Die Hoffnung in Person

Bethesda ist überall
Konrad Eißler
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Den verlassenen und allein gelassenen Mensch, der sagt: “Ich habe niemand”, gibt es nicht nur in Bethesda. Johannes 5 beschreibt ein Doppeltes, nämlich die Hoffnungslosigkeit in Person und die Hoffnung in Person. - Predigt aus der Stiftskirche Stuttgart


Predigttext: Johannes 5,1-14

[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]

Nicht wahr, liebe Gemeinde, wir in Stuttgart können doch diese Geschichte vom Teich Bethesda mit gewisser Beruhigung anhören. Solch eine Barackensiedlung des Jammers wäre schon längst vom Gesundheitsamt geschlossen. Solch ein Hüttenwerk der Not wäre schon längst von Polizei wegen abgerissen. Solch eine Bretterbude der Verzweiflung wäre schon längst von Bürgerinitiativen ausgeräumt. Nein, solch einen Haufen Elend kennen wir nicht. Allein in unserer Stadt gibt es 47 Krankenhäuser mit über 7000 Betten und 47 Alters- und Pflegeheime mit über 5000 Plätzen. Keine Hallen aus Holz und Stroh, sondern Bauten aus Beton und Glas. Keine Lazaretts mit Massenlagern, sondern Hospitäler mit Intensiv- und Isolierstatioen. Keine Räumlichkeiten ohne sanitäre Anlagen, sondern Räume mit modernsten Einrichtungen. 12000 mal Platz für solche, die krank sind. 12000 mal Hilfe für solche, die nicht mehr können. 12000 mal Heimat für solche, die keine Pflege haben. Bei uns ist nicht mehr Bethesda.

Aber stimmt das? Fragen wir einen, der sich auskennt. Schon Monate ist er ans Bett gefesselt. Er ist nicht undankbar und weiß die ihm gewährte Hilfe zu schätzen. Er bekennt mir jedoch: Ich habe einen Arzt, der fachlich ausgezeichnet ist, aber bei der Visite bleibt keine Zeit für ein Gespräch, weil er mit Arbeit überladen ist. Ich habe Schwestern, die sich rührend um mich be­mühen, aber wegen ihrem 8-Stunden-Schicht-Dienst sehe ich immer wieder in ein fremdes Gesicht. Ich habe Verwandte, die nach mir schauen, aber das Mitleid erlahmt und der Besuch wird zur Routine. Ich habe Versorgung. Ich habe Pflege. Ich habe Betreuung, aber ich habe keinen Menschen, bei dem ich mein Herz ausschütten könnte. Ich habe keinen Menschen, der mir nahe steht. Ich habe niemand.

Um diese Erfahrung zu machen, muss man nicht unbedingt im Kranken­haus liegen. “Die ganze Welt ist ein Lazarett”, hat Heinrich Heine in seinen Reisebildern gesagt. Da kann man mitten drin in den Vollen stehen, einen Beruf und eine Familie haben, und doch sagen müssen: Ich habe einen Vater, der für alle Zeit hat, nur nicht für mich. Ich habe eine Mutter, die für mich sorgte, aber keine Ahnung hat, was in mir vorgeht. Ich habe einen Sohn, der mich wie Luft behandelt und auf alles pfeift, was ich ihm sage. Ich habe zu essen. Ich habe zu arbeiten. Ich habe zu leben, aber ich habe keinen Menschen, der mich versteht. Ich habe keinen Menschen, dem ich mich ganz öffnen könnte. Ich habe niemand. Die Verhältnisse haben sich geändert, die Not ist geblieben. Ob Holzbauten oder Betonklötze, ob Tümpel oder Mineralquellen, ob Schmutz oder Hygiene, der Mensch ist derselbe, der verlassene und allein gelassene Mensch, der sagt: “Ich habe niemand”. Bethesda ist überall. Weil dem so ist, tun wir gut daran, uns diesen Text näher anzuschauen. Er beschreibt uns ein Doppeltes, nämlich die Hoffnungslosigkeit in Person und die Hoffnung in Person.

1. Die Hoffnungslosigkeit in Person

“Es war ein Mensch, der lag schon 38 Jahre krank.” Vor 38 Jahren schrieb man das Jahr 1939 und der 2. Weltkrieg begann. Mit 38 Jahren hat man den Gipfel seiner Kraft überschritten. 38 Jahre ist ein halbes Leben. Diese lange Zeit verbrachte der Mann auf einer Matratze. Die Eltern hat­ten ihn sicher von Arzt zu Arzt geschleift und auf Besserung ge­hofft. Aber als die Glieder immer mehr versteiften und die Füße nicht mehr trugen, gab es keine Hoffnung auf Hilfe mehr. Die ärzt­liche Kunst war am Ende. Jetzt konnte nur noch ein Wunder retten.

