Suchet Gott

Konrad Eißler

Erfolglose Gottsucher gibt es viele. Aber Gott ist da. Er ist mit seinem Weg weit über uns. Er ist mit seinem Wort nahe bei uns. Er ist mit seinem Werk dicht vor uns. - Predigt aus der Stiftskirche Stuttgart


Liebe Gemeinde, eine köstliche Geschichte aus dem ersten Mosebuch kann uns den Einstieg in diesen Text erleichtern. Der schlaue Jakob lagerte mit seiner Großfamilie in den Bergen. Bitte, das war kein Camping im schönen Gebirge Gilead, sondern eine Verschnaufpause auf der Flucht vor dem Schwiegervater Laban. Schon damals gab es Schwierigkeiten mit den Schwiegerleuten. Das ist tröstlich. Die Liebe zu ihnen wächst mit der Entfernung. Deshalb hatte er sich auch entfernt, dieser Jakob, und freute sich seiner Ruhe. Nur war die Freude nicht von langer Dauer. Da kam doch der zornerfüllte Laban den Berg heraufgeschossen und schrie: “Warum hast du mir auch noch meinen Gott gestohlen?” Jakob verschlug es den Atem. “14 Jahre lang gearbeitet wie ein Tier und dann noch als Taschendieb hingestellt zu werden. Das ist der Gipfel.” Das sagte er aber nicht, das dachte er nur. Höflich kam es über seine Lippen. “Bitte, suche, ich habe ihn nicht gestohlen.” Dann begann die schwiegerväterliche Hausdurchsuchungsaktion. Alle Zelte wurden umgekrempelt, das ganze Gepäck gefilzt, jeder Koffer abgeklopft. Laban fand alles, Münzen, Brotkrumen, Kleider, aber seinen geliebten Hausgötzen, seinen Gott fand er nicht. So war er der erste Gottsucher und dieser Gottsucher hat nichts gefunden.

Das war vor rund 3000 Jahren, aber die Labans sind seither nicht ausgestorben. Es gab sie vor 2500 Jahren, damals im babylonischen Exil. Unser Text spricht von ihnen. Während schlimmer Gefangenenjahre war ihnen ihr Gott abhandengekommen. Sie suchten ihn in der Vergangenheit, aber von ihrer Heimat, von Jerusalem, vom Tempel mit all seinen Verheißungen waren sie abgeschnitten. Sie suchten ihn in der Gegenwart, aber die Lage als Volkssplitter in einer fremden, überlegenen Kultur war hoffnungslos. Sie suchten ihn in der Zukunft, aber am politischen Horizont flammte das Wetterleuchten eines neuen Weltkrieges auf. Die Exilgemeinde war zwischen schwärmerischen Hoffnungen und letzter Verzweiflung hin- und hergerissen. Ihren Gott konnten sie dort nicht finden.

Gottsucher gibt es auch heute. Sie suchen am Morgen in den Büchern der Weltgeschichte, denn die Spuren Gottes müssen doch dort sicht­bar werden. Sie suchen am Abend in der eigenen Seele, denn nach neuen Heilslehren hat er sich in der eigenen Brust versteckt. Sie suchen bei Tag und bei Nacht, sie werden, wütend, resigniert und traurig, aber Gott finden tun sie nicht. Gottsucher sind arme Gestalten, die schließlich nur noch mit Wolfgang Borchert fragen können: “Wo ist denn der alte Mann, der sich Gott nennt? Warum redet er nicht? Gebt doch Antwort! Warum schweigt ihr denn? Warum? Gibt keiner Antwort? Gibt denn keiner, keiner Antwort?” Der Prophet hat eine gegeben. Leider wurde sie überhört. Man wollte dort weitersuchen, wo nichts zu finden ist. Deuterojesaja aber sagt: Wo nichts zu finden ist, da habt ihr auch nichts zu suchen. Gott hat sich nicht in der alten Heimat verkrümelt. Er hat sich auch nicht in den belastenden Tagesfragen versteckt. Er hat sich erst recht nicht in eine politische Zukunft verzogen. Gott ist da. Er ist erstens mit seinem Weg weit über uns. Er ist zweitens mit seinem Wort nahe bei uns. Er ist zum Dritten mit seinem Werk dicht vor uns. Die Stunde des Heilspropheten ist die Stunde des Christus, der gesagt hat: “Bittet, so wird euch gegeben, suchet, so werdet ihr finden, klopfet an, so wird euch aufgetan.”

