In Gottes Hand

Kein Buch mit sieben Siegeln
Konrad Eißler
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Wie die Zukunft der Welt aussieht, ist kein Buch mehr mit sieben Siegeln. In der Offenbarung hat Gott sein Testament gemacht.


Ein Buch mit sieben Siegeln, was ist das, liebe Gemeinde? Ein Kind steht vor dem Adventskalender, einem bunten Kaleidoskop von Farben und Formen. Trompeten sind drauf, Pferde und ein richtiger König. Was wohl dahinter versteckt sein mag? Nur Sprüche, oder Bilder, oder doch Schokolade? Am liebsten würde man sich bis zum 24. durchschlecken, aber alles ist verschlossen. Wenn dieses Kind vor dem Adventskalender steht, dann sieht es ein Buch mit sieben Siegeln.

Oder ein Schüler beugt sich über einen Rechenordner. Bei Addition und Subtraktion und Multiplikation ging es ja noch, obwohl schon damals deutlich wurde, dass ein zweiter Einstein nicht die Schulbank drückt. Aber seit der Lehrer mit höherer Mathematik um sich wirft, stolpert man über Wurzeln, versteigt sich in Potenzen und blickt bei Logarithmen überhaupt nichts mehr. Wenn dieser Schüler sich über seinen Rechenordner beugt, dann sieht er ein Buch mit sieben Siegeln.

Oder ein Erwachsener blättert im Fahrplan. Verzweifelt sucht er nach einer Verbindung. Er grübelt über IC und EC, er rätselt an tausend Abkürzungen, er forscht bei Ankunfts- und Abfahrtszeiten. Als er endlich auf dem Bahnhof steht, fahren Züge in alle Richtungen, aber nicht sein Zug. Wenn dieser Mann im Fahrplan blättert, dann sieht er ein Buch mit sieben Siegeln.

Johannes sieht auch ein versiegeltes Buch. Ich meine nicht Johannes den Täufer, jene Vätergestalt an den Ufern des Jordans, die zum ersten Mal den Adventsruf aufnahm: Bereitet den Weg des Herrn! Ich meine Johannes den Seher, jene Apostelfigur auf der Insel Pathmos, die zum letzten Mal den Adventsruf laut werden ließ: Siehe, ich komme bald! In einer überwältigenden Vision, die ihn regelrecht umwirft, sieht er inmitten des himmlischen Thronsaales nicht nur die goldenen Räucherschalen, nicht nur die psalmodierenden Gestalten, nicht nur die lobpreisenden Engelschöre, sondern vor allem dieses siebenfach versiegelte Buch. Es ist kein Adventskalender, auch wenn die Offenbarung immer wieder so behandelt wird. Hinter farbigen Bildern sind doch Geheimnisse versteckt, die das Leben versüßen könnten! Es ist kein Rechenordner, auch wenn die Offenbarung manchmal so benutzt wird. Die vielen Zahlen ergeben doch eine Kombination, die verriegelte Schlösser öffnen könnten. Es ist kein Fahrplan, auch wenn die Offenbarung öfters dazu missbraucht wird. Der Zug der Zeit muss doch nach einem apokalyptischen Fahrplan oder Kursbuch fahren!

Johannes aber sieht etwas ganz anderes. Für ihn ist das gar keine Frage. Er erkennt sofort. Die Papyrusrolle ist ein Testament. Weil es inwendig und auswendig beschrieben ist, ist es ein vollständiges Testament. Weil es nach altrömischem Recht mit sieben Dienstsiegeln versehen ist, ist es ein rechtsgültiges Testament. Weil es den Ältesten und Engeln gezeigt wird, ist es ein endgültiges Testament. Weil es im Kronsaal vorgestellt wird, ist es ein göttliches Testament. Gott hat seinen Willen festgelegt. Gott hat seine Absicht niedergelegt. Gott hat seinen Plan angelegt. Er gibt es schriftlich, wie es mit uns Menschen weitergehen soll. Wir haben es schwarz auf weiß, wie es mit unserer Gemeinde weitergehen soll. Es ist amtlich, wie die Zukunft der Welt aussieht. Johannes sieht ein Testament. Und das Erste, was er dabei entdeckt, ist dies:

