Was sich gehört

Zusammenleben in der Gemeinde Jesu
Konrad Eißler
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Zusammenleben in der Gemeinde - wie soll das aussehen? Paulus stellt klar, was sich in der Gemeinde Antiochiens, Jerusalems, Roms und Stuttgarts gehört, nämlich unter ein Dach gehören, auf eine Bank gehören und an einen Tisch gehören. - Predigt aus der Stiftskirche Stuttgart.


[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]

Das gehört sich nicht. So hört es der ABC-Schütze in der Schule. Während der Unterrichtsstunde packt der Bub sein Vesperbrot aus, verschlingt genüsslich die Salamischeiben, dreht aus dem Rest runde Kugeln und schießt der Lehrerin mitten ins Gesicht. Weil handgreifliche Lektionen nicht mehr zeitgemäß sind, redet sie ihm pädagogisch liebevoll ins Gewissen: Das Klassenzimmer ist keine Schießbude und die Klassenlehrerin keine Zielscheibe. Wo kämen wir denn hin, wenn jeder sein Butterbrot vermunitioniert? Zielschießen im Unterricht gehört sich nicht. Der Bub lernt mit einigen Schmerzen, was sich in der Schule gehört.

Das gehört sich nicht. So hört es der Sohn in der Familie. Auf seinem Schreibtisch liegen die neuen Unterrichtsbücher der Oberstufe. Der Vater liest einen Titel: “Aussagenlogik und Schaltalgebra”. Obwohl er selbst einmal das Abitur gemacht hat, schaltet ihm bei solcher Aussage die Logik ab. Deshalb fragt er seinen Sprössling: “Du, ist das jetzt Philosophie oder Physik?” Aber der Filius streicht sich durch die langen Haare und murmelt in seinen Bart: “O Alter, das checkst du nicht!” Nun aber fasst sich die dabeistehende Mutter ein Herz: “Dein Vater ist kein Kumpel. Wo bleibt der nötige Respekt? Frechwerden in der Familie gehört sich nicht.” Der Sohn lernt kaum mehr, was sich in der Familie gehört.

Das gehört sich nicht. So hört es gewiss der Auszubildende im Betrieb. Der zukünftige Feinkosthändler erscheint mit Lederjacke, Halskette und Ohrring zur Arbeit. Der Filialleiter nimmt ihn deshalb auf die Seite und erklärt: “Unser Lebensmittelgeschöft ist keine Disco. Wo hast du deine Krawatte? Rockerkleidung im Laden gehört sich nicht.” Der Auszubildende lernt langsam und mühsam, was sich im Betrieb gehört.

Das gehört sich nicht. Genau so hört es der Apostel in der Gemeinde. Petrus sitzt als Besucher in Antiochien beim sogenannten Liebesmahl, einem wichtigen Bestandteil der frühchristlichen Gemeinde. Groß und Klein, Hoch und Nieder, Herr und Sklave treffen sich hier regelmäßig zu einem fröhlichen Beieinander und Miteinander. “Siehe, wie haben sie ein­ander so lieb” lautet bezeichnenderweise ein römischer Steckbrief für die kleinasiatischen Christen. Dann aber erscheinen ein paar strenggläubige Juden an der Tür, winken den Petrus heraus, halten ihm das Gesetzbuch unter die Nase und trommeln auf ihn ein: “Die Gemeinde ist kein Eintopf. Schließlich sind wir Juden und gehören zum auserwählten Volk. Die Gemeinde ist kein Tuttifrutti. Nur in unseren Adern fließt Abrahams Blut. Die Gemeinde ist kein Leip­ziger Allerlei. Durch uns sollen andere gesegnet werden. So heißt die Verheißung. Petrus, wie kannst du in diesem Raum bleiben, Schulter an Schulter mit diesen Heiden und dann noch bei Hasenschlegel und Schweinebraten zugreifen, wo dies nach 3. Mose 11 ausdrücklich verboten ist? Gemeinschaft mit Nichtjuden gehört sich nicht.” Der Apostel lernt das, was sich anscheinend in der Ge­meinde gehört. Mit Barnabas zusammen schleicht er sich aus dem Saal, betritt ein anderes Gebäude und setzt sich mit einem exklusiven Zirkel separat. Davon erfährt Paulus. Der Heidenapostel ist entsetzt. Solch eine Haltung darf doch nicht wahr sein. Rückfall in Tabus ist Abfall von Gott. Deshalb fackelt er nicht lange. Leidenschaftlich legt er sich ins Zeug. Auch vor einem Petrus schreckt er nicht zurück. Eine unrühmliche Tat lässt sich niemals dadurch rechtfertigen, dass sie von einem berühmten Mann begangen wurde. Paulus stellt mit aller wünschenswerten Deutlichkeit klar, was sich in der Gemeinde Antiochiens, Jerusalems, Roms und Stuttgarts gehört, nämlich 1. unter ein Dach gehören, das gehört sich, 2. auf eine Bank gehören, das gehört sich und 3. an einen Tisch gehören, das gehört sich. Schauen wir uns diese drei Sätze an:

