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12.07.1985Lukas 2,25-35
Oft lautet das Fazit von Lebensgeschichten: "Leben heißt Hoffnung begraben". Gott sei Dank gibt es noch die ganz andere Geschichte vom alten Mann und dem Kind. Wie kommt dieser Simeon zu diesem Glauben? Drei Verben umschreiben das Geheimnis, nämlich: warten, gehen, sehen. Dann heißt leben Hoffnung haben. - Advents-Jugendgottesdienst über "Hoffnung" aus der Stiftskirche Stuttgart

Ich bin kein Hemingway-Fan. Mein Lieblingsdichter in der Schule war Eduard Mörike, einfach deshalb, weil er so wenig produziert hat. Aber der Ernest Hemingway hat jene vielgelesene Geschichte geschrieben, die viele von Euch vom Fernsehen kennen: "Der alte Mann und das Meer." Ein armer Fischer wartet auf das große Glück seines Lebens. Jeden Tag knotet er seinen Kahn los, treibt ihn mit harten Ruderschlägen hinaus und schleudert seinen Angelhaken in die Fluten. Aber nach langen Stunden kehrt er müde und leer zurück. Der Mann setzt seine Hoffnung auf den nächsten Tag. Wieder rudert er hinaus und wieder dreht er unbefriedigt ab. Dieses zermürbende Pendeln zwischen Erwartung und Enttäuschung geht jahrelang, bis er eines Tages den großen Fisch fängt. Ein Prachtstier geht ihm an die Leine. Damit hat er für den Rest des Lebens ausgesorgt. Ein Fang wie noch nie. Aber auf dem Weg zurück kommen die Haie. Er kämpft und schlägt und sticht und rudert, die Raubtiere jedoch fressen den Fisch zu weißen Knochen. Als er schließlich sein Boot in den Hafen bugsiert, hat er nur noch ein Skelett an der Leine. Fazit: "Leben heißt Hoffnung begraben."

Kennst Du dieses Gefühl auch? Man wartet auf das große Glück seines Lebens. Man knotet jeden Morgen seinen Lebenskahn los. Man fängt nach Geld und Ehre und Liebe. Aber die Tage bringen nichts. Unser Leben ist ein zermürbendes Pendeln zwischen Erwartung und Enttäuschung. Bis eines Tages der große Wurf gelingt. Man angelt sich ein Mädchen, ein Prachtstier, einen Goldfisch, eine Wunderkrake. Damit ist für den Rest des Lebens ausgesorgt. Einklang wie noch nie. Aber dann kommen die Haie, und kaum ist man im Ehehafen gelandet, dann sieht man nur noch einen Rest seines Glücks, ein Skelett der Hoffnung. Fontane hatte recht: "Leben heißt Hoffnung begraben." Dante hatte recht: "Lasst alle Hoffnung fahren." Euripides hatte recht: "Dunkel sind alle Wege." "Der alte Mann und das Meer", das ist unsere Geschichte.

Gott sei Dank gibt es noch eine ganz andere Geschichte. Vorhin haben wir sie im Film gesehen. Der alte Mann und das Kind. Ein armer Mann wartet auf das große Glück des Himmels. Jeden Tag marschiert er in den Tempel. Der große Pendelschlag seines Lebens geht von der Erwartung zur Erfüllung, bis er eines Tages das Kind auf den Armen hält. Seine Augen werden ganz groß und strahlend. Ein Lobgesang erfüllt die Tempelhalle. Einer, der nicht seine Hoffnung begräbt, sondern in großer Hoffnung dem Grab entgegengeht. Einer, der nicht alle Hoffnung fahren lässt, sondern als Diener im Frieden fahren will. Einer, der nicht auf dunklen Wegen herumtappt, sondern das helle Licht entdeckt. Hoffnung statt Hoffnungslosigkeit. Freunde, das wäre es. Erfüllung statt Enttäuschung. Freunde, das brächte es. Licht statt Dunkel, Freunde, dafür würden wir einen springen lassen. Wie kommt dieser Typ zu diesem Glauben? Nun, Glaube ist immer Wunder und Wunder lassen sich nicht beschreiben, aber drei Verben umschreiben das Geheimnis, nämlich: warten, gehen, sehen.

Glaube ist immer Wunder und Wunder lassen sich nicht beschreiben, aber drei Verben umschreiben das Geheimnis, nämlich: warten, gehen, sehen.

