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Wir sprechen vom Segen, wenn Früchte wachsen, Kinder gedeihen und die Kasse stimmt. Anders die Bibel: Von Gott erwählt, von Jesus erlöst und vom heiligen Geist versiegelt, das ist Segen. - Predigt aus der Stiftskirche Stuttgart


[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]

Wann sprechen wir eigentlich vom Segen, liebe Gemeinde? Der eine schaut hinunter in den Garten des Nachbarn. Was für eine Pracht? Die Beeren haben wunderschön angesetzt, die Salatköpfe stehen wie die Soldaten und das Unkraut ist vom Erdboden verschwunden. Weh­mütig denkt er an seinen eigenen Mustergarten, in dem die Wühlmäuse die Zwiebeln geholt, die Schnecken den Spinat gefressen und die Blattläuse die Hecken gestürmt haben. “Der hat den Segen im Garten”, sagt er.

Der andere schaut hinein in die Familie des Freundes. Was für ein Glück? Die Kinder werden in der Schule immer versetzt, helfen der Mama beim Abtrocknen und gehen noch freiwillig in den Kindergottesdienst. Wehmütig denkt er an seine eigenen Muster­kinder, die vom Schulmeister blaue Briefe und vom Schulhof blaue Beulen mit nach Hause bringen. “Der hat den Segen in der Familie”, sagt er.

Der Dritte schaut hinüber zum Geschäft des Kollegen. Die Ladentür geht von morgens bis abends und der Käuferstrom reißt überhaupt nicht ab. Wehmütig denkt er an seine eigene Musterkol­lektion, die seit Wochen im Schaufenster verbleicht und keinerlei Käuferinteresse weckt. “Der hat den Segen im Geschäft”, sagt er.

Wir sprechen also dann vom Segen, wenn die Früchte wachsen, wenn die Kinder gedeihen und wenn die Kasse stimmt. Wir sind also dann Gesegnete, wenn der Garten sprießt, die Familie blüht und das Geschäft floriert. Segen hat demnach der Glückspilz und Unsegen die Pechmarie. Nur seltsam, dass die so Gesegneten sich so selten als Gesegnete vorkommen.

Die Bibel spricht anders vom Segen. Da wird nicht neidig in Nachbars Garten hinuntergeschaut. Da wird nicht eifersüchtig in des Freundes Familie hineingeschaut. Da wird auch nicht traurig in des Kollegen Geschäft hinübergeschaut. Da wird überhaupt nicht verlangend herumgeschaut, sondern anbetend hinaufgeschaut, so wie der Apostel Paulus. Seine Gemeinde in Ephesus war alles andere als ein Mustergarten, in dem der Glaube florierte. Müdigkeit und Resignation legte sich wie der Reif auf die Blüte. Seine jüdischen Brüder in Ephesus entwickelten sich alles andere als Musterkinder, die seine Sache unterstützten. Der Hohepriester Skevas machte ihm mit seinen Beschwörungskünsten das Leben schwer. Eine Botschaft in Ephesus fand keinen reißenden Absatz wie eine gesuchte Musterkollektion. Der Goldschmied Demetrius dagegen setzte seine goldenen Dianatempelchen spielend ab. Wenn Paulus herumschaut, ist von Segen wenig oder gar nichts zu sehen. Er aber schaut hinauf. Dort erkennt er den dreieinigen Gott und er stimmt einen Lobpreis an, der in seiner Wucht jede Grammatik sprengt. Subjekt, Objekt, Prädikat, Satzgegenstand, Satzaussage, Punkt, Komma, Ausrufezeichen, alles ist in diesem längsten Satz der ganzen griechischen Literatur durcheinandergewirbelt. Sprach­wissenschaftler bekommen bei diesem Satzungeheuer eine Gänsehaut und Theologen bekommen bei der Auslegung graue Haare. Wer aber anbetend hinaufschaut, und dazu sind Sie heute eingeladen, der wird einstimmen in den Jubel: “Gelobt sei Gott der Vater, unseres Herrn Jesus Christus, der uns gesegnet hat”, und der wird anfangen zu begreifen, was Segen ist. Dreimal setzt der Apostel an: Von Gott erwählt, das ist Segen. Und von Jesus erlöst, das ist Segen. Und vom heiligen Geist versiegelt, das ist Segen. Erwählung, Erlös­ung, Versieglung ist die trinitarische Grundstruktur des biblisch­en Segensbegriffes. Ich möchte es Ihnen genauer erklären.