Und so wie es heute eine Reise nach Lourdes gibt, wo man sich die Befreiung von Krückstöcken oder Rollstühlen verspricht, so gab es damals den Weg zum Teich am Schaftor, wo sich Hoffnungslose an die Hoffnung auf Heilung klammerten. Viele waren dort, Blinde und Lahme, Taube und Entkräftete, solche mit Tuberkulose und solche mit Krebs. Ein Zeichen dafür, dass wenige geheilt wurden. Die Chance war gering. Trat die unterirdische Quelle endlich einmal in Tätigkeit und brachte die Wasseroberfläche in Bewegung, dann begann ein schrecklicher Wettlauf der Kranken, weil immer nur ein einziger hinein steigen konnte. Ein Bild grenzenloser Ärmlichkeit. Wie dünn sind die Strohhalme, an die wir uns Menschen in der Not klammern. Wie weit ist auch bei uns der Hoffnungsschwund fortge­schritten? Ein Hoffnungssterben charakterisiert unsere Zeit.

Dieser Mann hatte keine Helfershelfer, die ihn schnell an den Beckenrand bringen konnten. Er war nach so viel Jahren allein­stehend, besser alleinliegend. Er hatte keinen Menschen, der ihm unter die Arme griff. Er hatte niemand. Man müsste doch vermuten, dass die Elenden unter sich wenigstens ein Stück Leidensgemein­schaft übten. Man müsste doch annehmen, dass die Kranken angesichts des gemeinsamen Schicksals untereinander Kameradschaft pflegten. Man müsste doch meinen, dass die Not die Menschen einander näher bringe. Aber das Recht des Stärkeren gilt auch unter den Schwachen. Das Faustrecht gilt immer. Immer ist ein anderer schneller, klüger, gewandter. Immer hat ein anderer bessere Beziehungen, bessere Manieren, bessere Bildung. Immer bleibt ein anderer jünger, hübscher, stärker. Wie mache ich es nur, dass ich als Nächster drankomme, bei der Beförderung, bei der Versetzung, bei der Gehaltserhöhung? Der Langzeitkranke hatte keine Hoffnung auf Heilung und damit auch keine Hoffnung auf Heil.

Krankheit gehörte nach biblischem Denken zur Heillosigkeit der gefallenen Welt. Blindheit oder Lahmheit war nicht nur ein organischer Defekt, sondern ein Elend der die Schöpfung bedrohenden Chaosmacht. Krank sein bedeutete fern sein von Gott. So war er ein hoffnungsloser Fall. Keine Hoffnung auf Hilfe, keine Hoffnung auf Heilung, keine Hoffnung auf Heil. Dieser Mann war die Hoffnungslosigkeit in Person.

2. Die Hoffnung in Person

Und da steht auf einmal Jesus vor ihm, die Hoffnung in Person. Wie und warum dieser Herr plötzlich an diesem Ort auftauchte, wissen wir nicht. Es ist, als wolle der Evangelist damit ausdrücken: Er geht nicht an denen vorbei, die in ihren Betten liegen, mit versteiften Gelenken, mit bösartigen Geschwülsten, mit Multipler Sklerose. Er vergisst die nicht, die unter uns sitzen: mit Depressionen und Psychosen. Er weiß um die­jenigen, die äußerlich gesund sind, aber belastet mit einer unge­heuren Gewissenslast. Jesus lässt keinen hoffnungslosen Fall links liegen. Für ihn gibt es überhaupt keine hoffnungslosen Fälle. Alle Fälle sind Gottes Fälle. Für ihn gibt es überhaupt keinen hoffnungslosen Ort. Alle Orte sind Gottes Orte. Für ihn gibt es kein hoffnungsloses Geschöpf. Alle Geschöpfe sind seines Vaters Geschöpfe.

Jesus, auf den Mose und die Propheten nicht umsonst gehofft, auf den die Schriften des Alten Bundes mit hundert Fingern zeigen, auf den der Täufer als die große Zukunft hingewiesen hat, dieser Jesus ist da. Er ist für den Übersehenen, tausendmal Überfahrenen und Überrundeten, da. Er ist für jeden da. Wir können uns immer nur für Gruppen oder einen Kreis zuständig erklären. Der Lehrer ist für die Klasse da, der Rechtsanwalt für seine Klienten, der Pfarrer für seine Gemeinde. Jesu Zuständigkeit überspringt alle Grenzen und Fronten. Er ist für mich da und sieht mich an.

