Umgestiegen

Warum Jesus nach Jericho ging
Konrad Eißler
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Jesus Christus, der Menschensohn, der Absteiger ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist. Zum Beispiel Zachäus. Dadurch wird der zum Aufsteiger, zum Umsteiger und zum Einsteiger. - Predigt aus der Stiftskirche Stuttgart


[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]

Warum ging Jesus nach Jericho, liebe Gemeinde?

Vielleicht hatte er ein besonderes Interesse an der Geschichte. Mauern waren zu sehen, sechs Meter hohe Ruinenmauern mit einem neun Meter dicken Wehrturm, stumme, steinerne Zeugen einer großen Vergangenheit, die bis ins 7. Jahrhundert zurückreichte. Fremdenführer pflegten an diesem Platz das altisraelitische Tagebuch aufzuschlagen und von dem Sturm auf diese Bastille zu schwärmen. Erstmalig und letztmalig wurden bei einer militärischen Offensive Posaunen als strategische Waffen eingesetzt und dies mit durchschlagendem Erfolg. Nicht Pulver und Blei, sondern Ton und Blech ließ die Buckelsteine übereinanderpurzeln. Das verdutzte Trompeterbataillon konnte es selbst kaum fassen: “Mit meinem Gott kann ich über die Mauer springen”. Jeder Zoll dieser Stadt spiegelte eine lange Geschichte. War Jesus an Geschichte interessiert? Warum ging Jesus nach Jericho?

Vielleicht hatte er ein besonderes Interesse an der Natur. Palmen waren zu sehen, ausgedehnte Palmenwälder sogar, die nach dem Geschichts­schreiber Josephus diese Ansiedlung im Jordantal zur Stadt der Palmen machte. Auch weltberühmte Balsamhaine und ausgedehnte Rosen­gärten erfüllten mit einem betäubenden Duft kilometerweit die Luft. “Eine herrliche Landschaft”, priesen die Kenner, “die fetteste Gegend in Palästina”. War Jesus an Natur interessiert? Warum ging Jesus nach Jericho?

Vielleicht hatte er ein besonderes Interesse an der Politik. Ein Herrensitz war zu sehen, Stallungen dabei für eine Kavallerie, Schildwachhäuschen drumherum. Herodes der Große wusste, warum er sich gerade hier an dieser Stelle seinen Winterpalast erbauen ließ. Von dort aus war nicht nur die Zufahrtsstraße nach Jerusalem zu kontrollieren, sondern auch der Flussübe­rgang und Handelsweg nach Arabia, der römischen Provinz jenseits des Jordans. Wer Jericho in seine Hand bekam, hatte die ganze Gegend unter seiner Fuchtel. War Jesus an Politik interessiert? Warum ging Jesus nach Jericho?

Der Text gibt klare Antwort. Und siehe, da war eine ehrwürdige Geschichte, nein! Und siehe, da war eine wunderschöne Natur, nein! Und siehe, da war eine weitsichtige P­olitik, nein! Lukas sagt: Und siehe, da war ein Mann, da war ein Mensch, da war ein Geschöpf. Jesus ist vorrangig an seinen Geschöpfen interessiert. Sicher ist er Geschichtskenner wie kein anderer, weil ihm Gott die ganze Heilsgeschichte vor Augen geführt hat. Sicher ist er Naturfreund wie kein anderer, weil ihm Gott die ganze Welt als Schemel unter seine Füße gestellt hat. Sicher ist er Machtpolitiker wie kein anderer, weil ihm Gott alle Macht im Himmel und auf Erden in seine Hände gelegt hat. Aber zuerst und vor allem ist Jesus Philanthrop, Menschenfreund, Liebhaber des Menschen. Er wollte ohne dieses Gegenüber nicht sein. In dem Sohn Gottes ist ein unbegreifliches Sehnen nach uns. Deshalb ist er vom Himmel heruntergestiegen, um seinen Leuten in der Uniform des Elends ganz nahte zu sein. Deshalb ist er ins Sterben hinuntergestiegen, um Schuldbeladenen eine letzte Chance zu geben. Deshalb ist er in das Reich des Todes hinabgestiegen, um die Verlorensten nicht verloren gehen zu lassen. Jesus Christus, der Menschensohn, der Absteiger ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist, zum Beispiel Zachäus.