1. Von Gott erwählt

Vor Jahren besuchte ich ein Kinderheim auf der Schwäbischen Alb. Die Einrichtung ist längst geschlossen, weil wir in der Zwischenzeit dafür gesorgt haben, dass unerwünschte Kinder gar nicht mehr geboren werden. Soziale Probleme durch Tötung zu lösen, ist wohl die schmerzlichste aller denkbaren Lösungen. Jedenfalls wimmelte es dort von quicklebendigen Wesen, die entweder in ihren Bettchen lagen oder wie Kletten an den Schwestern hingen. Ein Bild unbeschwerter Fröhlichkeit, dachte man, aber nur solange, bis einem die Leiterin einige Schicksale erzählte. Väter sind nicht bekannt, Mütter kümmern sich keinen Deut, Paten gibt es nicht. Die Kinder sind elternlos, heimatlos, oft namenlos, einfach nicht gewollt und deshalb zur Adoption freige­geben. Und dann sah ich, wie ein junges Paar durch dieses Heim ging. Es wünscht sich ein Kind. Es sehnte sich nach einem Kind. Es war voll Verlangen nach einem Kind. Ohne ein solches Lebewesen wollten die jungen Leute nicht mehr leben. Deshalb richteten sie ihre Augen auf einen herzigen Buben. Sie nahmen diesen Jungen mit seinen blauen Augen und dem blonden Schopf auf den Arm. Voll Liebe trugen sie dieses süße Kerlchen herum. “Den wählen wir. Den nehmen wir. Der soll uns gehören.” Ein Bild der Liebe und des Glücks, so sah ich dieses Paar, und so sieht der Apostel diesen Gott. Er will nicht in kosmischer Raumtiefe seine Ruhe haben. Es könnte ihn kalt lassen, was aus uns wird. Er möchte nicht von diesem Menschengewimmel Abstand haben. Es könnte ihm völlig gleich­gültig sein, weil er an sich genug hat und uns nicht braucht. Er setzt sich wunderbarerweise von seiner Schöpfung nicht ab. Der lebendige Gott wünscht sich den Menschen. Er sehnt sich nach dem Menschen. Er ist voll Verlangen nach dem Menschen. Ohne sein Menschenkind will er nicht mehr sein. Er kommt von ihnen nicht los. Deshalb richtet er seine Augen auf uns, auch wenn wir alles andere als herzige Geschöpfe sind. Deshalb legt er seinen Arm um uns, auch wenn wir ihm die kalte Schulter gezeigt haben. Deshalb trägt und erträgt er uns in seiner unbegreiflichen Liebe. “In des Hirten Arm und Schoß, Amen ja mein Glück ist groß.”

Wenn wir heute schon so gerne unsere Vergangenheit aufarbeiten und dabei die Diagnose der Fachleute zu hören bekommen: Du bist von der Mutter verletzt worden. Du bist von dem Vater gedrückt worden, dann bitte müssen wir auch die Diagnose dieses apostolischen Fachmannes zur Kenntnis nehmen, der sagt: “Du bist von Gott erwählt worden, ehe der Welt Grund gelegt war.” “Du bist kein Kind des Zufalls” singt Jürgen Werth für die, die an ihrem Selbstwert zweifeln, “du bist kein Kind des Zufalls, keine Laune der Natur, ganz egal, ob du dein Lebenslied in Moll spielst oder Dur. Du bist ein Gedanke Gottes, ein genialer noch dazu, du bist du, das ist der Clou.” Von Gott erwählt, das ist Segen.

2. Von Jesus erlöst

Ich weiß nicht, was aus jenem jungen Paar mit seinem Adoptivkind geworden ist. Hoffentlich wurde dieses Bild der Liebe und des Glücks nicht zu schnell getrübt. Lieblings­kinder können nämlich zu Sorgenkindern werden. Wie oft erleben wir es, dass aus dem herzigen Buben ein rechter Lausbub wird, der seinen Eltern immer größere Erziehungsprobleme aufgibt. Dann entwickelt er sich zu einem aufmüpfigen jungen Mann, der wieder den elterlichen Stachel lockt und genau das tut, was Vater und Mutter nicht wollen. Schließlich ist das ersehnte Adoptivkind zum großen Sorgenkind geworden, das seine eigenen Wege geht und seine eigenen Verbindungen knüpft. Und dann fragt sich die Mutter: “Woher hat er denn dieses aufmüpfige Wesen? Sicher nicht von mir.” Und dann fragt sich der Vater: “Woher hat er denn dieses unruhige Blut? Sicher nicht von mir.” Und dann fragen sich die Eltern: “Woher hat er denn diesen schwachen und miesen Charakter? Sicher nicht von uns, denn wir hätten ihm ganz andere Anlagen vererbt”. Und schon haben sie sich innerlich distanziert, sich von ihm abgesetzt und das eigene Kind laufen lassen. Auf diese Weise sind sie von der Sorge um das Kind erlöst.

