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Christen sind Wanderer, die auf den Ruf ihres Herrn hin aufgebrochen sind. Damit alle am Ziel des himmlischen Jerusalem ankommen, hat dieser Herr regelmäßige Ruhepunkte einge­richtet, die eine Rast erlauben, eine Orientierung ermöglichen und eine Aussicht erschließen. Die Predigt aus der Stiftskirche Stuttgart lädt ein, diese Punke näher anzuschauen.


[Predigtmanuskript, nicht wortidentisch mit der Aufnahme]

Was fällt an den Christen auf? liebe Gemeinde. Graham Greene, der englische Erzähler, Journalist und Filmkritiker beschreibt es so: “Sie kommen im Kinderwagen in die Kirche, wenn sie getauft werden. Im Auto, wenn sie heiraten. Im Leichenwagen, wenn sie beerdigt werden. Die übrige Zeit ist frei von Gott und seine Einladung durch sein Wort und Gottesdienst interessieren sie nicht mehr.” Für Greene ist also die Gleichgültigkeit und Interesselosigkeit das christliche Merkmal. Was fällt an den Christen auf? Sarvepalli Radhakrishnan, der indische Philosoph, Wissenschaftler und Politiker beantwortet es so: “Christen sind ganz gewöhnliche Leute mit außergewöhnlichen Ansprüchen.” Für Radhakrishnan ist also die Selbstüberschätzung und Wichtigtuerei das christliche Merkmal. Was fällt an den Christen auf? Bertold Brecht, der deutsche Schriftsteller, Dichter und Lyriker, besingt es so: “Christen warten auf des Weibs Sohn und das wird sein am Sanktnimmerleintag.” Für Brecht ist also das Warten und Träumen das christliche Merkmal. Was fällt an den Christen auf? Fragen wir lieber Plinius, den römischen Gouverneur, Statthalter und Zeitgenosse des Hebräerbriefes. In seinem berühmt gewordenen Antwortbrief an Kaiser Trajan, der wissen wollte, was denn Christen überhaupt seien, schrieb der gut informierte Beamte: “Leute sind es, die regelmäßig an einem bestimmten Tag zusammenkommen, Christus die Ehre geben und danach wieder nach Hause gehen.” Für Plinius ist also das Singen und Beten und Hören, kurz, der Gottesdienst das christliche Merkmal. Dass er damit nicht oberflächlich recher­chiert und Äußerlichkeiten berichtet hat, beweist die Selbstdar­stellung der Christen durch den karthagischen Rechtsanwalt Tertullian. In seiner Schrift “Apologeticum” aus dem Jahre 198 heißt es: “Wir kommen zusammen zu inniger Gemeinschaft, um Gott gleichsam in geschlossenem Trupp Gott zu ehren.”

Liebe Freunde, der Sonntagsgottesdienst fiel an den Christen auf. Die Zusammen­kunft der Getauften war ein hervorstechendes Merkmal. Die Gemeinschaft der Heiligen machte Schlagzeilen. Sie wussten noch davon, dass man in seiner Privatwohnung alles Mögliche tun kann, Zeitung lesen, Kaffee trinken, Patiencen legen, aber keinen Glauben leb­en. Christen sind keine frommen Privatiers. Sie wussten noch dav­on, dass man in seinem Blumenbeet alles Mögliche pflanzen kann, Salatstöcke, Beersträucher, Blumenzwiebel, aber keinen Glauben züchten kann. Christen sind keine frommen Schrebergärtner. Sie wussten noch davon, dass man in seinem Buffet alles Mögliche sam­meln kann, Goldservice, Spieluhr, Traubibel, aber keinen Glauben aufbewahren. Christen sind keine frommen Archivare. “Ich glaube, dass die Heiligen im Geist Gemeinschaft haben.” So haben die erst­en Christen gesungen und wir tun gut daran, es ihnen nachzusingen. Denn nach dem Hebräerbrief sind Christen Wanderer, die auf den Ruf ihres Herrn hin aufgebrochen sind. Mit Sack und Pack sind sie unterwegs, Tag für Tag, Woche für Woche, Jahr für Jahr, Marschierer auf Befehl. Das Ziel, das himmlische Jerusalem, ist ihnen vor Augen. Damit aber alle ins Ziel kommen können, hat dieser Herr zwischen dem Start- und Endpunkt regelmäßige Ruhepunkte einge­richtet, die eine Rast erlauben, eine Orientierung ermöglichen und eine Aussicht erschließen. Solche Rastpunkte müssen wieder auffallen. Solche Orientierungspunkte müssen wieder zum Merkmal werden. Solche Aussichtspunkte müssen wieder Schlagzeilen mach­en, einfach deshalb, weil wir sie bitter nötig haben. Der Text lädt uns ein, sie näher anzuschauen.