1. Es liegt in Gottes Hand. Damals hatte Domitian die Welt im Griff, Kaiser Domitian in Rom. Schon Caesar hatte sich göttlich nennen lassen und Caligula trug goldene Zacken im Haar, die darauf hinweisen sollten, dass er Gott in Menschengestalt war. Aber Domitian war der erste, der sich offiziell “Gott und Heiland in Ewigkeit” nennen ließ. Seine Erlasse begannen mit der Formel: ”Der Herr unser Gott befiehlt”. Seine Leute streuten ihm Weihrauch. Sein Kultbild in vierfacher Lebensgröße wurde in Ephesus angebetet. Aber Johannes von Ephesus betete nicht mit an. Er wusste: Du sollst keine andern Götter neben mir haben. Vor der Gemeinde geißelte er den Kaiserkult. Deshalb wurde er anfangs observiert, dann inhaftiert und schließlich auf die Gefangeneninsel Pathmos speditiert. Natürlich wurden die meisten Regimekritiker dort exekutiert. So wurde auch seine Akte nach Rom übersandt. Nun lag sein Leben in der Hand des Kaisers. Und in dieser dunklen Stunde, wo sich die Hölle vor ihm auftat, öffnete sich der Himmel. Johannes sah in der rechten Hand des, der auf dem Thron saß, ein Buch und er wusste: Mein Schicksal liegt nicht in des Kaisers, sondern in Gottes Hand. Ein Licht brach durch die Finsternis, und immer, wenn dies geschieht, dann ist Advent.

Heute haben andere Herren die Welt im Griff, nicht mehr in Rom, aber in Moskau, in Peking, in Washington. Auch wenn sich die Titel geändert haben und die Erlasse anders lauten, der Machtanspruch ist derselbe geblieben. Viele, besonders junge Leute, fühlen sich in der Welt der eisernen Vorhänge wie gefangen und im Zeitalter der Atomraketen wie zum Tode Verurteilte. Die Angst geht um wie eine gefährliche Grippe. Unser Leben liegt in der Hand dieser Herren. Und in dieser schweren Stunde, wo sich Abgründe auftun, öffnet sich für uns die Schrift. Wir sehen in der rechten Hand des, der auf dem Thron sitzt, ein Buch und wir wissen: Unser Schicksal liegt nicht in der Herren, sondern in Gottes Hand. ”Du hast’s in Händen, kannst alles wenden, wie nur heißen mag die Not.” Weil ein Volk, das im Finstern sitzt, ein großes Licht sieht, deshalb ist Advent.

Vielleicht hat noch eine andere Macht Ihr Leben im Griff. Schon länger sind Sie von Schmerzen geplagt und von Sorgen belastet. Der Arzt sagt kein Wort, aber Sie ahnen es. Angesichts dieser Krankheit fühlen Sie sich wie ein Gefangener und manchmal sogar wie ein zum Tode Verurteilter. Adventlich ist es Ihnen nicht zumute und an Weihnachten will man schon gar nicht denken. Ihr Leben liegt in der Hand dieser Macht. Und in dieser beladenen Stunde, wo sich Tiefen auftun, öffnet sich die Höhe. Sie können das Wort entdecken und wissen: Mein Schicksal liegt nicht in der Mächte, sondern in Gottes Hand. Es kann mir nichts geschehen, als was er hat ersehen und was mir nützlich ist. Weil keine Finsternis so groß ist, als dass sie nicht von einem Licht erhellt werden könnte, deshalb kann es auch in Ihrem Leben Advent werden.

Es liegt in Gottes Hand. Gott sei Dank bleibt es aber dort nicht liegen. Liegengebliebene Testamente nützen nichts. Sie müssen vollstreckt werden. Der Wille drängt zur Tat. Aber wer ist dazu in der Lage? Wer ist dazu fähig? Wer ist würdig? Es müsste eine anerkannte Persönlichkeit sein, anerkannter als die beglaubigten Notare des Riesenreiches. Es müsste eine mächtige Persönlichkeit sein, mächtiger als der Kaiser in Rom. Es müsste eine starke Persönlichkeit sein, stärker als die Herren in den Machtzentralen, stärker als die Löwen in den römischen Arenen, ein Löwenherz des Jahrhunderts. Johannes sieht diesen Löwen aus Juda, der als Testamentsvollstrecker infrage kommt, diesen Christus aus Nazareth und er weiß, das ist das Zweite:

2. Es kommt in Jesu Hand. Jesus Christus ist dazu fähig und dazu würdig. Allerdings sieht der Apostel den judäischen Löwen nur als Lamm. Das war immer so. Die Hirten auf dem Feld von Bethlehem haben ihn auch so gesehen, diesen Spross aus der Wurzel Judas, wie er lammfomm in einer Holzkrippe lag. “Er nimmt auf sich, was auf Erden, wir getan, gibt sich dran, unser Lamm zu werden.” Und die Gaffer auf der Straße in Jerusalem haben ihn auch so gesehen, diesen Nachfahren aus dem Hause Davids, wie er zur Schlachtbank nach Golgatha abgeführt wurde. “Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld der Welt und ihrer Kinder.” Und der Hauptmann unterm Kreuz hat ihn auch so gesehen, diesen Sohn Gottes, wie sein Auge brach und er blutend starb. “O Lamm Gottes unschuldig, am Stamm des Kreuzes geschlachtet.” Auch wir werden Jesus nicht anders sehen können. Mitten hinein in die Hufe der Widder und Böcke sendet Gott das Lamm. “Siehe, das ist Gottes Lamm, welches die Sünde der Welt wegträgt.” Sicher werden sie dieses Tier schubsen und stoßen. Sie werden es mit ihren Hörnern treffen und verwunden. Sie werden es sogar töten. Aber beseitigen können sie es nicht. Dem Lamm gegenüber sind die großen Tiere der Welt ohnmächtig und ratlos. An ihm stoßen sie alle ihre Hörner ab. Gottes Lamm ist keiner gewachsen. Das ist die Zukunft, in die wir heute hineingehen.

Das Lamm ist der Löwe. Es ist mächtiger als die Mächtigen, weil die nur mit Macht die Völker bezwingen können. Er aber gewinnt sie mit Liebe. Statt Liebe zur Macht hat er die Macht der Liebe demonstriert. Daran sollten wir uns halten. Das ist die Weise, wie Vater mit ihren Buben sprechen sollten, wie gesellschaftliche Gruppen miteinander umgehen sollten, wie Abrüstungsexperten morgen miteinander diskutieren sollten. Die Macht der Liebe hat letztlich die Übermacht.

Das Lamm ist der Löwe. Es ist stärker als die Starken, weil die nur gnadenlos ihr Recht durchsetzen können. Er aber lässt Gnade vor Recht ergehen. Statt Vergeltung hat er Vergebung offeriert. Das ist die Weise, wie Vergangenheit bereinigt, wie Belastungen abgenommen und wie Verschuldung keine Rolle mehr spielt.

Das Lamm ist der Löwe. Es ist gewaltiger als ein Domitian, weil der gegen Ende seiner Regierungszeit immer häufiger verfügen musste: Kopf ab! Jesus aber befiehlt: Kopf hoch! Erhebet eure Häupter darum, dass sich eure Erlösung naht. Das ist die Weise, wie wir unsere Köpfe nicht hängen lassen müssen, wie wir unseren Weg weitergehen können, wie wir das Ziel im Auge haben. Das Lamm ist der Löwe.

Liebe Freunde, nachdem das Testament in Jesu Hand gekommen ist, können wir es so sagen: In seiner Hand liegt die Welt. Das ist unsere Weltlage. In seiner Hand liegt unser Leben. Das ist unsere Lebenslage. Und wenn alles ringsum schreit und brüllt und tobt: Die Zerstörungswut ist stark, die Kriegstreiberei ist stark, die Weltschmerzen sind stark, so weiß ich: Das Lamm ist stärker, das Lamm ist der Löwe, das Lamm ist Gottes Testamentsvollstrecker. Die Geschichte ist nicht mehr aufzuhalten. Sein Wille wird zum Ziel kommen. Deshalb stimmt die Gemeinde im himmlischen Thronsaal ein Lied an. Die 24 Ältesten beginnen mit dem großen Agnus Dei. Dann fallen die Engel ein und in der Form der Terrassendynamik singt schließlich die ganze Kreatur: Dem Lamm sei Lob und Ehr und Preis. Im Lobpreis endet die Schöpfung. Am vierten Advent ertönt das Lob Gottes. Das Ziel aller Dinge ist die Lobfeier Gottes. Deshalb dies Dritte und Letzte:

3. Es steht in unserer Hand, ob wir heute schon in dieses große Lob mit einstimmen wollen. Der Hymnuschor hat uns dazu den richtigen Ton gegeben. Gott loben heißt nämlich die Welt von Gottes Testament her, vom Ende her, vom Sieg Jesu her sehen. Und in dieses Lob kann sich unser betrübter Blick erholen und wieder Maß und Richtung gewinnen. Das ist das größte Adventsgeschenk, dass wir, die um Jesu wissen, Gott schon jetzt loben können. Wer aber Gott lobt, fürchtet sich nicht. Wer dem Lamm die Ehre gibt, ängstigt sich nicht. Wer in den großen Lobpreis mit einstimmt, verliert alle Bangigkeit. Ein Kommentator, der kürzlich einen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Überblick gab, schloss seine Ausführungen mit dem Satz: Am besten machen wir unser Testament. Liebe Freunde, das Testament ist gemacht. Es liegt in Gottes Hand. Es kommt in Jesu Hand. Es steht jetzt in unserer Hand, Ihn zu loben.

Amen