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Kurzsichtigkeit war die Familienkrankheit, an der der reiche Mann in Jesu Gleichnis zugrunde ging. Den armen Lazarus vor seiner Tür sah er nicht. Aber Kurzsichtigkeit kann geheilt werden. Wenn Gottes Wort uns den Star sticht, dann wird es ein Staunen geben. - Predigt aus der Stiftskirche Stuttgart


Sechs Brüder waren es, liebe Gemeinde, ein aufrechtes Fähnlein, eine halbe Fußballmannschaft, eine stattliche Kompanie. Wahrscheinlich gehörten noch ein paar Schwestern dazu, aber die zählten damals noch nicht, weil Mädchen keine Stimme im Familienrat hatten. Also sechs Brüder plus x Schwestern waren es, eine happy family. Leider wissen wir nicht viel aus der Familienchronik, weil biblische Texte äußerst knapp und kurz berichten. Nicht einmal den Namen wissen wir, aber mit Sicherheit können wir annehm­en, dass sie einmal einen guten Geschmack hatten. Der Purpur kam aus Rom und der Leinen, sprich Byssos, aus Ägypten. Rotweiß war die Modefarbe und wer römisch-ägyptisch gestylt war, war modisch up to date. Die Bibel ist nicht gegen die Mode. Ein guter Geschmack und ein guter Glaube müssen sich nicht ausschließen. Dann hatte die Großfamilie fleißige Hände. Sie haben es im Leben zu etwas gebracht. Ein Haus besaßen sie, ein stattliches Anwesen, wahr­scheinlich eine Villa im großen Gartengrundstück. Die Bibel ist nicht gegen das Geld. Ein großes Konto und ein großer Glaube sind nicht unbedingt zwei Paar Stiefel. Dann hatten die Sechs plus x auch kluge Köpfe. Immer wieder gab es eine Familienfete. Aber dabei haben sie nicht mit Alkohol und Nikotin und Heroin und Kokain die Nächte durchgemacht, sondern die gemeinsamen Stunden in Freuden zugebracht. Die Bibel ist nicht gegen die Freude. Ein fröhliches Fest und ein fröhlicher Glaube sind sogar Geschwister. Vielleicht hatten die Brüder und Schwestern sogar fromme Herzen. Wäre der Giroverkehr schon erfunden gewesen, dann hätten sie bestimmt per Dauerauftrag die Nichtsesshaftenarbeit unterstützt und sich bei der Aktion “Brot für die Welt” nicht lumpen lassen. Doch, einen guten Geschmack hatten sie und fleißige Hände und kluge Köpfe und fromme Herzen, aber schlechte, elend schlechte Augen. Sie sahen nicht weit. Sie sahen nicht einmal bis zur Tür. Sie sahen ab wenige Meter keine Konturen mehr. Kurzsichtigkeit war ihre Familienkrankheit und daran gingen sie zugrunde. Mit Herzproblemen kann man zu Tode kommen, und mit Karziomproblemen kann man zu Tode kommen, und mit Gefäßproblemen kann man zu Tode kommen, aber mit Augenproblemen kann man in die Hölle kommen. Deshalb bittet der Älteste fürsorglich um Augentherapie für seine Geschwister: “Schickt doch einen Toten, dass ihnen die Augen aufgehen. Wenn ein Gestorbener wieder käme, dann sähe alles anders aus.” Aber Gott schickt keine Gespenster, Gott sei Dank nicht. Aus panischer Angst würden wir davonrennen und nichts sehen. “Dann lasst doch ein Wunder passieren, dass ihnen die Augen aufgehen. Wenn plötzlich eine Stimme erschallte oder Sphärenmusik erklänge, dann sähe doch alles anders aus.”” Aber Gott macht keinen Hokuspokus, Gott sei Dank nicht. Die Verwechslung mit jedem Guru wäre unvermeidlich. “Dann demonstriert okkulte Praktiken, damit ihnen Augen aufgehen. Wenn Stühle gerückt oder Uhren pendeln würden, dann sähe doch alles anders aus.”” Aber Gott ist ein Feind des Okkulten, das Menschen endgültig blind macht. Gott schickt Mose und die Propheten, das heißt, Gott schickt das Alte und Neue Testa­ment, das heißt, Gott schickt sein Wort. Sein Wort kann die Augen heilen. Sein Wort kann den Star stechen. Sein Wort kann die Kurz­sichtigkeit beheben. Mehr als sein Wort ist nicht nötig, auch für uns, die wir alle jene Familienkrankheit geerbt haben. Und dieses Wort sagt heute in dreifacher Zuspitzung: Seht vor die Tür, seht durch die Tür und seht hinter die Tür.