1. Der Rastpunkt hat etwas Erquickendes.

Erinnern wir uns an eine Wanderung, auf der Alb, im Schwarzwald oder im Allgäu. Am Morgen brach man voller Vorfreude auf. Der Himmel war wolkenlos, die Erde lag wie ein ausgerollter Teppich. “Im Frühtau zu Berge, wir ziehen fallera!” Die ersten Kilometer schienen wie ein Spazier­gang. Im Schwung wurden die Hügel genommen. Das Marschieren war ein einziges Vergnügen. Dann aber kletterte die Sonne über die Bäume. Die Temperaturen stiegen immer höher. Die Hitze machte zu schaffen. Die einen fielen mit brennenden Füßen zurück. Die andern wankten mit weichen Knien weiter. Die dritten griffen mit müden Händen nach einem Stock. Die Wanderlust war einer Wand­erlast gewichen. Welches Aufatmen jedoch ging durch die Reihen, als an einer Weggabelung mit Hütte und Bänken der Rastpunkt er­reicht war. Rucksäcke wurden abgelegt, Taschen wurden weggelegt, Füße wurden hochgelegt. Verschnaufen konnte man, Atem holen, Kraft tanken, Mut gewinnen, einfach Pause machen. Was für ein Geschenk!

Und das will der Gottesdienst auch sein. Erinnern wir uns an die Wanderung des Lebens. Am Morgen, so mit 17, 19 oder 21, begann man voller Vorfreude. Der Himmel war voller Bassgeigen und die Erde voller Blüten. “Was noch jung und frisch an Jahren, geht jetzt auf Wanderschaft.” Die ersten Berufs- und Ehejahre schienen wie ein Spaziergang. Im Schwung wurden die Schwierigkeiten genommen. Das Leben war ein einziges Vergnügen. Dann aber kletterte die Angst über den Horizont. Die Sorgen stiegen immer höher. Die Hitze des Tages macht zu schaffen. Die einen haben nicht nur brennende Füße, sondern auch brennende Augen. Die andern haben nicht nur weiche Knie, sondern auch einen gebeugten Rücken. Die dritte haben nicht nur müde Hände, sondern auch ein müdes Herz. Die Lebens- und Glaubenslust ist einer Lebens- und Glaubenslast gewichen. Welches Aufatmen jedoch müsste durch unsere Reihen gehen, wenn an einem Sonntag mit Kirche und Bänken oder mit Saal und Stühlen der Rastpunkt erreicht ist? Ängste werden abgelegt, weil dieser Wanderführer die Verheißung wahrmacht: “Er hat seinen Engel befohlen über dir, dass sie dich behüten auf all deinen Wegen.” Sorgen werden weggelegt, weil dieser Lebensführer die Parole aus­ gibt: “Sorget nicht um euer Leben. Sorget nicht für den andern Morgen.” Schulden werden hochgelegt, bis ans Kreuz, weil dieser Gottesführer sie dort tilgen will. Wer in aller Weit hat den Sonntagsgottesdienst zur leidigen Pflichtübung degradiert? Wer auf Gottes Erdboden hat die Zusammenkunft seiner Leute zur läst­igen Winkelmesse heruntergewirtschaftet? Wer unter blauem Himmel hat die Gemeinschaft der Heiligen zu Zirkeln von Scheinheiligen verkommen lassen? Richtet wieder auf die lässigen Hände und die müden Knie und tut gewisse Tritte mit euren Füßen! Verschnaufen kann man nach der Hetze vergangener Tage, Atem holen bei so viel Schrecken um uns herum, Kraft tanken für eine ganze Woche. Rastpunkt ist’s, was für ein Geschenk! Und Orientierungspunkt:

2. Der Orientierungspunkt hat etwas Weiterführendes.

Niemand wird jetzt seine Sachen schultern, jedem die Hand drücken und sich aus dem Staub machen, weil ihm Besseres eingefallen ist. Ein Orientierungspunkt ist ja nicht Schlusspunkt, sondern Doppelpunkt. Der Marsch wird fortgesetzt. Die Wanderung hat eine nächste Etappe. Es geht weiter - nur wohin? “Immer der Nase nach!” ist ein schlechter Rat. Deshalb werden Wegkarten entfaltet, werden Wanderführer aufgeschlagen, werden Erfahrungen ausgetauscht. Bald ist das Zeichen klar, mit dem der Weg ausgeschildert ist. Es wird dafür sorgen, dass man auf keinem Holzweg im Dickicht und auf keinem Feldweg im Acker landen wird, sondern auf einem Ost- oder Westweg in der richtigen Richtung bleibt. Wanderer sind orientierte Leute und Christen auch. Ihr Marsch wird fortgesetzt, auch wenn manche festsitzen, so wie Esau, der wegen einer Linsensuppe, die ihm in die Nase gestochen hat, die Wanderschuhe an den Hagel hängte. Jeder muss eben die Suppe auslöffeln, die er sich eingebrockt hat. Die Wanderung der Christen hat viele Etappen, auch wenn manche französischen Abschied nehmen und sich heimlich verdrücken. Es tut schon weh, wenn der oder jener auf einmal nicht mehr dabei ist. Aber es geht weiter und die aufgeschlagene Bibel stellt das Zeichen klar, mit dem der Weg ausgeschildert ist. Ein Querbalken und ein Längsbalken und das Kreuz, das so entsteht, weist in Richtung Frieden und Heiligung. Beides ist hier unauflöslich mit­einander verbunden. Wo die Vertikale stimmt, die Beziehung zwischen Mensch und Gott, nämlich die Heiligung, da muss auch die Hori­zontale stimmen, die Beziehung zwischen Mensch und Mensch, der Friede. Eins wird es ohne das andere nicht gehen, aber eins darf auch ohne das andere nicht sein. Wer im Frieden mit Gott lebt, muss auch im Frieden mit seiner Frau und seinen Kindern leben. Wer im Gebet mit Gott redet, muss auch mit seinen Nachbarn und seinen Kollegen reden. Wer im Gottesdienst Gemeinschaft mit Gott hat, muss auch Gemeinschaft mit widerlichen Zeitgenossen leben. Jesus Christus, der am Kreuz hing, hat Friede und Heiligung nicht nur vorgelebt, sondern Friede und Heiligung ermöglicht. Deshalb jagt ihm nach, bleibt ihm auf den Fersen, bleibt in seiner Spur. Der Kreuzweg ist kein Holzweg, der in irgendeinem Dickicht der Sünde und Schuld endet. Der Kreuzweg ist auch kein Feldweg, der uns nur den Weg zum Ackern, Schuften und Wühlen zeigt. Der Kreuzweg ist die Diretissima, der Direktweg zum Ziel. Keiner muss planlos durch die Jahre hasten. Niemand muss orientierungslos durch die Welt ir­ren. Jeder ist heute wieder eingeladen, sich aufzurichten und auszurichten auf den Weg des Friedens und der Heiligung. Gottes­dienst ist Orientierungspunkt, und schließlich auch Aussichtspunkt.

3. Der Aussichtspunkt hat etwas Verlockendes.

Er gibt den Blick frei. Vorher sah man nur einige Schritte weit, bis zur nächsten Weggabelung, zum nächsten Hügel, zum nächsten Waldrand. Jetzt weitet sich der Horizont und ein herrliches Panorama tut sich vor den Augen auf: vorne ein Tal, in der Mitte ein Fluss und ganz hinten jener Berg, der den Zielpunkt der Wanderung bildet. In der klaren Luft ist er genau auszumachen. Sein Gipfel liegt in der Sonne und grüßt freundlich herüber. Nur noch wenige Stunden, dann hat man es geschafft. Nur noch eine begrenzte Zeit, dann ist man dort. Die Aussicht aufs Ziel mobilisiert neue Kräfte. Verstehen Sie jetzt, warum der Apostel vom Berg Zion spricht? Verstehen Sie jetzt, warum der Apostel den Blick für die Stadt Gottes freimacht? Verstehen Sie jetzt, warum der Apostel das herrliche Panorama des himmlischen Jerusalems aufleuchten lässt? In der klaren Luft der Ewigkeit ist alles genau auszumachen: die Engelscharen, die Heiligen, die vollendeten Gerechten, und über allem der Richtergott mit seinem Mittler Jesus Christus. Die neue Welt ist keine Fata Morgana über dem Dunst unseres Lebens. Sie ist auch kein Luftschloss über den Dächern unserer Wirklichkeit. Sie ist erst recht nicht eine Utopie in menschlichen Gehirnen. Nichts ist so wahr wie dieses Ziel. “O wär ich da, o stünd ich schon, ach süßer Gott vor deinem Thron und trüge meine Palmen. So wollt ich nach der Engel Weis’ erhöhen deines Namens Preis mit tausend schönen Psalm­en.“ Sicher geht es vorher noch in tiefe Täler hinab, aber “ob ich schon wanderte im finster’n Tal fürcht ich kein Unglück, denn du bist bei mir.” Ganz bestimmt geht es vorher noch durch manche Ströme hindurch, aber “wenn du durch Wasser gehst, will ich bei dir sein, dass dich die Ströme nicht ersäufen sollen.” Ohne Zweifel geht es vorher noch einige Steigungen hinauf, aber “die auf den Herrn harren kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie gehen und nicht müde werden.“ Die Aussicht aufs Ziel mobilisiert neue Kräfte, und wer von uns könnte großzügig darauf verzichten? Den Aussichtspunkt brauchen wir, den Orientierungspunkt auch und den Rastpunkt dazu. Noch ist er uns jede Woche angeboten, Gott sei Dank.

Amen