Kennen wir Jesus?

Konrad Eißler
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Jesus heilt einen Aussätzigen. Aber Jesus will mehr. Er will nicht nur eine heile Haut, sondern auch ein heiles Herz, eine heile Seele, ein heiles Gewissen, ein ganz heiles Leben schenken. Deshalb ist er nicht nur lieb und gut und aufgeschlossen , sondern auch zuweilen zornig, ernst und zugeschlossen. Kennen wir diesen Jesus?


Kennen wir Jesus? Liebe Gemeinde, so fragte der hervorragende Schriftkenner und Theologieprofessor Adolf Schlatter seine Studenten und schrieb als letztes Werk ein Buch mit dem Titel: Kennen wir Jesus? So fragte der vollmächtige Prediger und Evangelist Ludwig Hofacker seine Gemeinde und hielt als unvergessenes Zeugnis eine Predigt mit diesem Thema: Kennen wir Jesus? So fragt der tiefgründige Jünger und Evangelist Markus heute uns. Und ob! antworten wir: Religionsunterricht, Konfirmandenstunde, Kirchenbesuch und Bibellese waren nicht für die Katz. Wir kennen zum Beispiel den lieben Jesus, der sich um die Kinder kümmert. Seine Jünger wollten ihm ein stressfreies Stündlein gönnen und wiegelten ihn vor den aufmarschierenden Kindsmüttern ab. “Fort mit den Babies und Rutschern und Flaschenkindem” fauchten sie, “das Reich Gottes ist kein Kindergarten und Jesus keine Säuglingsschwester!” Aber dieser liebe Herr pfeift seine übereifrigen Personenschützer zurück, nimmt die Dreikäsehochs auf den Arm und stellt klar: Gerade ihnen gehören die Sperrsitze im Reiche Gottes! Wir kennen auch den guten Jesus, der sich einer Ehebrecherin erbarmte. Klerikale Saubermänner aus Jerusalem hatten sie auf frischer Tat ertappt und deshalb zu Jesus geschleift. Sie wollten nur eine höchstrichterliche Bestätigung ihres Todesurteils. Aber dieser gute Herr weiß, wer mit einem Finger auf andere zeigt, zeigt mit drei andern auf sich und deshalb sagt er: Wer unter euch eine weiße Weste hat, der werfe den ersten Stein. Weil aber keiner ausholt, ist sie freigesprochen. Wir kennen auch den aufgeschlossenen Jesus, der selbst für den Tischwein einer Hochzeitsgesellschaft besorgt ist. Ob der bereitgestellte Vorrat zu klein war oder der mitgebrachte Durst zu groß, wissen wir nicht, jedenfalls waren die Flaschen alle. Hinter den Kulissen herrschte eine betretene Hilflosigkeit. Jesus hätte jetzt übers Fasten reden können, übers Verzichten und Maßhalten. Aber dieser aufgeschlossene Herr sagt: Füllet die Krüge und ein guter Tropfen floss in die Gläser. Doch, wir kennen den lieben und guten und aufgeschlossenen Jesus. Das ist recht so und in mancherlei Hinsicht sogar lobenswert. Nur wer daraus den Schluss zieht, er kenne diesen Jesus ganz, der ist auf dem Holzweg. An ihm sind immer neue Seiten zu entdecken. Mit ihm sind immer neue Erfahrungen zu sammeln. Bei ihm kommen wir aus dem Staunen nicht heraus. In Sachen Jesus gibt es keine Professoren, sondern nur Studenten, keine Meister, sondern nur Lehrlinge, keine Ausbilder, sondern nur Azubis, Auszubildende, die bis zu ihrem Lebensende die Stofffülle nicht gepackt haben. Walter Nigg hatte schon recht, wenn er einmal schrieb: “Immer neue Gegensätze treten bei diesem Jesus hervor und machen diese Gestalt zu einem faszinierenden Rätsel. Unmöglich ist es, diese Person ganz zu erfassen, die wie ein Blitz vom Aufgang bis zum Untergang zuckt.” So zeigt uns dieser heutige Text keineswegs nur einen lieben und guten und aufgeschlossenen Heiland, sondern auch einen zornigen, ernsten und verschlossenen Herrn. Kennen wir diesen Jesus? Wir müssen scharf hinhören.

