Unterm Kreuz

Konrad Eißler
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Unter dem Kreuz steht hilflos die alte Gemeinschaft der Anhänger Jesu. Mit seiner letzten Seelsorge schafft Jesus eine neue Verwandtschaft, die diesen Herr gemeinsam hat. - Kurzpredigt zum Abendmahl am Gründonnerstag in der Stuttgarter Stiftskirche


Nein, liebe Gemeinde, das Kreuzigungsbild, das Johannes hier malt, gehört nicht in die Galerie alter Meister, die wir ergriffen betrachten. Die betenden Hände von Dürer, die gelben Sonnenblumen von van Gogh, die Kreidefelsen von Rügen von Caspar David Friedrich sind beeindruckende Meisterwerke, die aber letztlich mit uns nichts zu tun haben. Die Kreuzigung ist kein Meisterwerk. Die Kreuzigung ist kein Kunstgemälde. Die Kreuzigung ist unsere Wirklichkeit. Rembrandt, der holländische Meistermaler, hat das begriffen. Einmal hat er die Kreuzesaufrichtung gemalt. Der römische Hauptmann ist zu sehen, der hoch zu Ross die Exekution beaufsichtigt. Die Landser sind zu sehen, die mit ihren Gewehren das Loch für das Kreuz graben. Helfershelfer sind zu sehen, die beim Hochziehen des Balkens mit Hand anlegen. Gaffer sind zu sehen, die sich dieses Spektakulum nicht entgehen lassen wollen. Und da dazwischen eine Gestalt, ein Kopf, ein Gesicht, Augen, die auf die blutüberlaufenen Füße Jesu gerichtet sind, ein Konterfei des Malers selbst. Mithelfer der Kreuzigung, so hat sich Rembrandt gesehen. Mithelfer der Kreuzigung, so hat sich Paul Gerhardt gesehen: “Ich, ich und meine Sünden, die sich wie Körnlein finden / des Sandes an dem Meer, die haben dich erreget / das Elend, das dich schläget, und das betrübte Marterheer.” Mithelfer der Kreuzigung, so müssen wir uns sehen. Dabei, mitten drin, eingekeilt in die Masse unterm Kreuz. Dort entdecke ich ein Doppeltes.

1. Die alte Gemeinschaft

… von Gaffern, Spöttern, Schreiern, Soldaten, Hauptleuten, aber auch ein Quartett von vier Leuten, drei Frauen und einem Mann, das sich nicht durch besonderen Heldenmut von den übrigen abhebt. Die drei Marias und Johannes, um die es sich hier handelt, sind im Menschengewoge bis zum Fuß des Kreuzes gespült worden. Dort bieten sie ein Bild der Hilflosig­keit, wie alle andern auch. Einmal hilflos gegenüber der mensch­lichen Gewalt. Sie können doch nicht den Helfershelfern die Seile aus den Händen entwinden? Sie können doch nicht den Land­sern das üble Handwerk legen? Sie können doch nicht den Hauptmann zur Rücknahme seines Befehls zwingen? Sie können doch gar nichts. Hilflos sind sie gegenüber der menschlichen Gewalt und hilflos sind sie gegenüber dem göttlichen Gericht. Das Kreuz Jesu ist und bleibt Gericht über die Sünde, das der Vater stellvertretend für uns an seinem Sohn vollzieht. Ein ewiges Gericht aber ist nicht aufzuhalten. Also doppelte Hilflosigkeit gegenüber mensch licher Gewalt und göttlichem Gericht. Unterm Kreuz trifft sich die alte Gemeinschaft der Hilflosen. Die Judasgestalten, die nur das Halleluja und nicht mehr das Kyrie singen wollen, sind längst verschwunden. Die Petrusgestalten, die mit dem Schwert zum Sieg beitragen wollen, sind längst vom Fenster. Die Thomasgestalten, die alles mit ihrer Ätzsäure der Kritik übergießen und kaputt machen, sind längst in Deckung gegangen. Unterm Kreuz trifft sich die alte Gemeinschaft der Hilflosen. Unterm Kreuz trifft sich immer diese alte Gemeinschaft der Hilflosen, auch am Vorabend des Kreuzigungstages am Tisch des Herrn. Wer leere Hände hat und sagt: Herr, ich habe dir außer meiner Schuld und meinem Versagen nichts zu bringen, der gehört dazu. Und wer schwache Hände hat und sagt: Herr, in meiner Kraftlosigkeit kann ich gar nichts für dich tun, der gehört dazu. Und wer zitternde Hände hat und sagt: Herr, ich kann nicht einmal richtig zufassen, weil ich keine Gewalt über meine Hände mehr habe, der gehört dazu. Und wer kaputte Hände hat und sagt: Herr, es war alles zu schwer, was ich zu tragen und zu schleppen hatte, der gehört dazu, der ist hier richtig, der zählt zu der alten Gemeinschaft der Hilflosen, die er bei sich haben will. Nur dabei belässt er es nicht. Das ist das andere, was ich unterm Kreuz entdeckt habe. Aus der alten Gemeinschaft wird …

