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Der Heiland

16.10.1993Markus 1,32-39
Wir haben Ärzte, Krankenhäuser, Heilanstalten, aber wir haben keinen Heiland mehr. Heilung gibt es nur in der Arztpraxis Jesu. - Predigt aus der Stiftskirche Stuttgart

Gott sei Dank haben wir Ärzte, liebe Gemeinde, den Notarzt zum Beispiel. Ein alter Mann bricht auf der Straße zusammen. Hart schlägt er auf dem Pflaster auf. Passanten starren hilflos hinun­ter. Dann hört man ein Martinshorn. Der Sanitätswagen bahnt sich einen Weg durch die Fußgängerzone. Ein Mann in Weiß stürzt heraus und kniet sich neben den Verunglückten nieder. Er fühlt den Puls, er setzt die Spritze, er legt einen Druckverband an. Der Notarzt kann helfen, aber das ist die Frage, kann er heilen, heil­ machen, ganz machen, gesund machen?

Gott sei Dank haben wir Ärzte, den Chirurgen zum Beispiel. Ein junger Bub bekommt Leibschmerzen. Eine Tasse Tee und tröstende Worte der Mutter bringen keine Linderung. "Blinddarm!", diagnostiziert die Schwester von der Diakoniestation. So kommt er ins Krankenhaus. Im OP wartet der Doktor mit seiner Mannschaft. Ein schneller Eingriff beseitigt den entzündeten Herd. Der Chirurg kann helfen, aber das ist die Frage, kann er heilen, heil machen, ganz machen, gesund machen?

Gott sei Dank haben wir Ärzte, den Psychiater zum Beispiel. Eine Frau in den besten Jahren wird seelisch krank. Lauter furchter­regende Abgründe tun sich vor ihr auf. Kein Lichtstrahl erreicht ihr Dunkel. In der Beratungsstelle bekommt sie einen Gesprächs­termin. Dabei öffnet sie sich dem Arzt und erfährt Erleichterung. Der Psychiater kann helfen, aber das ist die Frage, kann er heilen, heil machen, ganz machen, gesund machen?

Die damals hatten einen Heiland. Etwas Heilendes ging von ihm aus. Der Mann konnte heilen. Das Land hatte einen Heiland, und wir? Wir haben Ärzte, Krankenhäuser, Heilanstalten, aber wir haben keinen Heiland mehr. Damit ist kein Wort gegen unsere medizinische Versorgung gesagt, keine Silbe gegen den aufopfernden Dienst vieler Schwest­ern, Pfleger und Ärzte. Wir sollten noch viel dankbarer für alle Kliniken und Hospitäler in unserer Stadt sein. Aber bringen wir unsere Kranken nicht nur dorthin. Bringen wir sie wieder zum Heiland und sagen: "Herr, hier ist mein Kind, das nicht mehr zu Kräften kommen will. Herr, hier ist meine Frau, die trotz Chemotherapie weiter vom Krebs befallen ist. Herr, hier ist mein Vater, der unter der Last des Alters so tief gebeugt ist. Herr, hier bin ich selber mit all meiner Müdigkeit und Kraftlosig­keit."

Noch gilt, was in Kapernaum passierte: "Jesus half vielen Kranken und trieb viele böse Geister aus." Noch gilt, was in Möttlingen passierte. Blumhardt sagte über der besessenen Gottlieb­in Dittus: "Wir haben lange genug gesehen, was der Teufel tut. Nun wollen wir sehen, was Jesus vermag." Und sie sahen es. Noch gilt, was in vielen Städten und Dörfern passiert, dass dies wahr ist: "Ich bin der Herr, dein Arzt."

Heute erfahren wir Wichtiges über die Arztpraxis Jesu. Damals wurde sie vor der Haustür eröffnet, also mitten auf der Straße, eine Open-Air-Praxis war das. Später wurde sie im Haus installiert, mitten in der Menschenmenge, eine öffentliche Ambulanz war das. Dann wurde sogar die Synagoge zur Poliklinik umfunktioniert. Überall wo Jesus ist, ist auch seine Praxis. Dazu werden drei Fragen beantwortet.