1. Gott ist mit seinem Weg weit über uns

Wir erinnern uns, der Weg von Kanaan nach Ägypten war für die Kinder Israel zur Sack­gasse geworden. Am Nil stöhnten sie als Gastarbeiter unter der Knute des Pharao. Sie sahen keinen Ausweg aus dem Elend mehr. Da griff Gott selber ein und öffnete einen Fluchtweg. Der weitete sich zum Durchgangsweg durch Wasser und Wüste. Auf ihm gelangte das Volk in das gelobte Land. Sie sahen Pfade durch Weinberge hin­ durch, Straßen in Städte hinein, Pässe über Gebirge hinüber. Dort zogen sie und sangen mit dem Psalmisten: “Gottes Wege sind vollkommen. Die Wege des Herrn sind eitel Güte und Wahrheit.” Bald wurden es Heeresstraßen, auf denen altisraelitische Könige auszogen und einen Sieg nach dem andern feierten. Ja, die Kinder Israel rechneten im Glauben damit, dass sich dies alles zur Prachtstraße weiten wird, auf der der Messias ankommt und sein Volk ihm entgegeneilt. Vom Fluchtweg zur Prachtstraße, das war der erhoffte Glaubensweg der Israeliten.

Ist das nicht auch unsere heimliche Glaubenshoffnung? Wem Gott einen Fluchtweg aus der Sackgasse des Lebens zeigt, wen er aus der Knechtschaft unter der Knute der Sünde heraushaut, wen er durch Schuld und Tod hindurchgeleitet, den führt er doch auf Pfaden durch Freude hindurch, auf Straßen ins Glück hinein, auf Pässe, die sich in immer sonnigere Höhen hinaufwinden. Ja, rechnen nicht auch wir damit, dass dieser Höhenweg direkt einfädelt in die güldenen Gassen des himmlischen Je­rusalems? Und wenn dies alles nicht passiert, wenn aus der Prachtstraße zum Messias die Gefängnisstraße nach Babel wird, wenn aus dem Höhenweg zum Himmel der Talweg in die Krankheit wird, wenn aus Lebenswegen Leidenswege werden, ja, dann kommt einem dieser Gott abhanden und man kann ihn nicht mehr finden. Der Prophet sagt: Gottes Wegplanung für uns ist völlig anders als wir denken. Zwischen seinen Plänen und unseren Träumen ist im wahrsten Sinne des Wortes ein himmelweiter Unterschied. Seine Gedanken sind anders als unsere Überlegungen. Sein Wesen ist anders als unsere Vor­stellungen. Seine Maßstäbe sind anders als unsere Wertskalen. Er hat ja seinen eigenen Sohn auch nicht von der Krippe zur Krone hinaufgeführt, sondern ihn am Kreuz hängen lassen. Gottes Wege sind Kreuzwege, die wir oft genug nicht verstehen. Aber gerade auf ihnen setzt sich Gottes Wille durch und deshalb sind es die richtigen. Es kann uns nichts Besseres geschehen, als dass sich Gottes Wille bei uns durchsetzt, und geschehe dies auch gegen unseren Willen und so, dass es uns Schmerzen bereitet.

Es ist sogar gut, dass Gottes Gedanken nicht unsere Gedanken sind. Denn die Seligkeit, die wir uns ausdenken, würde sich bald genug als Spielart der Hölle erweisen. Und die Wege, die wir einschlagen, würden sich binnen kurzem als Irrwege entpuppen. Es ist ein Kapitalfehler im Ansatz unseres Denkens, dass wir Gottes Wege an unseren Wegskizzen messen. Es ist sträflicher Leichtsinn, wenn wir be­stimmen wollen, was Gott planen soll, um uns zu helfen. Er ist nicht Handlanger in unserem Bauunternehmen. Er ist nicht der Plattenleger unserer Wege. Ich bin, der ich bin, sagt Gott, und meine Wege sind nicht eure Wege. Aber seine Wege sind gut. Es sind Schnellstraßen zum richtigen Ziel. Wer an seinem Lebensweg leidet, auf welche Weise auch immer, der frage nicht mit Wolf­gang Borchert “Wo ist denn der alte Mann?”, sondern der buchstabiere mit Paul Gerhardt: “Befiehl du deine Wege, und was dein Herze kränkt, der allertreusten Pflege, des der den Himmel lenkt. Der Wolken, Luft und Winden, gibt Wege, Lauf und Bahn, der wird auch Wege finden, da dein Fuß gehen kann.”

2. Gott ist mit seinem Wort nahe bei uns

Die gefangenen Israeliten hörten in Babel viele Worte. Auf dem Königsplatz hörten sie die großen Worte orientalischer Herrscher, die den Mund voll nahmen und ewigen Frieden verkündigten. Aber nach wenigen Jahren waren sie vom Thron gestürzt und ihre Namen auf den Siegessäulen gestrichen. Auf den Straßen hörten die Israeliten schöne Worte babylonischer Hofprediger, die den neuen Götterhimmel in schönsten Farben malten. Aber nach kurzer Zeit waren sie abgesetzt und andere sprachen von anderen Göttern. In den eigenen Versammlungen hörten sie fromme Worte windiger Heilspropheten, die die baldige Rückkehr nach Jerusalem prophezeiten. Aber nach wenigen Wochen waren sie als Lügner entlarvt und als Betrüger verjagt. In Babel gab es eine Inflation der Wörter, die den Wert des Wortes aushöhlten. Man wurde immer skeptischer gegenüber großen und schönen und frommen Worten, auf die man sich nicht mehr verlassen konnte.

