Nur Worte?

Konrad Eißler
0:00:00
0:20:51

Die Frucht ist so wie der Baum. Und das Wort ist so wie das Herz. Aber muss es dabei bleiben? - Predigt zum Buß- und Bettag aus der Stuttgarter Stiftskirche


Ich habe mit der Ewigkeit zu schaffen! So rief der greise Hans Kirch in Theodor Storms meisterlicher Novelle. Am Schluss seines Lebens holt ihn hoch einmal seine ganze Vergangenheit ein. Mit unermüdlichem Tun und Sparen hatte er sich vom Setzschiffer zum Schiffseigentümer hinaufgearbeitet. Freilich war es nur ein kleineres Boot, zu dem seine Mittel gereicht hatten, aber rastlos befuhr er damit die Ostsee, um Korn und Mehl zu speditieren. Dann wurde nach vielen Jahren in seiner Ehe ein Sohn geboren. Was der strebsame Mann an Zärtlichkeit besaß, das gab er seinem jungen Heinz. Bei jeder Heimkehr lugte er schon von weitem durch sein Glas, ob er am Hafenplatz den Bub ausmachen könne. Später wurde aus seinem Spielvogel der Schiffsjunge und dann ein Matrose. Vater und Sohn aber lebten sich auseinander. Die Spannungen wuchsen und eines Tages war die Kammer des Buben leer. Heinz Kirch suchte sein Glück auf fernen Weltmeeren. Als er nach einigen Jahren wieder auftauchte, gab es immer noch keine Brücke der Verständigung. Der Sohn machte sich wieder davon, diesmal für immer. So saß der gebrochene Mann auf einer Bank am Strand und schaute den Möwen nach. Als ein Nachbar an ihm vorbeischlenderte, brach es aus ihm heraus: “Ich bin Hans Kirch, der seinen Sohn verstoßen hat, zweimal! Hörst du, zweimal habe ich meinen Heinz verstoßen und darum habe ich mit der Ewigkeit zu schaffen.” “Das tut mir leid, Hans Kirch”, spottete der andere, “die Ewigkeit ist in den Köpfen alter Weiber!” Dann aber fuhr ein fieberhafter Blitz aus den Augen des gealterten Seefahrers. “Hund!” schrie er, und ein Schlag des Krückstocks pfiff jäh am Kopf des andern vorüber. “Ich habe mit der Ewigkeit zu schaffen.”

Hans Kirch kannte also nicht nur den Rundblick vom Kirchturm des 1000 Jahre alten Seemannskirchleins, das sich über die ziegelroten Dächer wie eine Burg erhob. Er kannte nicht nur den Weitblick vom Leuchtturm am Ufer des Sunds, der seine Lichtbündel über das Wasser warf. Er kannte nicht nur den Fernblick vom Kommandoturm seines Kutters, der jahraus jahrein über die See tuckerte. Hans Kirch hatte den Durchblick bis zur Ewigkeit. Und dort entdeckte er keinen Liegestuhl für die gestressten Erdenbürger, keinen Schaukelstuhl für die geschafften Zeitgenossen, keinen Lehnstuhl für die geschlagenen Seelen, sondern einen Richtstuhl für die gestrandeten Menschenkinder. “Es ist dem Menschen gesetzt, einmal zu sterben, danach aber das Gericht!” Es kommt der Tag, auch wenn Spötter meinen, dieser Tag sei längst vertagt. Spötter gab es immer, die sich darüber einen Ast ablachten. Das Spottlied über den Sankt Nimmerleinstag im Kopf alter Weiber ist nie abgerissen. Aber Gott hat nichts vertagt, nichts ad acta gelegt, nichts in den Kamin geschrieben. Unser alle Tage münden ein in den Gerichtstag des Herrn. Es kommt die Stunde, auch wenn Spötter meinen, diese Stunde sei längst verstrichen. Seine Uhr hat einen eigenen Pendelschlag. Wenn sie bisher noch nicht abgelaufen ist, so deshalb, weil er uns noch stundet. Er hat Geduld mit uns. Er will, dass keiner verloren gehe. Er hat ein brennendes Interesse daran, dass alle umkehren, bevor es zu spät ist. Zwölf, das ist das Ziel der Zeit, Mensch bedenk’ die Ewigkeit! Unser aller Stunden münden ein in die Gerichtsstunde des Herrn. Es kommt der Augenblick, in dem der, der die Todeswand wie einen Wellkarton zerriss, die Mattscheibe zwischen sichtbarer und unsichtbarer Wirklichkeit zertrümmern und wieder vor uns stehen wird. Dann ist nichts mehr, was nicht offen und klar vor seinen Augen liegt. Unser aller Augenblicke münden ein in den Augenblick des Gerichts. Weil dem so ist, deshalb haben wir alle mit der Ewigkeit zu schaffen.

