Blutrache
Blutrache. Diese weitverbreitete Sitte, welche aus dem Mangel geordneter Rechtszustände hervorgegangen ist, stand in Israel unter göttlicher Geduld. Kann man auch nicht sagen, daß 1 Mo. 4,14 und 9,6 schon die Blutrache erwähnt oder gar anerkannt sei, so ist doch gewiß, daß sie älter war als das Volk Israel, s. 1 Mo. 27,43-45. Das Gesetz (2 Mo. 21,12-14; 4 Mo. 35,9-34; 5 Mo. 19,1-13) bemühte sich, die einmal herkömmliche Blutrache so viel als möglich vor Ausschreitungen zu bewahren. Es wurde im Fall eines Mordes oder unvorsätzlichen Totschlags dem Bluträcher gestattet, den Täter zu verfolgen. Es war diese Sühne eine Angelegenheit der ganzen Familie, wie man aus 2 Sa. 14,7 sieht. Die nächste Verpflichtung, die aber dem, der sich ihr entzog, nicht Strafe, sondern nur Schande einbrachte, lag dem nach dem Erbrecht nächsten Angehörigen ob. Er hieß der Bluträcher (Goel). Dieser durfte nur am Täter selbst, nicht aber an dessen Familie Rache nehmen (5 Mo. 24,16). Weil nun aber derjenige, welcher unabsichtlich, durch Fahrlässigkeit oder aus Notwehr einen anderen erschlagen hatte, von dem gemeinen Mörder unterschieden werden sollte, so bezeichnete das Gesetz sechs Freistädte (s. d. Art.), wohin der Totschläger flüchten durfte. Der Bluträcher verfolgte ihn dorthin. Wurde er unterwegs eingeholt, oder verließ er nachher die Freistadt und fiel dem Bluträcher in die Hände, so durfte dieser ihn töten. Erreichte er aber eine Freistadt, so mußten die Ältesten derselben vorläufig die Sache untersuchen. Erschien der Bluträcher, so wurde der Flüchtling der Gemeinde, in welcher die Tat geschehen war, ausgeliefert, und hier wurde vom Amtsgericht darüber entschieden, ob die Tat mit oder ohne Vorbedacht geschehen sei. Im ersteren Falle wurde der Schuldige dem Bluträcher ausgeliefert, und selbst der Altar schützte ihn nicht vor dem Tode, 2 Mo. 21,14. Handelte es sich aber nicht um Mord, so wurde der Täter in die Freistadt zurückgebracht und war dort vor der Rache sicher, falls er dieselbe nicht vor dem Tod des Hohenpriesters verließ. Letzteres Ereignis galt als eine Art von Landestrauer, bei welcher ähnlich wie jetzt bei einem Regierungswechsel eine Amnestie eintrat. Wie nun der Mörder unter allen Umständen sterben mußte, so durfte der Totschläger sich nicht durch ein Wehrgeld abfinden, sondern er mußte die Strafe der Verbannung tragen. Die Blutrache bestand noch zu Davids Zeit, s. 2 Sa. 14,6-11, und man kann nicht sagen, wann sie aufgehört hat. Vermutlich erlosch sie mit der zunehmenden Milderung der Sitten von selbst. Übrigens zeigt die angeführte Stelle, daß der König befugt war, auch der zu Recht bestehenden Blutrache jeweilig zu wehren.