1. Simeon wartete

Er konnte also noch warten. Wir können das im­mer weniger. Wer wartet noch mit der Disco bis 14? So bekloppt müsste man sein. Wer wartet noch mit der Zigarette bis 16? So bescheuert müsste man sein. Wer wartet noch mit dem Mädchen bis zur Ehe? So frühmittelalterlich müsste man gewickelt sein. Entweder man bekommt's gleich oder ich flippe aus. Uns fehlt der lange Atem, der große Bogen, die weite Sicht.

Simeon wurde nicht nervös, obwohl er lange auf den Messias warten musste, sehr lange sogar. In Israel wartete man schon eine Reihe von Jahren und aus den Jahren wurden Jahrzehnte, Jahrhunderte, ja die Schwelle des ersten Jahrtausends war überschritten. Kein Wunder, dass viele Zeitgenossen hundsmüde wurden. Sie steckten den Glauben an einen ankommenden Gott. Sie vertauschten den harten Wachtposten mit einem weichen Canapé. Sie träumten von einer frommen Vergangenheit, so wie heute wieder geträumt wird. Da träumen sie von einer frommen Kinderzeit, als man im Kindergarten noch lernte: "Advent, Advent, ein Lichtlein brennt, bald 1, bald 2, bald 3, bald 4, dann steht die Feuerwehr vor der Tür." Da träumen sie von einer frommen Konfirmandenzeit, als man im Blick auf den Pfarrer gesungen hat: "Morgen kommt der Weihnachtsmann, kommt mit seinen Fragen." Da träumen sie von einer frommen Jugendzeit, als man in der Jugendstunde lallte "Lasst uns froh und munter sein und uns in dem Herren freu'n, lustig, lustig, traleralala, bald ist Feierabend da." Aber Träume sind Schäume und wenn schon Schaum, dann bitte keinen frommen, dann ist Bierschaum oder Schaumwein harmloser. Wo der Glaube nur noch an der Erinnerung hängt, hängt er total durch. Lebendiger Glaube hat es mit der Zukunft zu tun, deshalb kann er warten.

Warten wie Simeon, der auf dem Wachposten blieb. Mit ein paar Stillen im Lande zusammen, mit der Hanna, mit Maria und Joseph, mit Zacharias und Elisabeth, mit den Hirten auf dem Felde und Johannes am Jordan. Diese Handvoll Leute lebten nicht von der Erinnerung her, sondern auf die Zukunft hin. Ihre Frömmigkeit war gespannt wie ein Regenschirm. Ihr Glaube war gespannt wie ein Flitzebogen. Ihr Warten ging dem neuen Morgen entgegen.

Auf was wartest Du? Auf Januar, wenn es in den Bergen wieder Brettersalat und Knochensuppe gibt? Auf Juni, wenn der Rex die Abizeugnisse verteilt und Dir den Scheffelpreis überreicht? Auf September, wenn Du dem Feldwebel die Uni­form vor die Plattfüße knallst und der Bund auf Deine Verteidigungskraft verzichten muss? Das alles ist nicht übel, aber viel zu kurz geschossen. Kein Wunder, dass der Glaube lasch wird wie ein Softball. Simeon wartete auf den Trost Israels, und:

2. Simeon ging

Eigentlich war das nichts Besonderes. Viele ging­en damals zum Tempel. Aber er hat sich dieses Gehen auffallend viel kosten lassen. Simeon zog vom Land in die Stadt. Seine Nachbarn schlügen die Hände überm Kopf zusammen, als er eines Tages die Koffer packte. "Guter Mann, wer hat dir denn diesen Floh ins Ohr gesetzt? Man kann doch seinen Hof nicht einfach im Stich las­sen. Wo kämen wir denn hin, wenn sich jeder fromm ausspinnt? Cool bleiben und nichts übertreiben, auch im Glauben!" Aber Simeon ging trotz der Ratschläge. Dann keuchte er täglich die vielen Treppen zum Tempelberg hinauf. Seine Zeitgenossen lachten sich über so viel Plackerei einen Ast ab. "Guter Opa, wer hat dir diesen Trimm-dich verordnet? Den Ischias pflegt man im Altenstübchen. Seinen Lebensabend lässt man auf der Ofenbank ausklingen. Nur nichts Narrets!" Aber Simeon ging trotz der Vorschläge. Dann durchbrach er immer wieder die eigenen Fragen. Seine Gedanken machten ihm schwer zu schaffen. "Guter Kerl, wer hat dir denn diese Hoffnung gemacht? Gott ist ein Hirngespinst. Der Messias ist ein Luftballon. Der Heilige Geist ist ein blauer Dunst. Nichts weiß man gewiss." Aber Simeon ging trotz der Zweifel. Er nahm alle Mühen auf sich. Nichts hielt ihn davon ab, einfach deshalb, weil er wusste: Ohne Gottesdienst werde ich müde. Ohne Gemeinschaft schlafe ich ein. Ohne Gebet verschnarche ich mein restliches Leben. Martin Luther bezeichnete einmal das gemeinsame Singen, Beten und Hören als die Rosen und Lilien des christlichen Lebens. Warum ist es uns immer wieder Spitzgras? Warum fällt es uns am Sonntagmorg­en so ungeheuer schwer, Abschied vom Bettzipfel zu nehmen? Warum fallen uns ausgerechnet am Jugendabend tausend andere Dinge ein, die wir noch erledigen sollen? Warum müssen Bibeltreffs und Gebetsmeetings ausfallen? Bei George Williams, dem Gründer des ersten CVJM in London, fand ich folgende Notiz, die er als junger Mann am Abend eines Sonntags in sein Tagebuch schrieb: "Ging heute nach Woodbridge, Gebetsversammlung 1/4 nach 7, besuchte danach unsere Gebetsversammlung von 9 - 10, hörte dann die Predigt von Bonney. Nachmittags hielt ich Sonntagsschule im Wigh-House, schloss gegen 5, ging zum Tee, danach eine Gebetsversammlung, hörte eine Abendpredigt von Bonney, ein schöner Tag." Wir heißen nicht Georg Williams, sondern Georg und Wilhelm und Rita und Antje. Aber muss es denn bei unseren Sonntagsprogrammen bleiben: "Ging heute um 11 aus dem Bett, Frühstück bis 12 Uhr. Dann Stadtbummel am Bahnhof, eine Cola hinuntergezogen. Nachmittags gemütlicher Poof daheim. Um 1/5 Uhr zu McDonalds; der Fisch-Mac war schon besser. Dann Telefonbaatsch mit Lulli, Skatrunde mit den Kumpels, schließlich ARD-Nachtprogramm, ein spitze Sonntag." Muss es dabei bleiben? Bonhoeffer erinnert uns daran: "Es wird leicht vergessen, dass die Gemeinschaft von Christen ein Gnadengeschenk ist, das uns täglich genommen werden kann. Wer bis zur Stunde ein gemeinsames Leben mit andern Christen führen darf, der preise Gott aus tiefstem Herzen und danke Gott auf den Knien." Simeon ging in den Tempel.

3. Simeon sah

Ein Kind wurde zur Tempelhalle hereingetragen, ein Kind wie tausend andere. Nur Eltern meinen, ihr Sprössling sei der schönste und herzigste und putzigste, ein noch nie da­ gewesener Zuckerkringel zum Abschlecken. In Wirklichkeit sehen aber die Wickeldinger alle gleich aus: ein überdimensionierter Kopf, ein spärlicher Haarbesatz, ein quäkender Mund, ein zappelnder Minikörper und eine nasse Windel drumrum. Für Simeon war das Dutzendware, denn jeden Tag wurde solche Säuglinge zur sogenannt­en Darstellung in den Tempel gebracht, weil dies Gottes Gesetz vorschrieb. Ein Normalfall, eine Routinesache, eine 08/15-Angelegenheit. Aber diesmal war alles anders. Er humpelte zu dem Ehepaar hin. Er nahm der erstaunten Mutter das Kind aus den Armen. Er betete vor allen Leuten: "Herr,nun lässest du deinen Diener im Frieden fahren, denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen." Im Wickelkind den Heilmacher sehen, Freunde, das ist Glaube. Überall sehen wir den Kaputtmacher. Im Alkohol macht er unsere Gesundheit kaputt. Im Ausleben macht er unsere Jugend kaputt. Im Ego-Trip macht er unsere Freundschaften kaputt. In der Atombombe macht er unseren Frieden kaputt. In der Sünde macht er unsere Gottesbeziehung kaputt. Jesus Christus aber ist der Heiland. Er kann heilen. Er kann alles heil machen. Er kann jedem Heilung bringen, auch Dir. Es gibt nichts, was er nicht in Ordnung bringen kann. Du musst nicht vor die Hunde gehen. Du darfst in dem Kind den Sohn Gottes sehen. Du brauchst nur zu beten: "Komm o mein Heiland Jesus Christ, mein's Herzens Tür dir offen ist."

Simeon sah den Heiland der Welt. Dann gab er das Kind zurück. Fröhlich ging er davon. Nein, Hemingway und Fontane und Dante haben geirrt: Leben heißt nicht Hoffnung begraben. Leben heißt Hoffnung haben, wegen Jesus.

Amen

Leben heißt nicht Hoffnung begraben. Leben heißt Hoffnung haben, wegen Jesus.

[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]