1. Seht vor die Tür

Der reiche Mann, und so berichtet Lukas, lebte alle Tage, nicht für sich, nicht vor sich hin, nicht mit sich allein. Über dem Eingangstor stand nicht: “My home is my castle”, mein Heim ist mein Schloss, in dem ich mich verkrümle. Der gesellige und gastfreundliche Hausherr liebte das open house, in das die Gäste nur so hineinströmten, Verwandte und Bekannte und Freunde und Kollegen und Nachbarn. Mit diesen Herrschaften ging es herrlich zu im Herrenhaus. Angesehene und ansehnliche Leute, aber einer blieb ungesehen. Er war da, aber nicht mit dabei. Er war anwesend, aber nicht mit von der Partie. Er war gekommen, aber nicht mit in den Saal. Der Mann lag vor dem Haus. Sicher wollte er gerne hinein, aber er hatte keinen Purpur. Sicher wollte er gerne mitreden, aber er bekam nur die Krümel. Sicher wollte er gerne mitfeiern, aber er war nur ein armer Hund und passte nicht in diese Elefantenrunde der großen Tiere. Lazarus draußen vor der Tür. Der reiche Mann sah ihn nicht und das war sein Elend. Lazarus draußen vor der Tür. Die betuchten Leute sahen ihn nicht und das war ihr Elend. Lazarus draußen vor der Tür. Wir sehen ihn nicht und das ist unser Elend.

Lazarus heißt “Gott hilf” und Jesus heißt auch “Gott hilf”, also Lazarus ist Jesus. ER ist da, aber nicht mit dabei, wenn wir schaffen und schuften. ER ist anwesend, aber nicht mit von der Partie, wenn wir feiern und festen. ER ist gekommen, aber nicht bis in unser Leben. Jesus draußen vor der Tür. Er liegt vor dem Haus, so wie er vor der Herberge im Stall gelegen ist, weil kein Raum war, so wie er vor dem Elternhaus in Kapernaum gestanden ist, weil sie ihn für verrückt erklärt­en, so wie er vor den Toren der Stadt geweint hat, weil sie ihn nicht aufgenommen haben, so wie er vor dem Richthaus angeklagt war, weil er Aufruhr und Mord gepredigt haben soll, so wie er vor den Mauern Jerusalems gehangen hat, weil sie ihn endlich los sein wollten, so wie er heute wieder einen Platz vor unserem Lebenshaus einnimmt. Sicher will er gerne herein, aber wir räumen ihm nur einen Randplatz ein. Sicher will er gerne mitreden, aber er bekommt nicht das Wort. Sicher will er gerne mitfeiern, aber er ist uns genierlich, weil er so gar nicht in unsere Gesellschaft passt. Jesus draußen vor der Tür.

Weil dem so ist, deshalb seht vor die Tür, deshalb blickt vor die Tür, deshalb erkennt, wen ihr vor eurer Tür liegen lasst. Ausgerechnet an ihm entscheidet sich euer Schicksal. Mit Freunden mögen wir Freude haben, mit Bekannten mögen wir Spaß haben, mit Kollegen mögen wir Beziehungen haben, aber mit Jesus haben wir das ewige Leben. Er will nicht nur einen Platz vor unserer Tür, sondern in unserem Herzen, deshalb “Sei mir willkommen edler Gast!” Seht vor die Tür!