1. Wen behandelt er?

Wer es mit den Augen hat, der geht am besten zum Augenarzt. Der kann am schnellsten sagen, welcher Star oper­iert werden muss. Wer es mit den Ohren hat, der geht am besten zum Hals-Nasen-Ohren-Arzt. Der kann am besten raten, ob ein moder­nes Hörgerät etwas bringt. Wer es mit der Lunge hat, der geht am besten zum Lungenarzt. Der kann am besten diagnostizieren, ob ein Schatten auf dem Lungenflügel sitzt. Und wer es mit der Haut hat, der geht am besten zum Hautarzt. Und wer es mit dem Herz hat, der geht am besten zum Kardiologen. Und wer es mit den Knochen hat, der geht am besten zum Orthopäden.

Damals gingen alle Kranken und Besessenen zu ihm. Er unterscheidet nicht zwisch­en äußeren und inneren Krankheiten. Jesus ist Facharzt für alle Krankheiten. Er unterteilt nicht in leibliche und seelische Nöte. Jesus ist Spezialist für alle Nöte. Er differenziert auch nicht zwischen Privat- und Kassenpatienten. Der Arzt Jesus ist für alle und für alles zuständig. Deshalb kommen sie alle, aber, nun genau hingehört, er macht nicht alle gesund. Viele Lungen­kranke husten weiter. Viele Gallenkranke bekommen ihre Kolik nicht los. Viele Fußkranke humpeln wieder mit Krücken nach Hause. Trotzdem war er auch bei diesen defekt gebliebenen Menschen mit seinem ärztlichen Latein nicht am Ende. Jesus hat die Möglich­keit, alle Krankheiten zu besiegen. Aber er will für uns mehr als Gesundheit. Wer nur Gesundheit von ihm will, erwartet nicht zu viel, sondern zu wenig.

Der Arzt Jesus will heilen, das heißt, eine heile Beziehung zwischen uns und Gott herstellen, heraus­reißen aus der Macht der Finsternis und versetzen in das Reich seines Sohnes (Kol.1,13) Wenn ich also in der Praxis Jesu war und ihn um ein gesundes Herz gebeten habe, er aber mir ein rhythmusgestörtes und unterversorgtes Herz lässt, dann weiß ich, dass diese Krankheit meiner Heilung dient. Und wenn ich in der Praxis Jesu war und ihn um eine gesunde Niere gebeten habe, er mir aber eine geschrumpfte und schmerzende Niere lässt, dann weiß ich, dass diese Krankheit mir zur Heilung dient. Und wenn ich in der Praxis Jesu war und ihn um Rettung vor dem Tode gebeten habe, er mich aber sterben lässt, dann weiß ich, dass diese Todeskrankheit meiner letzten Heilung dient.

Zuletzt heilt er uns alle, nämlich dann, wenn wir Gott sehen werden in Herrlichkeit. Menschen, denen es um nichts weiter geht als um ihre Gesundheit, werden eben davon krank. Ich möchte aber heil werden, deshalb gehe ich in seine Praxis und bitte mit dem Psalmisten: "Heile du mich Herr, so werde ich heil. Hilf du mir, so ist mir geholfen."

Wer zu ihm kommt, der wird von ihm gut behandelt, so oder so.

Und jetzt die zweite Frage zur Arztpraxis Jesu:

2. Wann behandelt er?

Wer zu einem Arzt muss, tut gut daran, sich vorher nach den Sprechstunden zu erkundigen. Praxen haben es nicht wie die Kaufhäuser, die von 9 bis 18 Uhr geöffnet sind. Der eine Arzt behandelt werktags außer mittwochs von 10 bis 13 Uhr. Der andere hat nur montags und dienstags offen und der Dritte empfängt ausschließlich nach Vereinbarung.

Jesus hält abends Sprechstunde, nach Sonnenuntergang wird ausdrücklich bemerkt. Dann suchten sie ihn morgens auf, vor Tage heißt es hier. Und mittags ging er durch das Land und trieb die Geister aus. War er also Tag und Nacht am Heilen? War er rund um die Uhr in seiner Praxis beschäftigt? Stand auf seiner Tafel: "Sprechstunden immer?"

Manchmal standen die Patienten vor verschlossenen Türen. Weit und breit war kein Heiland zu sehen. Die Praxis war zu. Er ist hinausgegangen an eine einsame Stätte und betet dort, wussten einige zu berichten. Dann war der Unmut da. Der hält Gebetsstunde statt Sprechstunde. Der geht zum Gottesdienst statt zum Hilfsdienst. Der flieht in die Liturgie statt in die Diakonie. "Wer da weiß Gutes zu tun", sagt Jakobus, "und tut es nicht, dem ist es Sünde."