1. Der zornige Jesus müßte sich eigentlich freuen. Da steht ein Mann vor ihm, der einmal als Todeskandidat zur Leprastation gekarrt worden war, hinaus vor die Stadt, mit faulenden Händen, fressenden Geschwüren, übelriechendem Eiter: ausgestoßen, verfemt, abgeschrieben. Über dem Eingang hieß es: Zutritt verboten! Ansteckungsgefahr! Niemand durfte näher als fünfzig Meter heran, außer den Priestern. Sie waren die Vertreter des Gesundheitsamtes, die, je nachdem, einen Gesundheitspass oder einen Totenschein ausstellten. Andere Entlassungspapiere gab es hier nicht. Ein zum Tod Geweihter fristete sein Dasein. Ein vom Leben Ausgeschlossener zählte seine Tage. Wenn es von keinem andern Ort galt, hier galt es: Lass alle Hoffnung fahren! Und dann kam dieser Jesus vorbei. Sein Weg nach Jerusalem berührte diesen Ort des Grauens. Jesu Weg berührt immer Orte des Grauens und der Angst. Davon bleibt er nicht unberührt. Jesus hat Mitleid mit denen, die keine Hoffnung haben. Jesus hat ein Herz für die, die von andern herzlos abgeschrieben sind. Jesus hat offene Ohren für das bedrängte Rufen aus den Elendsquartieren dieser Welt. Deshalb hört er den Anruf aus der Tiefe: Willst du, so kannst du! Wir hätten anders gerufen: Kannst du, so wolle doch! Skepsis macht uns zu schaffen. Zweifel setzen uns zu. Ungewissheit liegt wie ein Mehltau auf unserem Glauben. Und dieses erbärmliche Bündel Mensch setzt alles auf die Karte: Du kannst! Jesus müsste sich freuen, aber er gerät in Zorn. Jesus müsste sich gratulieren, aber er wird wütend. Jesus läuft rot an, so lautet die ursprüngliche Lesart im Text. Warum? Er sieht nicht nur die handgroßen Knoten auf der Haut, er bemerkt nicht nur die strahligen, weißen Narben auf dem Körper, er erkennt nicht nur den Muskelschwund und die Lähmungserscheinungen. Jesus schaut überhaupt nicht nur auf das Böse, sondern durchschaut den Bösen. Hinter allem Elend steckt eine unsichtbare Verderbermacht. Hinter allem Übel ist eine gottwidrige Urmacht am Werk. Überall hat der Teufel seine schmutzigen Finger dazwischen. Und dem gilt der Kampf, denn “dazu ist erschienen der Sohn Gottes, dass er die Werke des Teufels zerstöre” (1. Joh.3,8). Jesus sieht sich von diesem hinterlistigen Urfeind herausgefordert. Mit heiliger Respektlosigkeit tritt er ihm entgegen. Zornig nimmt er den Kampf auf: Das wollen wir doch sehen, wer hier der Stärkere ist! Jesus streckt seine Hand aus und zieht den Mann auf seine Seite und heilt ihn. Andere hat er nicht geheilt. Viele leiden weiter. Die Elendsquartiere sind keineswegs evakuiert. Trotzdem hat er ein für allemal die Machtfrage in der Welt entschieden. Wer heute mit seinem persönlichen Elend zu ihm kommt und sagt: Ich kann nicht mehr, Herr, aber du kannst!, den zieht er auf seine Seite und der gehört ihm, lebend, leidend, sterbend, unverlierbar.

2. Der strenge Jesus müsste sich doch freundlich geben. Dieser Genesene hat entsetzlich viel gelitten. Nicht umsonst heißt es schon im Hiobbuch über diese bis heute nicht ausgerottete Geißel der Menschheit: Aussatz ist der erstgeborene Sohn des Teufels (Hiob 18,13). Der Mann hat entsetzlich viel entbehrt. In seinem Aussätzigen-Asyl hatte er keinerlei Berührung mit der Außenwelt und konnte nur von ferne seinen Angehörigen zuwinken. Der Mann hat entsetzlich viel erduldet. Aussätzige galten als von Gott besonders bestrafte Sünder, die ihre gerechte Strafe absitzen. Aber nun ist er auf wunderbare Weise heil geworden und steht strahlend vor diesem Heiland. Hätte ihm Jesus nicht die Hände schütteln müssen und sagen: o.B., ohne Befund, alles gesund; ich freue mich mit! Hätte ihm Jesus nicht auf die Schulter klopfen müssen und raten: “Nun aber ab nach Hause. Frau und Kinder warten. Werden die Augen machen, wenn du zur Tür hereinschneist!” Hätte ihm Jesus nicht freundlichst zureden müssen: “Und nun mach mal Pause. Nimm einen anständigen Urlaub. Erholung hast du nun nach all diesen Strapazen verdienst.” Aber Jesus schüttelt nicht Hände, sondern schüttelt ihn ab. Jesus klopft ihm nicht auf die Schulter, sondern zeigt ihm die kalte Schulter. Er redet nicht freundlichst zu, sondern fährt ihn streng an: “Hau bloß ab und halt den Mund!” Warum? Jesus kennt die Wundersucht der Leute. Die Nachricht von einem geheilten Aussätzigen würde wie ein Lauffeuer durch die Häuser gehen. Dann würden sie kommen, die Jungen und Alten, die Armen und Reichen, die Kinder und Kegel, alle, ohne Ausnahme, um diesen Medizinmann zu bestaunen. Er könnte sich vor Bewunderern nicht mehr retten. Aber Jesus will keine Claqueure. Er braucht kein Publikum. Er hat mit Fansclubs nichts zu schaffen. Jesus ruft solche, die keinem Wunderdoktor nachlaufen, sondern einem Heiland nachfolgen. Was nützte uns ein gesunder Leib, wenn die Seele krank ist? Was nützte uns eine glatte Haut, wenn das Herz zerrissen ist? Was nützte uns die wiedergeschenkte Freiheit, wenn wir in Sünde und Schuld gefangen liegen? Und umgekehrt ist dann ein Leiden besser zu tragen, wenn man auf die Seite dessen gehört, der alles, aber auch schlechthin alles zum Besten kehren wird. Wer meint “Hauptsache Gesundheit” wird immer auf der Suche nach einem Wunderheiler, nach einem Glücksbringer oder Medizinmann sein. Wer aber als Hauptsache die Vergebung und das Leben erkennt, der wird nicht müde werden, bis er den gefunden hat, der sagen kann. Sei rein! Auch der ernste Jesus will nur das Beste für uns. Der, der dem Mann sagte: Mach, dass du fortkommst! möchte nur jedem sagen: Mach, dass du heimkommst.