2. Seht durch die Tür

Der reiche Mann, und so berichtet Lukas weiter, starb eines Tages. Als der arme Mann an der Hausmauer auf dem Schinderkarren abtransportiert wurde, berührte ihn das fast gar nicht. Schließlich war es für den armen Hund eine Erlösung. Wer will schon mit Geschwüren ewig herumliegen? Anderen gönnen wir den Tod, uns jedoch muss das Leben gegönnt sein. Aber der reiche Mann starb. Als früher immer wieder Todesanzeigen ins Haus flatterten, war die Kondolation mit Blumen und Trauerkärtchen eine Routineangelegenheit. Schließlich lebte man in einem großen Freundeskreis, der auch nicht jünger wurde. Wer will schon dem ewigen Kreislauf von Geburt und Tod entkommen? Alle Menschen müssen sterben, wir jedoch müssen leben. Aber der reiche Mann starb. Als ihn damals eine schwere Krankheit aufs Leidenslager warf, wuchs das Vertrauen in die ärztliche Kunst ins Unermessliche. Schließlich haben schon ganz andere Todeskandidaten überlebt. Jeder hat eine Chance, auch ich. Aber der reiche Mann starb. Sein Sarg wurde durch die Tür getragen. Dann fiel sie leise ins Schloss. “Wie der Mittwoch kommt”, schreibt Rudolf Otto Wiemer, “der Donnerstag kommt, der Freitag kommt, kommt auch der Tag, dessen Kalenderblatt ein anderer abreißt”. Täuschen wir uns nicht. Der Tod kennt keine Unterschiede. Unterschiede wird es bei der Bestattung geben. Beim Reichen gibt es eine große Leich’, auf der zahlreiche Kränze gewunden und ehrende Nachrufe gehalten werden. Und beim Armen gibts eine Kremation auf Sozialkosten ohne Feier. Aber so oder so, wir alle müssen sterben. Unser Sarg wird durch die Tür getragen. Dann fällt sie leise ins Schloss.

Liebe Freunde, das Schlimme dabei ist nicht, dass meine Sanduhr abgelaufen ist, sondern dass meine letzte Chance vertan ist, noch irgendetwas zu ändern. Ich wollte doch noch mit meiner Frau den Frieden schließen. Ich wollte doch noch mit dem Sohn ein Wörtlein reden. Ich wollte doch mit dieser furchtbaren Bindung fertig werden. Ich wollte doch noch mit meinem Gott ins Reine kommen, aber nun ist es zu spät. Nicht umsonst sagt Jesus: “Jetzt ist angenehme Zeit, in der ich noch Frieden schließen kann.” Jetzt ist die gün­stige Gelegenheit, in der ich noch unheimliche Fesseln lösen kann. Jetzt ist die große Chance, in der ich noch umkehren und ein Kind Gottes werden kann. Einmal ist Schluss. Dann sterben wir. Dann wird unser Sarg durch die Tür getragen. Dann fällt sie leise ins Schloss. Seht durch die Tür!

3. Seht hinter die Tür

Der reiche Mann, und so berichtet Lukas noch, litt nach diesen Tagen. Sein Tod war nicht Schlusspunkt, sondern Doppelpunkt. Sein Tod war nicht Ende, sondern Anfang. Sein Tod war nicht Finale, sondern Ouvertüre. Es geht weiter hinter der Tür, durch die wir hindurchgetragen werden. Es geht weiter hinter der Tür, die nach dem Tod ins Schloss fallen wird. Es geht weiter hinter der Tür, viel weiter. Unsere Jahre sind nur Auftakt. Unserer Lebenszeit folgt die Ewigkeit. Unsere diesseitige Biographie hat ein jenseitiges Kapitel. Und dieses letzte Kapitel, das der Herr selber aufschlägt, ist mit Himmel oder Hölle überschrieben. Das ist die letzte Wahrheit, auch wenn wir sie nicht wahrhaben wollen. Je nachdem die Würfel gefallen sind, bleiben sie liegen. Lazarus darf schauen, was er geglaubt hat, und der reiche Mann muss schauen, was er nicht geglaubt hat.

Es gibt eine Hölle, auch wenn wir dies nur mit Beben sagen können. Es gibt einen Ort, an den Gott nicht mehr hinsieht. Es gibt einen Ort, an den Gott nicht mehr hinhört. Es gibt einen Ort, an dem wir auf ewig mit uns alleine sein werden. Von Gott getrennt sein, das ist die Hölle, und deshalb beginnt sie bei einigen schon in diesem Leben.

Aber es gibt eben auch einen Himmel. Es gibt einen Schoß, auf dem wir uns endgültig ausweinen können. Es gibt einen Schoß, auf den wir unsere ganze Schulden- und Sorgenlast packen können. Es gibt einen Schoß, auf dem wir für alle Ewigkeiten wie ein Kind bei der Mutter geborgen sind. Von Gott geliebt sein, das ist der Himmel und deshalb beginnt er bei einigen schon in diesem Leben. Wer heute diesem Jesus einen Stammplatz in seinem Leben einräumt, der braucht sich um diesen Ehrenplatz im ewigen Leben nicht zu sorgen. Seht hinter die Tür!

Liebe Gemeinde, unsere Kurzsichtigkeit kann geheilt werden. Wenn Gottes Wort uns den Star sticht, dann wird es ein Staunen geben.

Amen.

[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]