Am Beispiel des Redens wird uns dazu folgender Gedankengang zugemutet: Wir verantworten, wie wir reden. Wir reden, wie wir sind. Wir sind, wie wir glauben.

1. Wir verantworten, wie wir reden.

Aber wie reden wir? Vielleicht so wie Hans Kirch. Er klopfte seinem heranwachsenden Sohnemann, auf die Schulter und sagte: Nun mal ran! Bei jeder Reise nahm er ihn mit und führte ihn in den Seemannsberuf ein. Schon vor Sonnenaufgang rief er ihn aus den Federn. Dann stellte er ihn an die Arbeit. Ein Kommando folgte dem andern. Die Befehle hörten überhaupt nie auf. Er spät am Abend konnte er sich allein in seine Kajüte zurückziehen. Hans Kirch sprach viel, aber seine Worte waren ohne Liebe. - Oder reden wir wie jener Mann. Mit seiner Braut trat er vor den Traualtar. Auf die Frage des Pfarrers: “Willst du deiner Ehefrau treu bleiben, bis der Tod euch scheidet?” antwortete er deutlich und für alle hörbar: “Ja, ich will!” So legten sie ihre Hände zusammen. Das ist ihr im Gedächtnis geblieben. Auf dieses Wort hat sie sich verlassen, und dann hat er sie verlassen, als ob nie ein Sterbenswörtlein über seine Lippen gekommen wäre. Der Mann sprach laut, aber seine Worte waren ohne Wahrheit. Oder reden wir wie jener Nachbar, der mit dem Hausbesitzer über einen gemeinsamen Zufahrtsweg zum Grundstück sich einigen musste. Als der eine schriftliche Vereinbarung wollte, sagte der andere: Nun hör mal! Ein Mann, ein Wort! Dann gaben sie sich die Hand. Nach wenigen Monaten war alles vergessen und beide machten sich das Leben schwer. Der Nachbar sprach überzeugend, aber sein Wort war ohne Kraft.

Wie reden wir mit unserem Sohn, mit unserer Frau, mit unserem Nachbarn? Lieblose, wertlose, kraftlose Worte sind jene nichtsnutzigen Worte, weil sie keinen Nutzen haben. Es sind wertlose Worte, weil sie keine Deckung haben. Es sind leere Worte, weil sie keinen Inhalt haben. Aber Freunde, es sind nicht “bloß Worte”, die ja in den Wind geredet sind, und es ist nicht nur dummes Geschwätz, das keine Bedeutung hat. Wir werden gewissermaßen bei den Worten genommen. Gott nimmt uns beim Wort, so wie wir ihn auch beim Wort nehmen können. Denken Sie an den Hauptmann von Kapernaum. Er setzte sein ganzes Vertrauen darauf. Als sein Leibbursche krank wurde, bat er diesen Jesus nicht zu sich, sondern sagte “Herr, sprich nur ein Wort, so wird mein Knecht gesund!” Denken Sie an Petrus. Er tat es in einer aussichtslosen Lage. Gegen alle Umstände ruderte er noch einmal auf die See hinaus. “Auf dein Wort will ich das Netz auswerfen.” Denken Sie an die Jünger. Als Jesus sie in einer besonderen Stunde fragte: “Wollt ihr auch weggehen?” antworteten sie: “Herr, wohin sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens!” Prüfen Sie es selbst. Er sagt den Einsamen: Ich will dich nicht verlassen noch vergessen! Ist das nur frommes Geschwätz? Er sagt es den Kranken: Ich will dich erquicken? Ist das nur dummes Gerede? Er sagt es den Frieden Suchenden: Friede sei mit euch! Ist das nur oberflächliches Geplapper? Luther sagt einmal: “Wo ich Gottes Wort ergreife, habe ich gewonnenes Spiel.” So wir wir ihn beim Wort behaften können, behaftet er uns beim Wort.”” Wie wir ihn beim Wort nehmen können, nimmt er uns beim Wort. Es ist kein Wort auf meiner Zunge, das du Herr nicht wissest. Die Tonbänder der Ewigkeit speichern genau und niemand kann sie löschen. Wir verantworten, wie wir reden.