3. Der verschlossene Jesus müsste jetzt den Mund auftun. Denn was jetzt geschieht, lupft jedem die Zunge. Anstatt dass der Genesene schnurstracks nach Hause geht und sich an den Hals seiner Frau hängt, hängt er die Heilungsgeschichte an die große Glocke. Anstatt dass er auf die Knie fällt und leise ein Dankgebet spricht, macht er sich auf die Füße und posaunt laut durch die Gegend: “Hallo, hört her, ich bin gesund geworden! Hallo, passt auf, Jesus hat mich gesund gemacht! Hallo, merkt’s euch, dieser Mann kann jeden gesund machen!” Wie ein Büttel weckt er die ganze Stadt auf. Müsste sich Jesus jetzt nicht zu Wort melden? Müsste sich Jesus jetzt nicht diesen ungehorsamen Gesellen vorknöpfen? Müsste sich Jesus jetzt nicht ein Klagelied anstimmen über undankbare und ungezogene und ungerechte Kinder? Aber er meldet sich nicht zu Wort, er meldet sich ab. Jesus geht zu den Toren hinaus und sucht einen einsamen Ort. Eine Umkehrung der Verhältnisse findet satt. Während noch wenige Stunden vorher der Mann draußen auf der Isolierstation war und Jesus in der Stadt, ist jetzt Jesus isoliert und der Mann mitten drin im Getriebe. Warum? Schon der Prophet Jesaja hat dafür eine Erklärung. Er schaut diesen Herrn und schreibt 1000 Jahre vorher: “Er litt willig und tat seinen Mund nicht auf wie ein Lamm. Fürwahr, er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt.” Jesu Weg mündete nie in eine belebte Fußgängerzone. Er ging von allem Anfang an hinaus vor die Stadt. Sein Kreuz stand draußen an einem einsamen Ort. Er wollte ja nicht nur den gottfeindlichen Mächten Paroli bieten, sondern diese Todesmacht endgültig besiegen. Und das hat er getan. Als er zwischen Himmel und Erde hing, seine Hände weit ausgestreckt, die Füße durchbohrt, da schrie er laut Es ist vollbracht. Seither gibt es keine Krankheit mehr, die so schwer ist, dass sie uns von ihm trennen könnte. Seither gibt es kein Elend mehr, das so groß ist, dass er es nicht packen könnte. Seither gibt es keine Todesverfallenheit mehr, die so dunkel ist, dass er sie nicht mehr aufhellen könnte. “Jesus ist kommen nun springen die Bande, Stricke des Todes, die reißen entzwei. Unser Durchbrecher ist nunmehr vorhanden, er, der Sohn Gottes, der machet recht frei. Bringet zu Ehren aus Sünde und Schande, Jesus ist kommen, nun springen die Bande”. Es ist keiner hier, der diese Melodie nicht mitsingen kann, weil er will, dass allen geholfen werde, allen!

Unser Mann von der Leprastation ist nach seiner Posaunenrunde durch die Straßen der Stadt nach Hause zurückgekehrt. Seine Frau traute ihren Augen nicht, als sie keine Entzündungen und keine Verkrustungen mehr ausmachen konnte. Seine Kinder streichelten den ganz glatt gewordenen Arm. Im Spiegel erkannte er sich selbst nicht wieder. Dieser Mann war im wahrsten Sinne des Wortes mit heiler Haut davongekommen. Aber Jesus will mehr. Er will nicht nur eine heile Haut, sondern auch ein heiles Herz, eine heile Seele, ein heiles Gewissen, ein ganz heiles Leben schenken. Deshalb ist er nicht nur lieb und gut und aufgeschlossen , sondern auch zuweilen zornig, ernst und zugeschlossen. Kennen wir diesen Jesus?

Amen