Gott sei Dank ist Gott kein Adoptiv­vater, der sich von der Sorge, sondern das Kind von der Sünde erlösen will. Es trifft ihn hart, wenn der Mensch aufmüpfig wird. Es schmerzt ihn sehr, wenn der Mensch gegen seinen Stachel lockt. Es tut ihm ins Herz hinein weh, wenn der Mensch seine eigenen Wege geht und andere Bindungen eingeht, denn ohne Gott leben wollen, das ist Sünde. Ohne Gott denken wollen, das ist Sünde. Ohne Gott handeln wollen, das ist Sünde. Sünde ist, und so sagt es Paul Schütz, ist die Kunst des Lebens ohne Gott. Solche Lebens­künstler sind die Sorgenkinder des Vaters. Um ihretwillen tut er etwas Unbegreifliches. Er reißt sich den Sohn vom Herzen. Wir können uns dieses Vater-Sohn-Verhältnis nicht eng genug vorstel­len. Nicht umsonst pflegten unsere Kirchenväter diesen Sachverhalt in die unlogische Formel zu pressen, zwei in eins und eins in zwei. Gott ist ohne Jesus nicht vorstellbar und Jesus ohne Gott nicht denkbar. Trotzdem wurde Jesus losgerissen. Das heißt, Gott zerreißt sich wegen uns. An Weihnachten kommt Jesus in unsere Welt. Den Sorgenkindern geht er nach und sucht sie auf ihren Wegen: Kehrt um, folgt mir, ich will euch wieder zu Lieblingskinder des Vaters machen. Dann wird er geschändet, gepeitscht, genagelt, bis Blut fließt. Dieses Blut aber kann uns sogar zu Blutsverwandt­en dieses Herrn machen. Im Wort wird es uns gesagt. Im Mahl wird es uns gereicht. In der Taufe wird es handgreiflich: “Schmecket und sehet, wie freundlich der Herr ist.” Liebe Freunde, wer von diesem Herrn weggekommen ist, wer vom rechten Weg abgekommen ist, wer an der Gottesferne leidet, der höre und begreife es: “In ihm haben wir die Erlösung durch sein Blut, die Vergebung der Sünden, nach dem Reichtum seiner Gnade.” Alte Bindungen können fallen, ein neues Gottesverhältnis ist möglich. Vom Vater erlöst, das ist Segen.

3. Vom heiligen Geist versiegelt

Die jungen Eltern von damals haben ganz gewiss viel für ihr Kind getan. Sie sahen nicht wie Rabeneltern aus, die ihre Sprösslinge verkümmern lassen. Was ihnen möglich war, haben sie gegeben: Nahrung und Kleidung, Wärme und Wohnung, Schulausbildung und Berufsausbildung. Eltern können viel geben, nur eines nicht: die Begleitung durch das ganze Leben hindurch. Einmal müssen sie auf eigenen Füßen stehen. Einmal müssen sie ihre eigenen Wege gehen. Einmal ist Abschied für immer. Die Eltern-Kind-Beziehung ist eine Beziehung auf Zeit, aber die Gott-Kind-Beziehung ist eine Beziehung für die Ewigkeit. Der lebendige Gott ist eben kein Familienvater, dessen Söhne und Töchter heranwachsen und schlussendlich emanzipieren, sondern er ist der Ewigvater, dessen Söhne und Töchter zusammenwachsen und an seinem Leben partizipieren. Er begleitet sie, er beschützt sie, er bewahrt sie, oder so, wie es der Apostel ausdrückt: er versiegelt sie. Dieser Begriff stammt aus dem Transitverkehr. Erst vor wenigen Tagen konnten wir es wieder an der Autobahngrenze bei Salzburg beobachten. Ein Zollbeamter versiegelte mit einer Bleiplombe die Heckklappe eines schweren LKW. Erst im Ankunftsland darf der Container geöffnet werden. Ein ungebrochenes Siegel beweist dem Empfänger: Es ist nichts weg- und nichts dazugekommen. Gott will, dass wir an den Grenzen weiterkommen. Gott will, dass wir auf unseren Straßen durchkommen. Gott will, dass wir in seinem Land ankommen. Deshalb versiegelt er uns mit dem heiligen Geist. Keine unbefugte Hand darf daran rühren. Das ungebrochene Siegel wird es einmal an den Tag bringen: Der Glaube ist nicht weggekom­men, und die Zuversicht ist nicht weggekommen und die Hoffnung ist nicht weggekommen, und die Angst ist nicht dazugekommen und die Verzweiflung ist nicht dazugekommen und das Erschrecken ist nicht dazugekommen. Nichts ist weg- und nichts ist dazugekommen, heil angekommen sind wir bei ihm in Herrlichkeit. Dann wird es klingen: “Halleluja singst auch du, wenn du Jesum siehst, unter Jubel ein zur Ruh, in den Himmel ziehst.” Vom Heiligen Geist versiegelt, das ist Segen. So verstanden wünsche ich Ihnen einen gesegneten Sonntag, eine gesegnete Woche, eine gesegnete Zeit.

Amen