Ich stehe vor der Tür

Was das Sendschreiben an Laodicea uns zu sagen hat.
Konrad Eißler
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Das Sendschreiben an die Gemeinde in Laodicea ist auch an uns adressiert. Wir hören dort die Stimme des Herrn: Ich stehe vor der Tür und richte euch, ich stehe vor der Tür und rate euch, ich stehe vor der Tür und rufe euch. - Predigt zum Buß- und Bettag aus der Stiftskirche Stuttgart


[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]

Ich erinnere mich an meine Kindheit. In einem großen Geschwister­kreis war dies eine fröhliche und unbeschwerte Zeit. Nur ein Gedanke brachte uns erheblich aus der Fassung: Der Niklaus kommt. Alle Lausbubereien und Jungenstreiche fielen einem Bubem schwer auf’s Herz. Wird er wieder mit einer Rute durch die Luft fuchteln? Wird er diesmal seinen schrecklichen Sack gar nicht ins Zimmer schleppen? Wird er sich endlich meinen Bruder vorknöpfen und mich einmal in Ruhe lassen? Der Niklaus steht vor der Tür! Diese Proklamation ist Beunruhigung des Kindergewissens.

Oder ich erinnere mich an meine Schulzeit. Weil der Kehrer ein Ausbund an Geduld war, der weder Stecken noch Arrest kannte, bewahre ich ihm bis heute ein dankbares Andenken. Nur ein Gedanke stürzte ihn in sichtliche Aufregung: Der Schulrat kommt. Hefte wurden kontrolliert, Sprüche wurden repetiert, Zeichnungen an den Wänden installiert. Wird er tatsächlich das große Einmaleins abfragen? Wird er wirklich ein Schiller-Gedicht hören wollen? Wird er im Ernst die Klasse ein Morgenlied singen lassen? Der Schulrat steht vor der Tür! Diese Inspektion ist Beunruhigung des Lehrergewissens.

Oder ich er­ innere mich an meine Dorfpfarrei. Der Dienst im Kirchspiel machte richtige Freude. Nur ein Gedanke löste düstere Prognosen aus: Der Dekan kommt! Die Pfarramtskasse sollte ja stimmen, die Kirchen­bücher durften keine Lücken aufweisen, die Sonntagspredigt musste gründlich vorbereitet sein. Wird er mit den richtigen Kirchengemeinderäten reden? Wird er die bescheidenen Lichtpunkte im Gemeindeleben entdecken? Wird er nur Negatives dem Oberkirchenrat weiterberichten? Der Dekan steht vor der Tür! Diese Visitation ist Beunruhigung des Pfarrergewissens.

Hier aber werden wir an noch etwas ganz anderes erinnert. Wenn uns schon der Niklaus aus der Fassung bringen kann, wenn uns schon der Schulrat in Auf­regung stürzen kann, wenn uns schon der Dekan in düstere Prognosen ausbrechen lassen kann, wieviel mehr müsste uns der Gedanke in heilige Unruhe versetzen: Jesus kommt. Er ist nicht der, der zu allem Ja und Amen sagt, sondern der Amen heisst und damit letzte Autorität besitzt. Jesus kommt! Er ist nicht der, der lieb und schwatzhaft faselt, sondern der treu und wahrhaft redet und damit ewige Autorität beansprucht. Jesus kommt! Es ist nicht der, der die Nachhut der Erschöpften ausmacht, sondern den Anfang der Schöpfung bildet und damit göttliche Autorität wiederspiegelt. Jesus kommt! Lausbubereien werden nicht aufs Tapet kommen. Schil­lergedichte will der nicht hören. Pfarramtskässlein bleiben schön in der Schublade. Wird er aber die Tiefe meines Herzens durch­schauen? Wird er die Weite meines Gewissens durchleuchten? Wird er die Größe meiner Schuld durchmessen? Jesus steht vor der Tür! Diese Generalvisitation ist Beunruhigung des Christengewissens. Deshalb darf man solche Bücher nicht wie Geschichtsbücher studieren, die hel­les Licht in dunkle Vergangenheit zu bringen versuchen. Deshalb kann man solche Abschnitte nicht wie Gemeindereportagen buch­stabieren, die über ferne Orte ins Bild setzen wollen. Deshalb muss man solche Verse nicht wie Zeitungsartikel rekapitulieren, die Anregendes und Unterhaltendes zu berichten wissen. Kap. 2 und 3 [der Offenbarung] sind Visitationsberichte. Normalerweise werden solche Akten unter Verschluss gehalten. Üblicherweise lagern solche Papiere in dicken Ordnern. Immer tragen solche Stücke den Stempel: “Streng vertraulich!” Hier aber sind sie vervielfältigt, veröffentlicht, an die große Glocke gehängt. Diese Visitationsberichte sind eben keine Geheimschreiben, sondern Sendschreiben, die jeder lesen kann, die jeder lesen soll, ja, die jeder lesen muss. Sie sind auch an uns adressiert. Deshalb schlagen wir sie auf und hören die Stimme des Herrn: Ich stehe vor der Tür und richte euch, ich stehe vor der Tür und rate euch, ich stehe vor der Tür und rufe euch.