2. Die neue Verwandtschaft

Mit brechender Stimme meldet sich der Gekreuzigte noch einmal zu Wort. Viele können diese letzte Seelsorge Jesu nicht mehr verstehen. Aber Maria ist ganz Ohr, wenn er mit Blick auf Johannes sagt: “Frau, das ist dein Sohn.” Und Johannes ist ganz Ohr, wenn er mit Blick auf Maria sagt: “Siehe, das ist deine Mutter.” Verstehen wir das, denn Maria hatte noch eine Reihe von Kindern? Begreifen wir das, denn Johannes besaß noch eine leibliche Mutter? Ist uns das noch klar, dass hier eine neue Verwandtschaft entsteht? Am Kreuz kann es passieren, dass mir die blutmäßige Bindung an meine Familie nicht mehr viel bedeutet, weil sie von diesem Herrn nichts hält. Am Kreuz kann es passieren, dass mir die freundschaftliche Bindung an eine Person nicht mehr viel bringt, weil sie meinen Glauben an diesen Herrn nicht teilt. Am Kreuz kann es passieren, dass mir vielerlei Bindungen schlichtweg zerreißen, aber dass ich dennoch nicht allein bin. Bei ihm finde ich neue Freunde. Unterm Kreuz finde ich eine neue Gemeinschaft. An seinem Tisch entsteht eine neue Verwandtschaft, die durch diesen Herrn enger verbunden ist als seitherige Bindungen. Da mag man erstaunt fragen, wenn man um den Abendmahlstisch steht: “Was haben wir eigentlich gemeinsam?” Die Haare nicht, die Gesichtszüge nicht, die Körpergröße nicht, auch die Herkunft nicht, die Ausbildung nicht, die Stellung nicht, erst recht nicht Gedanken oder Gefühle oder Überzeugungen. Fast gar nichts haben wir gemeinsam, außer diesem Herrn, und das ist das Wichtigste. Er kennt unsere Schuld und schenkt das Wunder der Vergebung. So bildet er die neue Beziehung. So gründet er die neue Familie. So stiftet er die neue Verwandtschaft, die endlich, im wahrsten Sinne des Wortes eine schöne Verwandtschaft ist, und die sich untereinander an das Wort des Chirurgen an der berühmten Charité in Berlin, Dr. von Bergmann hält: “Man ist nicht zu seinem Glück auf der Erde, sondern dazu es andern zu bereiten.”

Liebe Gemeinde, schauen Sie nicht traurig vor sich hin, weil sie mit so vielem belastet und oft genug einsam sind. Schauen Sie sich um: “Das ist deine Mutter, das ist dein Sohn, das ist dein Vater, das ist deine Tochter, siehe, das ist deine neue Verwandtschaft, zu der du gehörst.” Dann schauen Sie hinauf zu dem, der dies gesagt und mit seinem Sterben verwirklicht hat.

Amen

[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]