2. Wir reden, wie wir sind.

Aber wie sind wir? Vielleicht so wie unser Erbgut. Hans Kirch ist an der See groß geworden. Schon sein Vater gab nur kurze Antworten und harte Befehle. Er hatte nie Zeit in seinem Tritt, als ob er an der Falltreppe hinauflaufe, sah man ihn eilfertig durch die Gassen gehen. Diese Rastlosigkeit ging auf den Sohn über und trug ihre Früchte.

Wie sind wir? Vielleicht so wie unsere Umwelt. Der Mann damals wollte schon seiner Frau treu bleiben. Er hatte die Absicht, sein Leben an ihrer Seite zu verbringen. Ja, er konnte sich überhaupt nichts anderes vorstellen, aber dann sah er, wie seine Kollegen mit einer Freundin das Wochenende verbrachten, dann las er, wie die Institution Ehe infrage gestellt wird, dann hörte er, wie die Scheidungsquote ständig steigt. Der Mann tat nur das, was viele andere auch tun. Wie sind wir? Vielleicht so wie unser Charakter. Der Nachbar war ein labiler Mensch. Der Handschlag passierte bei Sonnenschein. Aber dann kam das Tief und er kannte sich selbst nicht wieder. Liebe Freunde, sind wir so wie unsere Nerven, wie unser Gemüt, wie unser Verstand, wie unsere Bildung, wie unsere Selbstsucht? Jesus sagt: Ihr seid so wie euer Herz. Wovon das Herz voll ist, das muss der Mund ausplaudern. Das Herz ist die Ursache eurer Lieblosigkeit, Kraftlosigkeit, Rastlosigkeit und Charakterlosigkeit. Sicher könnt ihr manchmal den Höflichen spielen und nur Artiges über die Lippen bringen, sicher könnt ihr zuweilen diplomatisch vorgehen und nur Berechnendes weitersagen, sicher könnt ihr eine Zeit lang den Mund ganz halten und stumm in der Runde sitzen. Aber dann, in einer schwachen Minute, bricht es heraus und ihr plaudert eure ganze Jämmerlichkeit aus. Wie ein Birnbaum nur Birnen bringen kann und keine Pfirsiche, so wie ein Apfelbaum nur Äpfel bringen kann und keine Trauben, so wie ein Kirschbaum nur Kirschen bringen kann und keine Zwetschgen, so kann ein Mensch nur das bringen, was in seinem Herzen ist. Stellen wir uns einen Baumwart vor, der sich vor einen Birnbaum hinstellt und ihm gut zuredet, im nächsten Jahr doch ja kein Mostobst mehr, sondern nur noch Spalierobst zu liefern. Stellen wir uns einen Landwirt vor, der seinem Apfelbaum kommandiert, ab sofort statt Goldparmener Golden Delicious zu tragen? Stellen wir uns einen Gutsbesitzer vor, der seinen Kirchbaum mit Zwetschgenwasser begießt, damit Bühler Zwetschgen darauf reifen. Die Frucht ist so wie der Baum und das Wort ist so wie das Herz. Wenn das Herz kalt ist, werden wir mit unseren Kindern ein unterkühltes Verhältnis bekommen. Wenn das Herz lieblos ist, werden wir in der Ehe die Liebe nicht durchhalten können. Wenn unser Herz böse ist, werden wir immer den Streit vom Zaune brechen. Der Schaden unserer Zeit ist letztlich kein Flur- und Wasserschaden, den wir mit der Startbahn West oder dem Endlager Gorleben anrichten. Der Schaden unsere Zeit ist letztlich auch kein Sach- und Personenschaden, den wir mit Vor- und Nachrüstungsbeschlüssen programmieren. Der Schaden unserer Zeit ist ein Herzschaden. Wir reden, wie wir sind.

