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Pfingsten ist ein Abschiedstag. Pfingsten begann mit Tränen. Aber im Heiligen Geist ist Jesus da. Mit unserem menschlichen Geist ist das nicht zu packen, aber wenn der Heilige Geist uns packt, dann werden wenigstens drei Wirkungen deutlich: Er bewahrt vor dem Zeitgeist, dem Schwarmgeist und dem Ungeist. - Pfingstpredigt aus der Stiftskirche Stuttgart


Wir haben das schon erlebt. Wir haben das schon durchlitten. Wir wissen das: Abschiednehmen ist schwer, liebe Gemeinde. Abschied von einem netten Besuch. Auf dem Bahnsteig werden Hände geschüttelt. “Es war schön, dass du da warst.” Die Zeit verging wie im Flug. Die gemeinsamen Stunden waren viel zu kurz. Man war wieder ein Herz und eine Seele. Jetzt tönt es durch den Lautsprecher: “Am Gleis 6 bitte einsteigen und Türen schließen!” Noch ein kurzer Händedruck. Noch ein freundlicher Blick. Noch ein schnelles Winken: “Tschüss, bis bald!” Dann rollt der Zug davon. Abschiednehmen von einem netten Besuch ist schwer. Oder Abschied von einem guten Freund. Auf dem Schulhof werden Schultern geklopft. “Gratuliere zum Abi!” 13 Jahre lang wurde gemeinsam die Schulbank gedrückt, die Pauker erduldet, die Fünfer erlitten, die Ferien genossen. Jetzt ist’s endlich geschafft. Der eine geht zum Bund, der andere wird Zivi. Lass dir’s gutgehen und take it easy! Jeder zieht seine eigene Straße. Abschiednehmen von einem guten Freund ist schwer. Oder Abschied von einem lieben Mann. Auf dem Friedhof wird ein geschmückter Sarg hinausgetragen. “Warum lässt du mich zurück?” Eine Zeit ohne den Liebsten ist gar nicht vorstellbar. Die Jahre waren durchsonnt von seiner Gegenwart. Der Heimgang reißt eine entsetzliche Lücke. Ein paar Blümchen fallen ins offene Grab. Vielen Dank für alles! Abschiednehmen von einem lieben Mann ist schwer.

Liebe Freunde, die zwölf Jünger Jesu jedoch mussten auf dem Lichthof eines Jerusalemer Hauses nicht nur von einem netten Besuch nachwinken, der auf einer Stippvi­site hereinschaute und kurz “Grüß Gott” sagte. Die zwölf Apostel mussten auf dem Innenhof eines Jerusalemer Hauses nicht nur einem guten Freund nachweinen, der mit ihnen Freud und Leid geteilt und ein Stück Wegs gegangen war. Die zwölf Nachfolger mussten nicht nur einem lieben Mann nachtrauern, der ihr Leben durchsonnt und ihre Tage durchwärmt hatte. Petrus und Andreas, Jakobus und Johannes, Thomas und Philippus und die andern sechs mussten ihren Meister verabschieden, ohne den sie ein Nichts waren. Wegen ihm hatten sie ihren Beruf an den Nagel gehängt. Für ihn setzten sie ihre Existenz aufs Spiel. Auf ihn hielten sie große Stücke. Neben ihm kam Sinn in ihr Tagwerk. Zu ihm drängte ihr ganzes Denken, Fühlen und Hoffen, aber ohne ihn? Jünger ohne Meister sind Waisenknaben. Christen ohne Christus sind Hinterbliebene. Gemeinschaften ohne Jesus sind Trauergesellschaften.

Pfingsten ist kein lieblich Fest, wie Goethe meinte, sondern ein traurig Fest. “Euer Herz ist voll Trauer” sagt Jesus. Pfingsten kein Maientag, wie viele meinen, sondern ein Abschiedstag. “Euer Herz ist voll Trauer”. Pfingsten begann mit Tränen. Wer also heute auch mit Tränen und einem Herzen voller Trauer da ist, mit seinem Weh um einen netten Menschen, mit seiner Sehnsucht nach einem guten Freund, mit seiner Trauer um einen lieben Mann, der ist dem Geheimnis von Pfingsten ganz nahe: “Ich will euch nicht als Waisen lassen. Ich will euch nicht im Stich lassen. Ich will euch nicht mutterseelenallein zurücklassen.” Jesus schickt den Heiligen Geist. Auch wenn wir sagen, das sei eine billige Vertröstung, sagt er: “Das ist der Tröster, das ist der Geist der Wahrheit, das ist die dritte Person, die mit dem Vater und dem Sohn in heiliger Dreieinigkeit zusammenlebt.” Im Heiligen Geist ist Jesus nicht fern, sondern näher geworden. Im Heiligen Geist ist Jesus nicht kleiner, sondern größer geworden. Im Heiligen Geist ist Jesus da, heute, jetzt. Mit unserem menschlichen Geist ist das nicht zu packen, aber wenn der Heilige Geist uns packt, dann werden wenigstens drei Wirkungen deutlich.