Gewiss gibt es das bei uns, dass fromme Däumchen gedreht werden, wo wir doch alle Hände voll zu tun hätten, aber nicht bei Jesus. Er ist kein Zauberer, der immer Hokuspokus machen kann. Er ist kein Quacksalber, der jeder­zeit seine Sprüchlein machen kann. Er ist kein Doktor Eisenbart, der unentwegt kuriert. Jesus ist der Sohn Gottes, der - wie wir - allein aus dem Kontakt mit seinem Vater lebt. Er braucht die Stille und Sammlung. Er benötigt den Rhythmus von Einatmen und Ausatmen. Er war auf Tuchfühlung mit der ewigen Welt angewiesen. Deshalb lässt er sich diese Verbindung nicht abschneiden und sucht die einsamen Stätten. Sie waren notwendige Oasen für seine ärztliche Wirksamkeit. In der Einsamkeit durchbeteter Stunden ist er seinen Patienten nicht weniger nahe als vor dem Haus in Kapernaum. Er betet für uns. Er setzt sich beim Vater für uns ein. Er kämpft bittend seine Leute aus der Verlorenheit heraus.

Es ist also noch lange nicht Hopfen und Malz verloren, wenn ich einmal aus Schwäche nicht mehr beten kann, wenn ich in Schmerzen nicht mehr bitten kann, wenn ich wegen Krankheit nicht mehr rufen kann. Der Arzt Jesu ist auch Priester und der betet für mich, der bittet für mich, der ruft für mich. Wegen ihm ist auch in der dunkelsten Stunde die Verbindung zum Vater nie abgerissen.

Wann Jesus behandelt? So verstanden immer.

3. Wie behandelt er?

Wer ärztliche Hilfe braucht, wird bald merken, dass es vielerlei ärztliche Hilfen gibt. So wird einem Patienten Medizin verschrieben, Tabletten von Bayer in Leverkusen oder Böhringer in Ingelheim. Aber sie bringen ihm keine Linderung. Dann versucht er es mit Homöopathie, ein paar Tröpfchen täglich aus Gottes Naturapotheke. Aber auch dieser Versuch zeigt keinerlei Wirkung. "Sie müssen zur Kur!", wird ihm gesagt, und er fährt ins Wildbad, aber krank kehrt er nach vier Wochen wieder heim. Soll er es jetzt mit Heilgymnastik, Akupunktur oder gar einer Operation versuchen?

Jesus kennt nur eine Behandlungsmethode. Er verschreibt nur eine Medizin. Er gibt nur eine einzige Hilfe. Nicht Tabletten, nicht Tröpfchen, nicht Kur, sondern Wort ver­schreibt er. Das ist ein ganz einfaches Rezept: Hör mein Wort, lies mein Wort, leb mein Wort.

Es könnte sein, dass Sie trübe Erfahrungen mit dem Geschwätz in der Kirche gemacht haben, aber das darf Sie nicht am Wort irremachen. Es könnte sein, dass Sie ungute Erlebnisse mit dem Gefasel in der Kirche gehabt haben, aber das darf Sie nicht am Wort zweifeln lassen. Es könnte ja sein, dass Sie böse Erinnerungen an Worthülsen in der Kirche haben, aber das darf Sie nicht vom Wort Gottes bringen.

Im Wort realisiert sich personale Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch. Im Wort bewegt sich Gott auf den Menschen zu und öffnet ihm sein Herz. Im Wort redet er, so wie bei Jesaja: "Eure Wege habe ich gesehen, aber ich will sie heilen und sie leiten und ihnen wieder Trost geben, und denen, die da Leid tragen, will ich Frucht der Lippen schaffen. Friede, Friede, denen in der Ferne und denen in der Nähe, spricht der Herr. Ich will sie heilen."(Jes.57,19)

Liebe Gemeinde, oft bin ich schon in Kranken­zimmern und an Krankenbetten gestanden. Einmal traf ich einen geplagten Mann. Die Schmerzen hatten sein Gesicht gezeichnet. Er war physisch und psychisch am Ende. Nachdem er lange von seinen Ärzten berichtet hatte, die ihm alle nicht helfen konnten, schaute er mich gequält an und fragte: "Herr Pfarrer, wissen Sie mir denn einen Arzt?" Ich legte meine Hand auf seinen Arm und antwortete: "Wenn Sie nur von Schmerzen befreit und gesund werden wollen, dann weiß ich auch keinen mehr. Wenn Sie aber heil, ganz heil werden wollen, dann gehen Sie zu Jesus!"

Heilung gibt es nur in der Arztpraxis Jesu.

Amen


[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]