1. Ich stehe vor der Tür und richte euch.

Laodicea war Kurort. Die einstige Festung,von Antiochus im Jahre 250 vor Christus gegründet, hatte sich zur Bäderstadt gemausert. Angeschlagene reisten aus allen Himmelsrichtungen an, um dort Heilung und Stärkung zu suchen. Wir sehen die Kurgäste beim Arztbesuch, wie sie sich von den beiden berühmten Medizinern Zeuxis und Alexander beraten lassen. Wir sehen die Kurgäste beim Spaziergang, wie sie auf den Uferweg­en am Lykosfluß prominieren. Und wir sehen die Kurgäste bei der Trinkkur, wie sie an den Sprudlern von Hierapolis schöpfen. Diese Mineralquellen schießen heiß aus dem Boden und plätschern über Felsterrassen hinunter ins Tal. Deshalb wird entweder oben genippt, wo man den Mund verbrennt, oder unten getrunken, wo man der Durst löscht. Halbhoch ist’s lauwarm. Es schmeckt scheußlich. Es dreht einem den Magen herum. Es ist zum Erbrechen. Das ist das Wasser, das einem schlecht macht.

Und Jesus sagt: So ist euer Glaube. Er ist nicht mehr glühend heiß wie an den Quellen des Evangeliums, die euch von den Aposteln gezeigt und erschlossen wurden. Er ist auch noch nicht eiskalt wie in den Tälern des Unglaubens, die von den Animisten besiedelt sind. Lauwarm ist er, scheußlich, übel, zum Erbrechen. Das ist der Glaube, der mir schlecht macht. Nein, Gott mag’s nicht lauwarm. Vielleicht waren wir auch einmal ganz nahe bei der Quelle, als wir diese Sache entdeckten: Dein Wort ist wie Feuer! Vielleicht waren wir auch einmal ganz durchglüht von dem Wunsch, in Sachen Glauben ganze Sache zu machen: Brannte nicht unser Herz in uns? Vielleicht waren wir auch einmal ganz heiß auf Jesus. Und dann plätscherte es so dahin. Der Beruf nahm einen immer mehr gefangen. Der Ehe­partner hielt immer weniger vom Glauben. Die Kinder sind schließlich ganz hinausgewachsen. So ist der eigene Glaube abgekühlt. Natürlich haben wir dafür gesorgt, dass er nicht ganz kalt wird. Manchmal beten wir ein Vaterunser. Die Traubibel hat einen Ehrenplatz im Buffet. Am Bußtag sind wir in der Kirche. Bigottisch sind wir zwar nicht, aber gottlos kann uns auch keiner schimpfen. Jetzt sind wir durchwachsen. Jetzt sind wir mittelprächtig. Jetzt sind wir wohltemperiert. Jetzt sind wir angewärmt, gerade so wie der fade Sprudel von Bad Laodicea.