1. Unter ein Dach gehören, das gehört sich.

Der großartige russische Schreiber Boris Panteleimonow erzählt einmal von einem Mann, der durch den Urman, jenen ungeheuren Urwald Sibiriens irrt. Keiner weiß dort einen Weg. Niemand kennt dort einen Steg. Das Leben im Urman ist unheimlich. Eines Nachts schreckt er hoch und starrt ins Dunkel. Der Flüchtige hört den Flug eines schweren Vogels und noch einen und noch einen. Nein, irgendetwas ist nicht in Ordnung im Wald. Ein Unglück steht bevor. Schon fliehen die Tiere. Dann begreift er: Feuer. Der Wald brennt. Das Grauen ist unterwegs. Hilfesuchend schaut er sich um. Soll er suchen, fliehen, graben, fällen? Aber bald ist ihm klar: Alles, was ich tun könnte, hilft nichts. Ein Dach sollte ich haben, ein feuerfestes Dach, aber im Urman gibt es das nicht. Der Tod ist mir auf den Fersen.

Liebe Freunde, unsere Welt ist wie der Urman. Wer weiß noch einen Weg? Wer kennt noch einen Steg? Das Leben ist doch unheimlich. In der Nacht schrecken wir hoch und starren ins Dunkel. Irgendetwas liegt in der Luft. Der Schrecken ist unterwegs. Uns schwant nichts Gutes. Brandgeruch dringt durch alle Ritzen. Viele begreifen: Feuer, aber nicht nur das Feuer der Gewehrläufe und Raketenbatterien, sondern das Feuer des göttlichen Zorns. “Ihr sollt innewerden und erfahren, was es für Herzleid bringt, den Herrn, euren Gott verlassen.” Die Welt brennt. Der Tod ist unser Schicksal. Hilfesuchend schauen wir in alle Himmelsrichtungen und wissen doch: Alles, was wir tun können, hilft nichts. Ein Dach sollten wir haben, ein feuerfestes Dach, aber in der Welt gibt es das nicht. Und Paulus unterstreicht unsere Hilflosigkeit. Alle menschlichen Machwerke sind nutzlose Strohdächer, die beim ersten Funken Feuer fangen. Alle frommen Bau­werke sind windige Schutzdächer, die beim kleinsten Feuer in Flammen aufgehen. Alle noch so gut gemeinten Werke retten kein Stück Fleisch, schreibt der Apostel. Trotzdem ist die Lage nicht hoffnungslos. Einer nämlich wurde in dieser Welt geboren, einer, der den Weg kennt, einer, der den Steg weiß, einer, der sich nicht fürchtet. Unter unsäglicher Mühe spannte er die Plane seiner Liebe aus. An vielen Ecken wurde sie festgezurrt und am Holzstamm von Golgatha hochgezogen. Seit Jesus Christus gibt es das Zelt seiner Gemeinde, das auch dem letzten Feuersturm gewachsen ist. Er selbst steht am Eingang und lädt mit seinen verschafften, ja durchbohrten Händen ein: Kommt her, die ihr durch den Wald irrt! Kommt her, die ihr ins Dunkel starrt! Kommt her, die ihr den Brand riecht! Kommt her, die ihr das Chaos ahnt! Kommt her, die ihr den Tod fürchtet! Kommt alle her! Wir müssen doch keine Flüchtigen werden. Wir müssen kein Irrläufer bleiben. Wir müssen keine Obdachlosen sein. Ein Dach überm Kopf gibt es, das allen Wettern trotzt. Unter seinem Schutz kann uns auch die größte Hitze kein Haar mehr absengen. Das Zelt seiner Gemeinde ist feuerfest. Und wenn uns Jesus dort hineinruft, dann darf uns keiner herauswinken, weil es nur dies eine Dach gibt, von dem Johann Franck gesungen hat: “Unter deinen Schirmen, bin ich vor den Stürmen, aller Feinde frei.” Unter dies Dach gehören, das gehört sich.