1. Er bewahrt vor dem Zeitgeist

… der von außen zu uns kommt. Dieser will uns weismachen, dass unsere Welt- und Lebenslage gar nicht so triste sei, wie dies religiöse Schwarzmaler ständig weismachen wollen. Auch wenn wir keine Münchhausen sind, die sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen können, smarte Figuren sind wir allemal, die sich mit dem eigenen Kopf helfen können. “Ich glaube an den Heiligen Geist des Fortschritts”, hat Ludwig Feuerbach diesen Zeitgeist beschrieben.

Wäre er schon zu Zeiten des verlorenen Sohnes herumgegeistert, dann hätte dies folgendermaß­en ausgesehen: Nachdem der Filius nicht wie ein Kettenhund auf dem Hof leben wollte, landete er schließlich bei den Schweinen am Trog: vergessen, verlassen, verkauft. Dann kam der Erste und sagte: “Freund, du brauchst nur eine gute Therapie. Du musst deinen widerlichen Chef annehmen, du musst die grunzenden Tiere annehmen, du musst dich endlich selbst annehmen. Nur wer sich selbst annimmt, verändert die Lage.” Dann schaut der Zweite vorbei und sagt: “Freund, du brauchst nur eine richtige Ideologie. Du musst die ungerechten Herrschaftsstrukturen durchschauen, du musst dich mit den Schweinehirten aller Länder vereinigen, du musst die reichen Landbesitzer beseitigen. Nur wer aufmuckt, verbessert die Lage.” Dann meint der Dritte und sagt: “Freund, du brauchst eine gescheite Philosophie. Du musst nicht alles so tierisch ernst nehmen. Du musst heiter und gelassen bleiben. Du musst an den Sieg des Guten glauben. Wer guten Muts bleibt, verändert die Lage.” Der verlorene Sohn aber merkt: Diese Zeitgeister sind leidige Tröster. Was nützt mir die Selbstannahme, wenn mein Vater mich nicht mehr annimmt? Was nützt mir die Verdrängung der Verhältnisse, wenn das Verhältnis zu meinem Vater nicht mehr stimmt? Was nützt mir der Glaube an das Gute, wenn mir mein Vater nicht mehr gut ist? Ich brauche keinen Therapeuten und keinen Ideologen und keinen Philosophen, sondern den Vater, der mir sagt: Du darfst heimkommen.

Und genau das will Gott durch den Heiligen Geist sagen. Unser Hauptproblem ist nicht das Verhältnis zu uns selbst, zu unseren Fragen, Kompliziertheiten, Neurosen und Depressionen. Unsere Hauptschwierigkeit ist nicht das Verhältnis zu den andern, zur Frau, zu Kindern, zu Kollegen. Unsere Hauptfrustration ist nicht das Verhältnis zur Welt, zu Krieg, Hunger, Unterdrückung. Das will uns der Zeitgeist vorgau­keln, um uns von der Hauptnot abzulenken. Die aber ist unser Verhältnis zu Gott. Wir sind von ihm abgekommen. Wir sind von zuhause weggekommen. In der Fremde ist alles so schwer. Der Heilige Geist aber öffnet die Augen über die Sünde, das ist der Graben zwischen uns und Gott. Und der Heilige Geist öffnet die Augen über die Gerechtigkeit, das ist die Brücke über den Graben zwischen uns und Gott. Sie sind in keiner Ferne, aus der Sie nicht zurückkehren könnten. Sie sind in keiner Tiefe, aus der Sie nicht heimfinden könnten. Sie sind nicht von allen guten Geistern verlassen, denn der Heilige Geist sagt es gegen jeden Zeitgeist: “Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.” Er bewahrt vor dem Zeitgeist.

2. Er bewahrt vor dem Schwarmgeist

… der von innen zu uns kommt. Dieser will uns weismachen, dass es diesen Heimweg ins Vaterhaus gar nicht brauche. Wenn Jesus sagt: “Ich bin der Weg”, dann sei dies ein Umweg, der vom Schnellweg zu Gott wegführe. Jeder ist gottunmittelbar, sagt der Schwarmgeist. Unser verlorener Sohn kann sich die Mühen sparen. Er muss sich nicht aus dem Schweinestall davonstehlen. Er muss sich nicht voller Gewissensbisse nach Hause bemühen. Umkehr ist unnötig. Direkt neben dem Trog und inmitten der Schweineherde kann er aufstehen, die Hände hochhalten und wieder Kontakt aufnehmen, denn jeder hat eine Direktleitung zu Gott. Über diesen heißen Draht ist er direkt mit der himmlischen Zentrale verbunden und kann göttliche Worte hören und göttliche Visionen empfangen. “So hat’s mir der Heilige Geist gesagt” beschloss mein Gegenüber seine Ausführungen. Und ich entgegnete: “Ich glaub’s Ihnen, dass dies der Geist gesagt hat. Nur war das nicht der Heilige Geist, sondern der Schwarmgeist, denn der Heiligen Geist hat sich ein für allemal an das Wort der Schrift gebunden, wie Jesus sagt: “Aus dem Meinen wird er nehmen und euch erinnern an all das, was ich euch gesagt habe.”