Ach, dass ihr kalt oder heiß wäret, sagt Gott, aber weil ihr lauwarm seid, deshalb richte ich euch! Er mag nur eine ganze Liebe, so wie eine Mutter ihr Kind ganz liebt und nicht nur einige Seiten an ihm sympathisch findet. Er mag nur eine ganze Hingabe, so wie ein Forscher sich seiner Aufgabe ganz hingibt und nicht nur einige Feierabendstunden dafür dranrückt. Er mag nur eine ganze Glut, so wie ein Bräutigam für seine Braut ganz glüht und nicht nur ein paar Gedanken für sie verschwendet. Gott mag’s heiß, nicht überhitzt. In manchen Zirkeln wird durch feuriges Reden kräftig Dampf gemacht und der Glaube künstlich zum Kochen gebracht. Solche fiebrige Schwärmerei, die mancherorts zu beobachten ist und irgendwie ansteckend wirkt, meint er nicht. Nur ganz dicht bei der Quelle des Wortes werden wir jenen glühenden Glauben finden, der nicht unter das Gericht Gottes fällt. Ganz nahe beim Wort Gottes werden wir glühen und heiß für diesen Herrn.

2. Ich stehe vor der Tür und rate euch.

Laodicea war Handelsplatz. Obwohl die Stadt im Jahre 61 nach Christus von einem Erdbeben dem Boden gleichgemacht wurde, stieg sie schnell wieder zu Reichtum und Wohlstand auf. Sogar Tacitus und Cicero, diese römischen Geschichtsschreiber, rühmten dieses Wirtschaftswunder. Wir sehen die geschäftstüchtigen Männer, wie sie in den City-Banken ihr Geld anlegen und Goldunzen erstehen. Wir sehen die vornehmen Damen, wie sie in den Nobelboutiquen die schwarz glänzende Woll-Tunika kaufen und sich modisch geben. Wir sehen die schicken Mädchen, wie sie in den Stadtdrogerien das berühmte phrygische Augenpulver mitnehmen und es zur Kosmetik verwenden. Alle eilen durch die Fußgängerzonen. Alle schauen nach den Sonderangeboten. Alle können nicht genug bekommen. Niemand ist zufrieden. Keiner steckt zurück. Jeder will mehr. Das ist der Reichtum, der einen hungrig macht.

Und Jesus sagt: So ist eure Liebe. Ihr schafft nur in die eigene Tasche. Ihr denkt nur an euch. Ihr schaut nur in den Spiegel. Als ob man mit einem dicken Sparbuch abgesichert wäre! Als ob man mit einem modischen Umhang endgültig eingekleidet sei! Als ob man mit einem schicken Make-up alle Augenprobleme gelöst hätte. Vor Gott seid ihr nicht reich, sondern arm. Vor Gott seid ihr nicht eingekleidet, sondern bloß. Vor Gott seid ihr nicht sehend, sondern blind.

