgültigkeit ins Gesicht. Werfen wir ihn nicht wieder mit unserer Undankbarkeit in hohem Bogen hinaus. Er hat wahrlich genug gelitten. Jesus leidet durch uns. Und:

3. Er leidet für uns

Das Ende vom Lied ist keine Strafaktion. Wäre unser Gott ein menschlicher Machthaber, dann hätte er jetzt seine Truppen zusammengezogen, einen Belagerungsring um den Weinberg gezogen, die Anlage unter Dauerbeschuss genommen, dann die Mauern gestürmt, die Widerstandsnester ausgehoben und die Flagge auf dem rauchenden Turm gehisst. Aber selbst jetzt startet Gott keine Strafaktion, sondern eine Rettungsaktion. Am dritten Tag wird der Sohn aus dem Tod geholt. Der Weinberg bleibt intakt. Jesus wird zum Besitzer ernannt: “Mir ist gegeben alle Macht”, sagt er. Mit den bisherigen Arbeitern kann er es nicht mehr. Er holt sich andere. Sein Vater hat viele Menschen und die ruft er in seinen Weinberg: “Kommet her zu mir.” Das Alter spielt keine Rolle; er kennt keine Volljährigkeit und keine Pensionsgrenze. Die Ausbildung ist ohne Bedeutung; er kennt kein Diplom und keinen Doktorhut. Das Vorleben ist bei ihm gänzlich vergessen; er kennt keine Vorstrafenregister und keine Punktekartei. Er ruft in seinen Weinberg, in der Frühe des Lebens, wenn alles noch vor einem liegt, im Mittag des Lebens, wenn die Hitze zu schaffen macht, am Abend des Lebens, wenn die Nacht hereinbricht. Bei ihm ist es nicht zu früh und gar nie zu spät. Er ruft in seinen Weinberg.

Liebe Gemeinde, ich habe mich damals rufen lassen, dann waren meine Tage und Jahre eingefügt in sein Programm, in dem es keine Zufälle und keine Pannen gibt. Dann waren meine Täler und meine Tiefen eingebettet in seinen Weg, auf dem ich kein Unglück fürchte, weil er bei mir ist. Dann war mein ganzes Leben hineingenommen in seine Liebe, und dann verstand ich den Dichter: “Es ist mir leid, ich bin betrübt, dass ich so spät geliebt.”

Rebellion oder Provokation? Die Bildgeschichte spricht von der Passion. Der Sohn leidet an uns, durch uns und für uns. Das aber ist die Revolution der Liebe.

Amen