Daheim

"Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns"
Konrad Eißler

Was fehlt uns, damit unser Heim zum Daheim wird? Der Bibeltext gibt die Antwort: Nicht irgendjemand, sondern jemand gewisses fehlt: Jesus Christus. - Silvesterpredigt aus der Stiftskirche Stuttgart


Der Vogel, der in den Zweigen sitzt, hat ein Nest. Und der Hund, der die Leute verbellt, hat eine Hütte. Und die Katze, die durch den Garten streicht, hat einen Korb. Und das Pony, das die Kinder erfreut, hat einen Stall. Ein Haus kennt nur der Mensch. Eine Wohnung hat nur der Mensch. Ein Heim will nur der Mensch, ein Heim, in das er heimkehren kann, ein Heim, in dem es ihm heimelig ist, ein Heim, das ihm zur Heimat wird. Weh den Heimatlosen und Wohnsitzlosen. Wir alle brauchen ein Heim, in dem wir daheim sind. Deshalb sind so viele auf der Suche nach diesem Heim, das zuerst bezahlbar sein muss. Obwohl 22 Millionen Häuser im Bereich der Bundesrepublik stehen, stehen keine Häuser leer. Die noch angebotenen Immobilien haben astronomische Preise. Tenniscrack auf einem Weltranglistenplatz müsste man sein, um sich dort einkaufen zu können. Und wenn dann auf Umwegen, über Beziehungen, mit Vorauszahlung eine Wohnung ergattert wird, dann liegt sie zwischen lauten Nachbarn, die nicht vom Feinsten sind. Dieses bezahlbare Heim wird nicht zum Daheim. Deshalb sind so viele auf der Suche nach einem Heim, das dann auch ordentlich ist. Viele Kasernen, Altbaus, Baracken verdienen gar nicht mehr den Namen Wohnung. Heinrich Zille gebrauchte den drastischen Vergleich: Man kann einen Menschen mit einer Wohnung genau so erschlagen wie mit einem Beil. Viertel gibts, die ihren Ruf weg haben und aus denen man weg will. Und wenn dann eine Bleibe im guten Wohnviertel gefunden wird, dann ist sie nach Norden gelegen, dunkel, feucht, kalt. Dieses ordentliche Heim wird nicht zum Daheim. Deshalb sind so viele auf der Suche nach einem Heim, das vor allein gemütlich ist. “In seinem Haus ist selbst der Arme ein Fürst” sagt eine jüdische Spruchsammlung. Tapeten nach eigenem Geschmack werden geklebt. Stilmöbel nach neustem Design werden gekauft. Vom Teppich bis zum Teeservice muss alles stimmen. Und wenn dann das Nest piekfein gerichtet ist, dann sitzt man mutterseelenallein in der ganzen Pracht. Dieses gemütliche Heim wird nicht zum Daheim. Deshalb sind so viele auf der Suche nach einem Heim, in dem gemeinsam gelebt werden kann. Austausch und Verstehen gehören zum Urverlangen des Menschen. Kein “Grüß Gott”, wenn man nach Hause kommt, ist schrecklich. Niemand will im Spiegelsaal leben, in dem man nur sein eigenes Gesicht wiederfindet. Und wenn dann der Partner eingezogen ist, dann dauert es nicht lange, bis die Spannungen kommen, Sticheleien, Streitereien, Krach. Dieses gemeinsame Heim wird nicht zum Daheim. Deshalb geht die Suche weiter, immer weiter. Aber was suchen wir, wenn das bezahlbare Heim nicht reicht, wenn das ordentliche Heim nicht genügt, wenn das gemütliche und gemeinsame Heim nicht zur Heimat wird? Was fehlt uns, damit unser Heim zum Daheim wird? Liebe Freunde, der heutige Text, nach neuesten Erkenntnissen ein Lied, gibt Antwort. In zwei Strophen wird uns gesagt, dass nicht etwas fehlt, sondern jemand. In sechs Zeilen wird uns mitgeteilt, dass nicht irgendjemand, sondern jemand gewisses fehlt. In vielen Worten wird uns verkündigt: Es fehlt der, der ein Daheim hat, der ein Daheim sucht und der ein Daheim schafft, kurzum: Es fehlt Jesus Christus. Gehen wir der Reihe nach.