Diese Inflation kennen wir auch. Ich denke an jenen Direktor, der dem Gefangenen Urlaub auf Ehrenwort gegeben hat. Mit Handschlag wurde der dreitägige Besuch außerhalb der Mauern genehmigt. Dann kam er nicht wieder zurück und der Jurist sagte: “Nie und nimmer”. Ich denke an die 18 Konfirmanden, die in vier Wochen vor diesem Altar konfirmiert werden. “Herr Jesu dir leb ich, dir leid ich, dir sterb ich.” Was aber ist in zwei Jahren? Es gibt zu viel leer zurückkommende Worte, zu viel in den Wind geredete Worte, zu viel für die Katz gesprochene Worte! Auf Worte kann man immer weniger geben. Genau deshalb aber wechselt der Prophet nicht ein paar nette Worte, sondern er gibt Gottes Wort. Und dies ist mit unserem Gerede und Geschwätz nicht zu vergleichen. Es ist ein wirksames Wort. Es ist dem Regen vergleichbar, der auf ausgedörrtes Land fällt und dort neues Leben hervortreibt. Es ist lebenschaffendes Wort. Gottes Wort kommt nicht wieder leer zurück. Wenn es auf den Kanzeln gepredigt wird, dann schafft es sich Gemeinde. Wenn es in den Schulzimmern wieder behandelt wird, dann schafft es sich Christen. Wenn es in den Hauskreisen besprochen wird, dann schafft es sich Glaubende. Es kommt nie leer zurück. Es ist ins Gelingen verliebt und nicht ins Scheitern. Seit es durch Jesus Fleisch geworden ist und unter uns wohnt, steht es in gutem Kurs. Der Hauptmann von Kapernaum setzte sein ganzes Vertrauen darauf: “Sprich nur ein Wort, so wird dein Knecht gesund.” Petrus befand sich in einer aussichtslosen Lage. Alle Umstände sprachen gegen das Fischen, er aber entschloss sich: “Auf dein Wort will ich das Netz auswerfen.” Die Jünger bekannten es: “Du hast Worte des ewigen Lebens.” So sollen und können wir es auch machen. Eben dieser Prophet hat uns in seinem Trostbuch Worte überliefert. Der Einsame halte sich an das Wort: “Ich will dein nicht vergessen. Siehe, in die Hände habe ich dich gezeichnet.” Der Kranke klammere sich an das Wort: “So fürchte dich nun nicht, denn ich bin mit dir.” Der Schuldige fasse das Wort: “Ich tilge deine Missetat wie eine Wolke.” Und der Zerschlagene traue dem Wort: “Mein Bund soll nicht von dir weichen!” Gott ist mit seinem Wort nahe bei uns.

3. Gott ist mit seinem Werk dicht vor uns

Babel ist nicht das Letzte. Die Gefangenen werden heimkehren ins Land der Freiheit. Freude erfüllt und Friede begleitet sie. Die Berge, zwischen denen sie heimziehen, beginnen zu lachen. Die Bäume am Rande ihres Weges schlagen vor Freude die Hände zusammen. Die ganze Natur klatscht Beifall. Die Hecken verdorren. An ihrer Stelle wachsen Tannen, die Schatten spenden. Die Dornen verkümmern. An ihrer Stelle wachsen duftende Myrten. Die stumme Natur wacht auf und stimmt ein in das Lied der Freiheit. Sie beginnt zu tanzen und zu spielen und zu frohlocken, so als würde sie selber frei von einem hässlichen Bann, der auf ihr lag.

Ist das nur Poesie? Ich glaube nicht. Auch nach Paulus sehnt sich die ganze Kreatur nach der Offenbarung der Kinder Gottes. Wenn der Mensch frei wird, wird auch die Schöpfung frei. Sicher, das ist groß gedacht. Ein wenig zu groß für unseren Zuschnitt. Aber das Volk verdirbt, wenn es diese Hoffnung auf eine endgültige Erlösung nicht mehr hat. Wer überhaupt Gott denkt, darf nicht zu klein von ihm denken. Unsere Welt ist nicht das Letzte. Jesaja sah in einer gewaltigen Schau die neue Welt, wo Schwerter zu Pflug­scharen werden. Unser Prophet verkündigte die festliche Prozession der Heimkehrenden. Jesus selber sagte: “Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen.” Wer ihn sah, der sah ein Stück neue Erde, Genesung, Heilung, Auferstehung. Wo er seinen Fuß hinsetzte, da hat das letzte Werk begonnen. Und es wird wiederkommen, deshalb waren Christen Wartende, die ihre Lenden umgürtet sein ließen. Die Christen in Kleinasien gaben sich nicht zufrieden mit einer Pax Romana. Sie warteten auf die Pax Christi. Und der Seher Johannes skizziert dann die neue Welt ohne Leid und Tränen und Tod, das letzte und endgültige Werk Gottes. Dorthin führt sein Weg, dorthin weist sein Wort, dorthin leitet sein Werk, dorthin werden wir in Freuden ausziehen und in Frieden geleitet werden.

Amen