2. Auf eine Bank gehören, das gehört sich.

Wer in die Oper geht, hat eine große Auswahl an Sitzgelegenheiten. Der Hochgestellte mietet eine Loge, von der er gut sieht und in der er gut gesehen wird. Der gut Betuchte leistet sich einen Sperrsitz, der auch den vollen Genuss der Aufführung garantiert. Der Durchschnittsbürger kauft sich je nach Geldbeutel im 1., 2. oder 3. Rang ein, wo er sich in ordentlicher Gesellschaft befindet. Nur Studenten und Schüler klettern ganz hinauf und schwitzen unter dem Operndach. Zwischen Ehrenloge und Zwetschgendörre ist ein himmelweiter Unterschied. Oder wer ins Stadion geht, hat wieder die große Auswahl. Der Sportbegeisterte kann sich auf einem teuren Tribünenplatz neben die Honoratioren setzen. Er kann sich auch auf der Gegengerade unter seinesgleichen wohlfühlen. Er kann sich schließlich in der Kurve unter die Fans mischen und Flaschen werfen. Zwischen Klappsitz und Hohlblock ist eine riesige Differenz. Im Kino und Konzertsaal ist das ähnlich. Immer haben wir die Qual der Wahl. Nur wer in das Zelt der Gemeinde geht, hat an dieser Stelle keine Probleme. Jesus hat keine Logen eingebaut für die Apostel. Er hat keine Sperrsitze eingerichtet für die Judenchristen. Er hat keine Ränge bestimmt für Heidenchristen. In der Gemeinde gibt es weder Ehrenplätze noch Stehplätze. In der Gemeinde gibt es weder Klassenunterschiede noch Standesunterschiede. In der Gemeinde gibt es weder haute volée noch Pöbel. Im Zelt Jesu ist nur eine Sitzgelegenheit zu finden und das ist die Bank. Dort finden sich alle wieder, die Juden und Heiden, die Reichen und Armen, die Großen und Kleinen, die Frommen und Gottlosen. Alle sind vor Gott gleich große Sünder und alle brauchen vor Gott gleich große Vergebung. Doch, die Armsünderbank ist das einzige Sitzmobiliar in Jesu Gemeinde. Aber dort sitzt sich gut. Endlich ausschnaufen nach der Irrfahrt im Urman des Lebens. Dort sitzt sich wohl. Endlich befreit von der Zentnerlast meiner Schuld. Dort sitzt sich angenehm. Endlich nicht mehr nach Kittel und Titel gefragt. Dort sitzt sich fröhlich. Endlich in einer Runde mit denen, die auch singen: “Jesu meine Freude, meines Herzen Weide, Jesu meine Zier.” Nein, die Armsünderbank muss man nicht drücken, so wie man die Schulbank drückt. Man darf sie benützen und Ruhe finden für seine Seele. Es gibt also einen Platz, wo ich nicht eingestuft werde nach Alter und Leistung, wo ich nicht eintaxiert werde nach Geld und Vermögen, wo ich nicht eingereiht werde nach Stand und Etikette, sondern ein Platz, wo ich geliebt und angenommen werde, so wie ich bin. Wer aber meint, dass er einen extra Platz benötige, setzt sich nicht nur daneben, sondern außerhalb der Gemeinde. Deshalb: Auf diese Bank gehören, das gehört sich.

3. An einen Tisch gehören, das gehört sich.

Jesu Zelt ist nämlich betischt. Nur ein Sitzplatz für seine Leute ist ihm zu wenig. Dieser gastliche Herr will mit ihnen tafeln. Er weiß doch, dass seine Gäste hungrig sind: Hunger nach Leben und Durst nach Liebe, Hunger nach Trost und Durst nach Zuspruch, Hunger nach Zuneigung und Durst nach Verständnis, Hunger nach Recht und Durst nach Gerechtigkeit, Hunger nach Friede und Durst nach Versöhnung. Ent­setzliche Hungerleider sind wir alle und das weiß er alles. Deshalb bittet er zu Tisch, zur Ehrentafel und nicht zum Katzentisch. Kelche stehen drauf und Schalen dabei. Jesus als Gastgeber setzt sich dazu und bietet an: “Nehmet hin und esset! Nehmet hin und trinket!” Es ist kein Weizenbrot, das nur einige Stunden vorhält, sondern Lebensbrot, das für immer den Hunger stillt. Es ist kein Beerensaft, der nur noch durstiger macht, sondern Lebenssaft, der für immer den Durst löscht. Es ist überhaupt kein Mittagsmahl, das nur den Magen füllt, sondern Gnadenmahl, das für immer satt macht. Deshalb wirft Paulus diese Gnade auch nicht weg. Einer Wegwerfgesellschaft der Gnade Gottes Gnade Gott! Er greift zu, isst und trinkt und sagt: “Nun lebe nicht ich, sondern Christus lebt in mir.” Doch, Christen haben es in sich. Oft sieht man es ihnen gar nicht an, mit ihren zerfurchten Gesichtern und schweren Schritten, dass sie eine Kraft in sich tragen, die unüberwindlich ist. Die Gnade Gottes liegt nie im Schaufenster. Aber wer in Herzen lesen kann, der entdeckt jene Energie, die aus einer unversiegbaren Quelle gespeist wird. Und wer sich auch danach sehnt, weil er so kraft- und saftlos geworden ist, der ist heute eingeladen, herzlich und dringlich, denn: “Selig sind, die da hungert und dürstet, denn sie sollen satt werden.” An einen Tisch gehören, das gehört sich.

In Antiochien hat Petrus sein chambre separé schnell verlassen und sich wieder zwischen die Gemeinde gesetzt. Sicher etwas kleinlaut und verschämt, aber dankbar dafür, dass er gehört hat, was sich gehört. Hören wir es auch? Unter ein Dach, auf einer Bank, an einem Tisch! Jesus, der Gastgeber und Tischherr lädt ein.

Amen