1. Es fehlt der, der ein Daheim hat. Jeder hat eine Heimat. Dort liegen seine Wurzeln. Von diesem Daheim kommt er nicht los. Der eine ist auf dem Land geboren. Seine ganzen Jugendjahre ver­brachte er auf dem elterlichen Hof. Felder und Wälder und Luft und Weite haben ihn geprägt. Der andere ist in der Kleinstadt geboren. Seine ganzen Kinderjahre verbrachte er in den engen Gässchen. Sparsamkeit und Sauberkeit und Pünktlichkeit und Kirch­lichkeit haben ihn geprägt. Der dritte ist in der Metropole geboren. Sein ganzes Leben lebte er nur in der Großstadt. Konzert, und Theater und Museen und Galerien haben ihn geprägt. Und Jesus war im Bethlehemer Viehstall geboren und in Nazareths Holzwerkstatt groß geworden. Seine besten Jahre verbrachte er in einem Provinznest. Aber Ochs und Esel und Provinzialität und Hinterwäldlertum prägen ihn nicht. Jesus hat nämlich eine andere Heimat. Wer seine Wurzeln finden will, muss weiter zurück in der Geschichte. Nicht nur bis zum Tempel, in dem ein Priester Zacharias und ein Prophet Jesaja zuhause war, er muss weiter zurück. Nicht nur bis zum Königshaus, in dem ein König Josia und ein König David zuhause war, er muss weiter zurück. Nicht nur bis zur Stiftshütte, in der ein Führer Josua oder ein Führer Mose zuhause war, er muss viel, viel weiter zurück, nämlich bis an den Anfang aller Dinge. Im Anfang war das Wort. Im Anfang war der Sohn bei dem Vater. Im Anfang war es wüst und leer auf der Erde, aber strahlend und lichtvoll im Himmel. Jochen Klepper hat am Heiligen Abend richtig gesungen: “Wo warst du Herr, vor dieser Nacht? Der Engel Lob ward dir gebracht. Bei Gott warst du vor aller Zeit. Du warst der Glanz der Herrlichkeit” Wir legen ihn als süßes, putziges, herzallerliebstes Jesulein in die Krippe, über der flatternde Rokokoengelchen ihr Eiapopeia singen und an der rotbackene Hirtenbübchen ihre Schalmeien blasen. Warum nehmen wir als Muttersöhnchen auf den Arm und machen ihn zu einem kitschigen Bild der Kindlichkeit? Aber Jesus Christus ist der Glanz der Herrlichkeit. Wir taufen ihn, und so geschehen in einer neuen Publikation, als kluges, modernes, aufgeschlossenes Mädchen mit dem Namen Jesa Christa um, die sich an die Spitze der Frauenbewegung stellt und für Gleichberechtigung kämpft. Warum zwingen wir ihm zum Wortführer unserer wechselnden Interessen und machen ihn zu einem Bild der Mütterlichkeit? Aber Jesus Christus ist der Glanz der Herrlichkeit. Wir satteln ihn immer wieder um und spannen ihn vor jeden Karren, den wir gerne auf dem hohen Ross unserer Einbildung und natürlich auf der Höhe der Zeit durch die geistliche Landschaft kutschieren. Warum degradieren wir ihn zum Karrengaul und machen ihn zum Bild der Erbärmlichkeit? Aber Jesus Christus ist der Glanz der Herrlichkeit. Die Ewigkeit ist seine Heimat. Im Himmel liegen seine Wurzeln. Beim Vater ist er daheim. Umso erstaunlicher die zweite Aussage.

2. Es fehlt der, der ein Daheim sucht. Ist ihm die alte Heimat über? Braucht er endlich Abstand vom Vaterhaus? Will Jesus sich selbst verwirklichen? Warum sucht der ein Daheim, der ein Daheim hat? Einzig und allein deshalb, weil er unsere Häuser kennt, in unsere Wohnungen hineinsieht, sich in unseren vier Wänden auskennt und merkt, dass wir wohl ein Heim haben, aber dort nicht mehr daheim sind, heimwehkrank im eigenen Heim, heimatlos in der eigenen Heimat. “Da jammert Gott in Ewigkeit mein Elend übermaßen.” Er steckte die ganze Lichtherrlichkeit, um uns in der Dunkelheit ein Licht anzustecken. Wenn es nach seinem Kopf gegangen wäre, wäre er lieber beim Vater geblieben. Aber es ging nach seinem Herz, und dieses Herz ist nach Luther ein Back­ofen voller Liebe. Deshalb ließ sich Jesus herab und kam auf diese Erde, deshalb wurde das Wort Fleisch.