1. Zachäus, der Aufsteiger

Schon dass das ehrgeizige Judenbürschlein als Auszubildender zum Zoll kam, war ein sozialer Aufstieg sondersgleichen. Während seine Kameraden Eselstreiber, Maulbeerfeigen­pflücker oder nur Handlanger wurden, marschierte er mit feinen Kleidern ins Büro an der Jordanbrücke. Täglich lernte er Neues hinzu: Abfertigung von Karren und Fuhrwerken, Aufstellung von weit überhöhten Wegzöllen und Handelsabgaben, Herstellung von frisierten Abrechnungen für die römischen Besatzer. So kam bei ihm ein finanzieller Aufstieg hinzu. Zöllner hatten ein einnehmendes Wesen. Mit einem Gehalt von BAT 6 oder 4 gaben sie sich nicht zufrieden. Unrechtmäßige Zuschläge flossen in die eigene Tasche. Schließlich war sein beruflicher Aufstieg nicht mehr zu bremsen. Zachäus wurde Chef vom Dienst im Zollamt Jericho, der Hauptverantwortliche dafür, dass den Leuten ihr sauer verdientes Geld zu einem beträchtlichen Teil wieder abgenommen wurde, der Schreibtischtäter, der mit weißer Weste dunkle Geschäfte betrieb, der Halsabschneider, von allen gehasst und gemieden. Aber damit war noch kein Karriereknick eingeleitet, im Gegenteil. Der höchste Aufstieg stand ihm noch bevor, und das kam so: Als er eines Tages auf die Straße ging, um diesen angekündigten Jesus zu sehen, standen die Menschen wie Mauern, Rücken dicht an Rücken, fugenlos und eiskalt. Der Mörtel, der diese Mauer zusammenkittete, war schweigender Hohn über den, der jetzt einmal zu kurz kam, weil er zu kurz geraten war, lautlose Schaden­freude über den, der wohl groß, aber zu diesem Zweck nicht lang genug war. Kein Wort hörte er, und doch prasselte es lautlos und schneidend auf ihn herab: “Grad recht, du Protz und Geldsack. Jetzt sind wir einmal vorne und du bist hinten.” Aber der Mann wusste sich immer zu helfen. Er griff nach einem Ast. Er strampelte mit den Beinchen. Er schaffte den Klimmzug. Dann saß der Aufsteiger hoch oben im Baum. Das war das Ende der Fahnenstange. Das war die Spitze der Karriereleiter. Das war der Gipfel. Höher ging’s nun wirklich nicht mehr. Da saß der Reiche, armselig auf dem grünen Baum. Da saß der Mächtige, ohnmächtig auf dem letzten Ast. Da saß der Angesehene, unansehnlich wie ein kleiner Spatz. Wie klein ein Großer sein kann, wie arm ein Reicher sein kann, wie grenzenlos allein mitten unter Hunderten?

Vielleicht sitzt Zachäus unter uns. Den sozialen Aufstieg gepackt, aber die Vergangenheit nicht hinter sich gelassen. Den finanziellen Aufstieg geschafft, aber trotz Geld die Erfüllung nicht gefunden. Den beruflichen Aufstieg gemeistert, aber die innere Leere nicht überwunden. Leute auf der Höhe des Lebens, im Zenit ihres Schaffens, am Gipfel ihrer Kraft, aber armselig im Gottesdienst, ohnmächtig auf der letzten Bank, unansehnlich wie ein schwaches Kind, mutterseelenallein mitten unter Hunderten? Trotz Geld, trotz Macht, trotz Ehre, trotz Karriere, trotz allem: “Leben heißt einsam sein, jeder ist allein.” In Einsam­keit verloren, das sind zu viele, aber Jesus Christus, der Menschensohn, der Absteiger ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist, zum Beispiel Zachäus.

2. Zachäus, der Umsteiger

Natürlich dachte er bei diesem Straßentheater zur Komparserie zu gehören. Aber aus dem vermeintlichen Statisten wurde unversehens ein wichtiger Akteur. Der Herr Oberzollrat findet sich plötzlich in der Titelrolle wieder. Ihm ist das passiert, was jedem Gottesdienstbesucher passieren kann: Jesus sieht ihn. Er entdeckt ihn hinter allen Feigenblättern. Jesus meint ihn. Er schneidet die großen kleinen Leute nicht. Jesus hat es auf ihn abgesehen. Er sägt den Ast nicht ab, sondern ruft herunter. “Zachäus! Ich gehöre zu dir, weil ich auch zu den Ausgemauerten gehöre. Ich zähle zu dir, weil ich auch zu den verlorenen Schafen Israels zähle. Ich schlage mich auf deine Seite, weil du zwar ein Schwindler und Schmeichler bist, aber in alledem den wunderschönen Namen Zachäus trägst, die Abkürzung von Zacharias, und das heißt: Der Herr denkt an dich. Du bist damit ein Sohn Adams, ein Mensch, der tun kann, was er will, nur eines nicht, dem Gott davonlaufen, der dich liebt; ein Mensch, der gehen kann, wohin er will, nur eines nicht, auswandern aus dem Bereich seiner Zuwendung; ein Mensch, der sein kann, was er will, nur eines nicht, ein Gottloser sein, an dem Gott kein Interesse mehr hätte. Ich muss heute in deinem Hause einkehren!” Und dieser Zollmann zischte nicht: “Mach keinen Aufstand. Geh mal voraus, ich komm heimlich nach.” Und dieser Karrierebeamte wiegelte nicht ab: “Das ist eine neue Situation. Die muss ich mal gründlich durch den Kopf gehen lassen.” Und dieser Luftikus zog sich nicht gewandt aus der Affäre: “Ich bin im Moment total verplant. Können wir nicht irgendwann einen Termin vereinbaren?” Die Kletterpartie seines Lebens hatte ein Ende gefunden. Eilend stieg er den Baum herunter und daheim die Treppen hinauf. Der Aufsteiger Zachäus konnte nicht anders als umzusteigen.