3. Wir sind, wie wir glauben.

Aber wie glauben wir? Vielleicht so wie Hans Kirch. Die Novelle schließt mit den Sätzen: “Die Kraft des alten Mannes war gebrochen. Der Stock entfiel seiner Hand und rollte vor ihm den Hang hinunter. Das Abendrot legte sich über das Meer.” Der Glaube an eine Veränderung war in ihm tot, schon bevor er für immer die Augen schloss.

Wie glauben wir? Müssen wir mit unserem bösen Herzen leben, müssen wir mit unserem bösen Schaden sterben, müssen wir mit unseren bösen Worten vor Gericht stehen? Liebe Freunde, dieser Text ist nicht von dem zu trennen, der ihn gesprochen. Und Jesus sagt es an anderer Stelle: Ich bin der Baum. Meine Wurzeln habe ich ganz tief hineingesenkt in die Welt meines Vaters. Meine Kraft und Vollmacht ziehe ich aus diesen göttlichen Wasserläufen. Ich bin der Baum. Meine Arme werden links und rechts hinausgebunden. Es sieht aus wie ein Kreuz. Ich bin der Baum. Neues Leben bricht aus den Zweigen hervor. Ein bares Wunder der Schöpfung. Ich bin der Baum. Deshalb braucht ihr nicht ewig Bäume bleiben, sondern dürft Zweige an diesem Baum werden. Das ist das Wunder der Neuwerdung, das an diesem Tag passieren will. Christen sind Zweige am Baume Jesu. Sie sind nicht Wurzeln, die das Wasser suchen müssen. Sie sind nicht Stamm, dem die Tragkraft zugemutet wird. Sie sind nicht Rinde, die irgendetwas zu schützen hätten. Sie sind erst recht nicht Krone, die über alles hinausreicht. Zweige sind sie, die am Baum bleiben und nehmen, was sie brauchen. Sie müssen nicht suchen, tragen, schützen, glänzen, sie müssen nur eins; in ihm bleiben: “Wer in mir bleibt und ich in ihm.” Wo diese organische Wesensverbindung mit Jesus besteht, ist der Herzschaden behoben. Wir müssen nicht bleiben, wie wir sind. Wir sind, wie wir glauben. Glauben wir doch, dass dieser Herr vergeben kann, wo wir so viel Schuld mit uns herumschleppen. Glauben wir doch, dass dieser Herr verwandeln kann, wo wir so unbeweglich und unverändert unser Tagewerk betreiben. Glauben wir doch, dass dieser Herr erneuern kann, wo wir nur übermalen und überpinseln. Die Bitte “Schaff in mir Gott ein neues Herz” hat noch keiner umsonst gen Himmel geschrien. Dann nämlich mag mich die Vergangenheit einholen, dann mag mich die Gegenwart Gegenwart beschweren, dann mag mich die Zukunft bedrücken, ja dann mag mir das Tonband meines ganzes Lebens vorgespielt werden, ich weiß jetzt dies eine: Ich habe mit Jesus zu schaffen.

Amen