Und dann wird wegen ihm kein Lichterbaum angezündet. Und dann stand kein Empfangskomitee bereit. Und dann gabs keine Blumen zum Welcome. Und dann erging es ihm wie dem Soldaten im Winter 1943, der für einen Kurzurlaub nach Hause fahren durfte. Als endlich der Zug in dem heimatlichen Bahnhof einfuhr und der Landser nach Hause stürzte, wurde ihm zuerst gar nicht aufgemacht. Als er dann die Wohnung betrat, merkte er, dass es die Frau mit der ehelichen Treue keineswegs genau genommen und die Wohnungseinrichtung fast vollständig verkauft hatte, weil sie für ihre Liebhaber Geld brauchte. Als ihr Mann daraufhin zur Rede stellte, wies sie ihm kurzerhand die Tür und sagte, er könne sich ja scheiden lasse, wenn ihm das nicht passe. Von fremden Menschen nicht eingelassen zu werden, damit muss man rechnen. Von den eigenen die Tür vor der Nase zugeworfen zu bekommen, ist grässlicher Schmerz und tiefste Ernied­rigung. Solch bodenlose Gemeinheit erlebte im Jahre ‘43 jener Urlauber. Solch bodenlose Gemeinheit erlebte im Jahre ‘0 der Sohn Gottes. Er kam in sein Eigentum, aber da war kein Platz in der Herberge. Er kam in sein Eigentum, aber da flog er hochkant aus der Stadt. Er kam in sein Eigentum, da gerbten sie ihm die Haut. Er kam in sein Eigentum, da schlugen sie ihn an den einzigen freien Platz für ihn, nämlich ans Kreuz. Er kam in sein Eigentum und die Seinen nahmen ihn nicht auf. Er kam, sah und siegte - wie der römische Feldherr? Nein, er kam, sah und verlor, das ist der göttliche Hausherr. Trotzdem steht er wieder da. Bis zu dieser Stunde ist er nicht der Brüllende, der uns von oben her andonnert, nicht der Polternde, der sein gültiges Besitzrecht durchsetzt, nicht der Fordernde, der unsere Wohnung beschlagnahmt. Jesus geht als der Klopfende durch unsere Stadt: “Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wenn jemand meine Stimme hören wird und auf tun, zu dem werde ich eingehen.” Ja wenn. Und wenn nicht? Und wenn wir ihm nicht aufmachen? Er ist der, der ein Daheim sucht. Und das Letzte.

3. Es fehlt der, der ein Daheim schafft, weil wir geschafft sind und es selber nicht mehr schaffen. Wir müssen nur aufschließen, den Riegel unseres Zweifels zurückschieben, die Klinke des Ver­trauens in die Hand nehmen, die Tür zum ganz Privaten öffnen und bitten: “Sei mir willkommen, edler Gast, den Sünder nicht verschmähet hast.” Aber dann soll er nicht im Hausgang stehen bleiben. “Gott wohnt dort, wo man ihn einlässt”, sagt ein chassidisches Sprichwort. Öffnen wir ihm das Wohnzimmer. Chic ist’s, ansehnlich, wohnlich. “Herr, hier sitzen wir am Feierabend, richtiger, sollten wir sitzen. Aber der Mann kommt erst spät nach Hause und die Kinder haben ihre Freunde. So hock’ ich Stunden allein vor dem Fernseher: Tagesschau, Pfarrerin Lenau, Wetten dass. Zum Heulen.” Aber dieser Herr will in diesem Alleinsein Tränen trocknen. Er wohnt dort, wo man ihn einlässt. Führen wir ihn ins Arbeitszimmer: ungeordnet, Stapel von unerledigter Post, viel durcheinander. “Herr, hier fehlen mir einfach die Stunden. Es reicht hinten und vorne nicht. Manche Dinge kriege ich gar nicht vom Tisch, weil sie meine Kraft überfordern. Zum Verzwei­feln.” Aber dieser Herr will in dieser Verzweiflung Kraft geben. Er wohnt dort, wo man ihn einlässt. Zeigen wir ihm das Krankenzimmer: dämmrig ist’s, kühl, totenstill. “Herr, hier liegt seit Monaten die kranke Mutter, die wir aufgenommen haben. Ihr Lebenlicht flackert nur noch wie eine heruntergebrannte Kerze. Ob’s Tage oder Wochen sind, bis es erlischt, wir wissen es nicht. Einfach traurig.” Aber dieser Herr will in dieser Traurigkeit Trost schenk­en. “Mit dir will ich endlich schweben, voller Freud, ohne Leid, dort im andern Leben.” Gott wohnt dort, wo man ihn einlässt. Natürlich haben wir das Schlafzimmer zugeschlossen. Gäste bittet man nicht in diesen Raum. Niemand geht es etwas an, wie viel Nächte zu bitteren Wegstrecken geworden sind. Aber dieser Herr will auch in der Nacht mit auf dem Wege sein. Gott wohnt dort, wo man ihn einlässt. Es soll keine Ecke mehr geben, wo er nicht ein Licht anzündet, das heute schon seine Herrlichkeit wider­spiegelt.

Liebe Freunde, wer von uns Älteren denkt an solchen Festtagen nicht zurück: als der Vater noch den Christbaum auf­stellte und mit einem Goldrauschengel krönte, als die Mutter noch die Puppenstube herrichtete und mit einem aufziehbaren Steinway-Flügel ausstatte, als noch die Geschwister Eisenbahn spielten und die Züge entgleisen ließen, als noch eine einzige Melodie das Haus erfüllte: “O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit.” Als Kinder waren wir an Weihnachten daheim. Und hier heißt es: Die ihn aber aufnahmen, denen gab er Macht, Gottes Kinder zu werden.” Als Gottes Kinder können wir wieder an Weihnachten daheim sein, wo auch immer wir wohnen, wegen Jesus.

Amen.