Da Jesus den liegen sah, machte er es nicht wie der Priester in der Ge­schichte vom barmherzigen Samariter. Dieser Gottesmann war ja be­kanntlich der erste Fernseher. Als er um die Ecke bog, lag ein Zusammengeschlagener vor seinen Füßen. Aber er sah fern: Vielleicht liegen 100 Meter weiter dieselben Räuber auf der Lauer und wart­en nur darauf, dass sie dir den Schädel einschlagen. Er sah seine Familie, die ohne Vater nicht leben kann. Er sah seine Kollegen, die ihn im Dienst brauchen. Er sah alles, nur das nicht vor sein­en Füßen. Und so machte er einen großen Bogen. Beim Fernsehen sind wir gut. Aber beim Nahsehen? Hinsehen auf die Not vor un­seren Füßen, das tut Jesus. Deshalb gibt es eine Hoffnung auf Hilfe. Und es gibt eine Hoffnung auf Heilung. “Willst du gesund werden?” fragt Jesus. Das ist keine Suggestionsfrage, die den er­schlafften Willen des Kranken stimulieren will. Es ist auch kein technisches Mittel, um irgendein Gespräch in Gang zu bringen. Willst Du gesund werden? Das ist ein Appell an den Glauben, ob er denn überhaupt noch an einen Heiland glauben kann. Es gibt nämlich ein Verliebtsein und eine Flucht in die Krankheit, die man im letzten Grunde gar nicht geändert haben mag. Willst du gesund werden, oder nur befreit sein von Schmerzen? Willst du gesund werden, oder nur erlöst von einem Druck? Willst du gesund werden, an Leib und Seele gesund? Unser Kranker ist von dieser Frage derart überrascht, dass er vergaß Ja zu sagen. Stattdessen fängt er an, seine Krankheitsgeschichte zu erzählen, so wie er sie schon hundertmal erzählt hat. Sie ist ihm zur Platte geworden, die er jederzeit auflegen kann. Jesus geht nicht darauf ein, sondern befiehlt, “Steh auf, nimm dein Bett und gehe hin!” Das ist ein Befehl dessen, der allen Geistern und Mächten befiehlt: “Alles hört auf mein Kommando!” Der Mann schultert sein Bett und trägt dieses Zeichen jahrelanger Hoffnungslosigkeit als Zeichen der Hoffnung durch die Gassen Jerusalems. Alle sollen es sehen und Wissen: Die Krankheit zum Tode ist nicht unser Schicksal. Wir müssen nicht elendiglich verkommen. Es gibt eine Hoffnung auf Heilung.

Und wenn uns die Heilung versagt bleibt? Wenn jemand von uns auf seinem Bett liegen bleiben muss? Wenn jemand unter uns entsetzlich leidet? Liebe Freunde, dann befindet er sich noch innerhalb der 38 Jahre, in denen er auf Jesu Stunde wartet. Und sollte diese Stunde keine Stunde des zeitlichen Leben mehr sein, dann eben ist es die des ewigen Tages, in den hinein wir auferstehen sollen. Aber der Augenblick kommt, wo wir ge­fragt werden: Willst du gesund werden? Aber die Zeit kommt, wo Jesus durch vollmächtigen Befehl heilen wird.

Die letzte Szene zeigt, dass es auch Hoffnung auf Heil gibt. Jesus trifft noch einmal auf den Geheilten. Er grüßt ihn mit den Worten: “Siehe du bist gesund geworden, sündige hinfort nicht mehr, dass dir nichts Ärgeres widerfahre.” Was ist damit gemeint? War denn das, was dieser Mann zu leiden hatte, nicht arg genug? War er nicht der Ärgste von allen Fällen, über welchen die Evangelien berichten? Die Frau mit dem Blutfluss hat 12 Jahre gelitten, dieser Mann aber 38 Jahre. Der Blinde trug sein Leiden von Geburt an, aber er war von Mutter und Vater umsorgt. Der Gichtbrüchige von Kapernaum lag elend auf seinem Lager. Aber er hatte 4 Kumpels, die ihn mitten durchs Dach vor Jesu Füße abseilten. Dieser jedoch hatte keinen Menschen, der ihn trug. Es ist das Ärgste, das er hat tragen müssen. Wie ist das zu verstehen: “Pass auf, dass dir nichts Ärgeres widerfahre?” Krankheit und Tod sind arge Dinge, aber das Ärgste ist das Bleiben in der Sünde. Leiden und Schmerzen sind arge Dinge, aber das Ärgste ist das Weitersündigen des Gesunden. Zweifel und Verzweiflung sind arge Dinge, aber das Ärgere ist die unvergebene Schuld. Wo ist heute Morgen der alte Fall von Ehebruch, von Lüge, von Geiz, von Brutalität? Dort will Jesus wirken und Neues schaffen. Das Ärgste besteht nicht darin, dass einer 38 Jahre lang auf dem Schragen liegen muss, sondern dass einer ewig verloren gehen kann. Und das Herrlichste besteht nicht darin, dass einer nach 38 Jahren aufsteht, sondern dass es für Heillose Heil gibt. “Jesus lebt, sein Heil ist mein, sein sei auch mein ganzes Leben, reines Herzens will ich sein und den Lüsten wider­streben. Er verlässt den Schwachen nicht, dies ist meine Zuver­sicht.” Es muss keiner die Hoffnungslosigkeit in Person bleiben, weil die Hoffnung in Person gekommen ist. Jesus für alte und neue, Jesus für alle Fälle. Machen Sie die Augen auf. Bethesda ist überall.

Amen