Zu Pfingsten wurde uns keine Direktleitung von Gott ver­sprochen, wohl aber eine Oberleitung durch die Schrift. Wir kriegen keine neuen Worte, aber die alten Worte neu. Wir bekommen keine neuen Bilder, aber die alten Bilder neu. Wir bekommen keine neuen Offenbarungen, aber die alten Offenbarungen neu. Christen fahren seit Pfingsten mit Oberleitung. Von dort erhalten wir die Kraft, die uns auf der richtigen Bahn hält. Von dort erhalten wir die Energie, die uns die notwendige Schubkraft verleiht. Von dort erhalten wir das Licht, das uns in unserem Dunkel hell macht. Von dort erhalten wir jenen Strom, der uns auch bei Minusgraden unserer Beziehungen wärmt. Von dort erhalten wir all das, was wir zum Leben und Sterben brauchen.

Christen fahren seit Pfingsten mit Oberleitung. Von dort erhalten wir die Kraft, die uns auf der richtigen Bahn hält.

Deshalb ist die Bibel das Trostbuch schlechthin, in dem sich der Tröster zu Wort meldet. “Wenn wir glauben könnten”, sagt Luther, “dass der Heilige Geist selbst in der Heiligen Schrift mit uns spricht, dann würden wir eifriger darin lesen. Wir wären sicher, dass hier unser Lebensglück geschmiedet wird.”

Lassen Sie sich nicht verunsichern. Der Heilige Geist hat nichts Spektakuläres an sich. Auf Taubenfüßen kommt er in die Welt und im biblischen Wort kommt er zu uns. Wo sich einer durch die heilige Schrift leiten lässt, hat er die Oberleitung durch den Heiligen Geist. Er bewahrt vor dem Schwarmgeist.

3. Er bewahrt vor dem Ungeist

… der von unten kommt. Dieser will uns weismachen, dass es einen Gott und Vater überhaupt nicht gibt. Bei dem französischen Schriftsteller Paul Celan, der in der Seine bei Paris den Freitod suchte, wurde in der Jacke ein Zettel gefunden: “Niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm. Niemand bespricht unseren Staub. Gelobt seist du Niemand.” Also niemand hilft dem verlorenen Sohn aus dem Dreck. Niemand steht uns in unserem Elend bei. Gelobt seist du Niemand. Das sagt der satanische Geist, der teuflische Geist, der Geist des Fürsten dieser Welt, der auch uns tödlich bedroht. Es gibt Gefahren für unsere Natur, wenn der Ausbeutung kein Einhalt geboten wird. ES gibt Gefahren für unser Geld, wenn die Finanzen nicht saniert werden. Es gibt Gefahren für unseren Frieden, wenn die Brandherde nicht gelöscht werden können. Die Gefahr aller Gefahren ist aber der altböse Feind, der uns eine Todeinsamkeit vorspielt.

Dazu eine kleine Notiz aus dem Reisetagebuch Israels. Das Volk lagerte sich in der Wüste. Sonne, Hitze, Durst. Und dann das Schlimmste: Schlangen, Vipern, Reptilien. Eine tödliche Bedrohung. Das weiß auch Mose. Er verharmlost die Gefahr nicht, so wie Volksführer Gefahren herunterzuspielen pflegen. Er bläst nicht zum Generalan­griff auf diese Gifttiere, die aus allen Löchern kriechen. Mose rammt ein Holz in die Erde und ruft: “Wer dieses Zeichen sieht, soll leben.” Menschen sahen hinauf. Am Holz sind sie gerettet.

Bis heute ist das Böse von unten unsere Bedrohung. “Die alte Schlange, das ist der Teufel und Satan”, sagt die Bibel. Das weiß Jesus. Er verharmlost die Gefahr nicht, indem er bittet, den Teufel zum Teufel zu jagen. Er bläst nicht zur Hexenjagd gegen alles Satanische. Gott rammt einen Balken in die Erde. Dort nagelt er seinen Sohn fest. Damit richtet er den Fürst dieser Welt. Dadurch verdammt er den Ungeist. Wer das Kreuz sieht, soll leben. Der Heilige Geist öffnet die Augen, dass wir unsere Rettung erkennen können. Er bewahrt vor dem Ungeist, dem Schwarmgeist und dem Zeitgeist.

Liebe Freunde, Abschiednehmen ist schwer. Wird es leichter, wenn uns der nette Besuch auf dem Bahnhof einen Blumengruß schenkt? Wird es leichter, wenn der gute Freund auf dem Schulhof ein Erinnerungsfoto überreicht? Wird es leichter, wenn der liebe Mann auf dem Friedhof ein reiches Erbe hinterlässt? Ich glaube nicht. Abschiednehmen ist erst dann leicht, wenn der Scheidende sagt: “Ich komme bald wieder.” Das hat Jesus gesagt. An Pfingsten ist es wahr geworden. Jesus ist da und niemand muss ohne ihn leben, der Säugling nicht, auf dem noch ein Hauch der Ewigkeit liegt und der Senior nicht, der schon den Hauch der Ewigkeit spürt, niemand. Gelobt seist du Herr!

Amen

[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]