Können wir denn anders, wir großen Kleinen und kleinen Großen? Jesus sieht uns hinter allen Feigenblättern. Jesus meint uns, nicht die andern. Jesus hat es auf uns abgesehen. “Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein.” Die Initiative geht immer von ihm aus. Nicht wir können ihn wählen, er wählt uns. Nicht wir können ihn greifen, er greift uns. Nicht wir können ihn kennen, er kennt uns. Und er sagt uns: Ich muss heute in deinem Haus einkehren, auch wenn es nicht gastlich gerichtet ist und noch viel Schmutz in den Ecken liegt. Ich muss heute in deinem Haus einkehren, auch wenn der Besuch überraschend kommt und du dich noch gar nicht richtig darauf eingestellt hast. Ich muss heute in deinem Haus einkehren, auch wenn andere Hausbewohner die Wohnung füllen und an diesem Besuch kein Interesse haben: Ich gehöre zu dir. Ich zähle zu dir. Ich schlage mich auf deine Seite. Jesus will Umsteiger, denn der Menschensohn, der Absteiger ist gekommen zu suchen und selig zu machen, was verloren ist, zum Beispiel Zachäus.

3. Zachäus, der Einsteiger

Plötzlich stand er in den Wohnungen derer, die er einmal betrogen und geprellt hatte. Mit der Liste unterm Arm und der Schatulle an der Hand sah er aus wie ein Ger­ichtsvollzieher. Die Leute erschraken zu Tode und dachten an eine neue Quellensteuer. Aber Zachäus wollte kein Geld, sondern er brachte Geld. Steuerrückzahlung, Wiedergutmachung, Entschädigung. Die zu viel bezahlten Beiträge an Absender zurück, alles mal vier. Den Leuten blieb der Mund offenstehen. Und bevor sie sich von ihrem Schreck erholen konnten, war der Mann wieder draußen und hastete zum Nächsten. Die Hälfte seines Vermögens schmolz dahin. Jesus hat ihn das nicht geheißen. Jesus hat ihm das nicht befohlen. Jesus hat ihm das nicht beim festlichen Mahl ins Stammbuch geschrieben. Wir haben es alle nicht nötig, dass man uns die Leviten liest, denn wir wissen nur zu gut, wo unsere dünnen Stellen sind. Jesus hat nichts Weiteres getan als durch seinen Ruf und Besuch eine Umkehr geschaffen, und daraus wurde eine Hinkehr zum Nächsten. Heiligung kommt aus der Rechtfertigung, sagen die Theologen, und Rechtfertigung hat erhebliche soziale Konsequenzen. Sozial nicht im Sinne von großen Theorien, sondern von großen Taten. Alles bedeutet einen deutlichen Eingriff in die äußeren Verhältnisse und einen spürbaren Einschnitt in seinem Leben. Man wird im Haus des bisher neureichen Zachäus wieder rechnen müssen. Seine Umkehr vollzog sich bei den Finanzen. Jeder von uns wird sie dort vollziehen müssen, wo bei ihm der Schuh druckt und sein bisheriges Verlorensein am deutlichsten zum Ausdruck kommt. Aber dann quittierte Zachäus nicht seinen Dienst. Dann hängte Zachäus seinen Zöllnerkittel nicht an den Nagel. Dann sagte Zachäus seinen Kollegen nicht Adieu. Er wird nicht der fromme Aussteiger, der etwas ganz Alternatives tut. Fromme Aussteiger versteigen sich nur in fixe Ideen. Dieser Mann meldete sich wieder zur Stelle. Pünktlich zu Dienstbeginn war er auf Posten. Zachäus stieg wieder in den alten Beruf ein. Leicht war das nicht, im Zollhaus die Tarife ganz umzuschreiben.

Leicht ist das nicht, im Schulhaus die Hausaufgaben nicht abzuschreiben. Leicht ist das nicht, im Kaufhaus die Einnahmen ganz hinzuschreiben. Leicht ist das nicht, in der alten Umgebung neu zu leben. Aber genau das hat er getan, nicht als ein Bösewicht, der sich glücklicherweise eines Besseren besonnen hat, nicht als ein Schmutzfink, der sich löblicherweise zur Sauberkeit bekehrte, nicht als eine Wetterfahne, die sich klugerweise nach dem herrschenden Wind richtet, sondern als ein Toter, dem das Leben geschenkt wurde, als ein Kranker, der Heilung erfahren hat, als ein Verlorener, bei dem dies wahr geworden ist: Der Menschensohn, der Absteiger ist gekommen zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.

Warum ging Jesus nach Jericho, liebe Freunde? Darum.

Amen