Bei diesem ernsten Tatbestand ist guter Rat teuer. Deshalb ist es frohe Botschaft, wenn nun dieser Visitator gleichsam als Einkaufsberater vor unserer Tür auftaucht und sagt: Ich rate dir, kaufe bei mir: Gold, reines Gold, wertvolles Gold, hitzebständiges Gold, das deine Armut für immer zudeckt. Ich rate dir, kaufe bei mir: Kleider, weiße Kleider, gereinigte Kleider, fleckenlose Kleider, die deine Blöße für immer abdecken. Ich rate dir, kaufe bei mir: Salbe, gute Salbe, hilfreiche Salbe, heilende Salbe, die deine Blindheit für immer heilt Das alles ist Gottes Liebe selbst, die er zum Kauf anbietet. Mit ihr schreiben wir keine roten Zahlen. Mit ihr kommen wir durch den Winter. Mit ihr sehen wir endlich klar. Zugegeben, teuer ist sie, sehr teuer sogar. Kein Vermögen genügt, um sie einzuhandeln. DM und Dollars zählen als Währung nicht, sondern nur Blut. Genau das aber hat Jesus schon auf Golgatha bezahlt. Deshalb heißt kaufen hier soviel wie kommen, bitten und mitnehmen. Wir sind dem­nach gut beraten, wenn wir uns aufmachen: “Herr, du kennst uns so, wie wir sind. Unser Reichtum ist wie Salzwasser, das uns immer durstiger macht. Unsere Gerechtigkeit ist wie ein Tuchfetzen, der hinten und vorne nicht passt. Unsere Sicht ist ganz verschwom­men. Mache uns reich mit deinem Gold, kleide uns ein mit deinem Mantel, richte uns aus auf dich. Herr, schenke uns deine Liebe!”

3. Ich stehe vor der Tür und rufe.

Laodicea war Knotenpunkt. Die wichtigsten Straßen der Provinz Asia kreuzten an dieser Stelle. Der Verkehr flutete durch das Ephesustor und das Syrische Tor. Wir sehen die Handelsreisenden, wie sie vor 5-Sterne-Hotels absteigen. Wir sehen die Regierungsbeamten, wie sie in Gästehäusern unterkommen. Und wir sehen die Landfahrer, wie sie keinen Pfennig für eine Übernachtung in der Tasche haben. Weil sie in Bad Laodicea nicht im Kurpark oder in Häuserecken nächtigen dürfen, gehen sie von Tür zu Tür und klopfen an. Aber die Leute haben abgeschlossen. Sie wollen keinen fremden Besuch. Die Furcht vor dem Bösen geht um. Das ist das Klopfen, das einem angst macht.

Und Jesus sagt: So ist eure Hoffnung. Ihr habt eure Türen zugeschlossen und wollt gar nicht mehr hinaussehen. Ihr habt eure Fenster abgeriegelt und wollt gar nicht mehr hinaushören. Ihr habt euren Laden dicht gemacht und wollt nur noch vor dem zittern, was an Bösem und Unheim­lichem auf euch zukommen könnte. Seht doch: Ich stehe vor der Tür. Hört doch: Ich rufe durch die Tür. Merkt doch: Ich klopfe an die Tür.

Liebe Freunde, Jesus ist es, der in unser Leben herein will. Er ist kein Einbrecher, der heimlich durch die Scheiben steigt. Er ist kein Hausierer, der dauernd auf der Matte steht. Er ist kein Polizist, der nur Sturm läutet. Jesus ist wie ein Gast, der neben vielen andern Toren und Portalen auch meine Haus­tür kennt. Dort stellt er sich hin und klopft, so leise wie - und so sagt es der Urtext - der Musiker an an die Leier schlägt oder wie der Marktkäufer einen Tontopf prüft. Er möchte gerne bei mir sein, mit mir speisen, mit mir reden, mit mir schweigen, mit mir arbeiten, mit mir ruhen, ganz einfach mir neue Hoffnung geben. Wenn er ins Zimmer kommt, flieht die Angst. Wenn er im Hause bleibt, kündigt die Furcht. Wenn er im Leben Heimatrecht bekommt, hat die Hoffnungslosigkeit verspielt. Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an.

Ob Sie hören? Ob Sie entriegeln? Ob Sie auftun? Ob Sie einlassen? Er drängt uns nicht, aber uns muss es doch drängen: “Komm o mein Heiland Jesu Christ, mein’s Herzens Tür dir offen ist.” Der, der bei uns richtend, ratend und rufend einkehren will, will unsere glaubende, liebende und hoffende Umkehr. “Siehe, ich stehe vor der Tür.” Das ist die Botschaft zum Bußtag.

Amen